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M A H L Z E I T
Die meisten Esser jedoch sind sich dessen nicht mehr bewusst. Sie betrach-
ten vielleicht Lebensmittel noch als landwirtschaftliche Erzeugnisse, aber sie
sehen sich selbst nur als passive Verbraucher. Sie kaufen das, was sie wün-
schen – oder was man sie zu wünschen überredet hat –, im Rahmen der
Möglichkeiten. Und zahlen den verlangten Preis. Und nur ganz selten fragen
sie nach der Qualität, nämlich: Ist es frisch? Ist es rein und frei von Chemie?
Wurde es von weit her transportiert, und was hat der Transport gekostet, was
Verarbeitung, Verpackung und Werbung? Wenn es verarbeitet oder vorgegart
wurde: Was bedeutet das für Preis und Nährwert?
Die meisten Kunden in der Stadt sagen, dass Lebensmittel von Bau-
ern erzeugt werden. Doch kaum einer weiß, was für Bauern das sind,
was für Höfe sie haben oder wo diese Höfe liegen oder welche Kennt-
nisse und Fertigkeiten ein Bauer haben muss. Sie vertrauen offenbar
darauf, dass die Bauern weiter produzieren werden, doch sie wissen
nicht wie und welche Hürden und Hindernisse es dabei zu nehmen gilt.
Für den Durchschnittsverbraucher bleiben Lebensmittel abstrakt, bis er
sie aus dem Regal holt oder auf seinem Tisch hat.
Wenn Nahrungsmittel in unseren Köpfen nichts mehr mit Land und Bau-
ern zu tun haben, dann leiden wir an einem kulturellen Gedächtnisschwund,
der irreführend und gefährlich ist. Der passive Verbraucher, der sich zu einer
Mahlzeit aus verarbeiteten Lebensmitteln oder Fastfood setzt, hat auf dem
Teller leblose, namenlose Substanzen, die derart verarbeitet, gefärbt, ge-
soßt, gehackt, gesiebt, gemischt, verschönt und sterilisiert wurden, dass sie
keinerlei Ähnlichkeit mehr mit etwas haben, das einmal gelebt hat. Sowohl
der Esser wie das, was er isst, bewegen sich also in einem Exil außerhalb der
biologischen Wirklichkeit. Das Ergebnis ist eine völlig neue Art der Einsam-
keit, in der der Esser den Vorgang des Essens als rein wirtschaftliche Trans-
aktion zwischen ihm und einem Lieferanten und danach als rein appetitive
Transaktion zwischen ihm und seiner Nahrung betrachtet.
Davon profitiert eindeutig die Lebensmittelindustrie, die aus guten Grün-
den ein Interesse daran hat, die Verbindung zwischen Nahrungsmitteln und
den Bauern zu verschleiern. Der Verbraucher soll nicht wissen, dass das
Fleisch des Hamburgers, den er gerade isst, von einem Rind stammt, das
die meiste Zeit seines Lebens im eigenen Kot in einer Mastbox stand und
dabei noch die Gewässer verschmutzte. Oder dass das Kalb, von dem das
Schnitzel stammt, sein kurzes Leben in einem engen Käfig verbracht hat, in
dem es sich nicht einmal umdrehen konnte. Und der Krautsalat würde der
Esserin auch nicht mehr richtig schmecken, wenn sie über die riesigen
Oft werde ich am Ende eines Vortrags über den Niedergang der Lebenskultur auf dem Land und den Bauernhöfen gefragt: »Was
können wir Städter dagegen tun?« »Esst verantwortungsbewusst«, pflege ich zu antworten, und natürlich versuche ich dann zu
erklären, was ich damit meine. Doch am Ende der Diskussion habe ich unweigerlich das Gefühl, dass es zu diesem Thema noch
viel mehr zu sagen gibt. Nun will ich also versuchen, meinen Ratschlag besser zu begründen. An den Anfang stelle ich die These,
dass Essen ein Vorgang in der Landwirtschaft ist. Das Essen steht am Ende des alljährlichen Dramas, das mit Pflanzen und Säen
und Geborenwerden beginnt.
Die Freuden des Essens
Essay
Von Wendell Berry
Wendell Berry, Farmer in Kentucky, hat mehr als 30 Bücher veröffentlicht. Auf Deutsch ist
erschienen: »Leben mit Bodenhaftung. Essays zur landwirtschaftlichen Kultur und Unkultur«.
Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung von Counterpoint Press.