Page 203 - [Peter_Menzel,_Faith_D’Aluisio]_Mahlzeit_Auf_80(BookFi.org)

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selbst suchen müssen – und Gefahr laufen, zur Beute zu werden –, sind
solche Krankheiten selten. Tiere in Gefangenschaft leiden auch seelisch:
Der Wolf verletzt sich selbst, und eigentlich friedliche Geschöpfe werden
aggressiv. Manche Zoos lassen daher ihre Tiere für die Nahrung arbeiten,
indem sie Bären unter Steinen nach Maden wühlen oder Geparde ihre
Fleischration an einem laufenden Seil jagen lassen.
Leider haben die meisten ähnlich ersonnenen körperlichen Tätig-
keiten für Menschen in industrialisierten Ländern sich als schwacher
Ersatz für körperliche Arbeit im Alltag erwiesen. So hat paradoxerweise
der Anstieg des organisierten Schulsports gleichzeitig zu einer Zu-
nahme der Fettleibigkeit geführt. Mehr Kinder auf den Fußballplatz zu
kriegen scheint ein lobenswertes Ziel zu sein, doch irgendwo muss
dieser Ansatz fehlgeleitet worden sein. So erklärt Bill Sands, Leiter der
Sportwissenschaft am US-Olympiazentrum, dass sich Kinder beim
freien Spiel meist mehr bewegen als beim organisierten Sport. Zum
Beweis maß Sands die Aktivität seiner Tochter beim einstündigen Vol-
leyballtraining und stellte fest, dass die Kinder sich tatsächlich nur etwa
fünf Minuten lang stark bewegten – eine scheinbar gute Sache bringt
nicht den erhofften Gewinn für die Gesundheit. Und obwohl die Ameri-
kaner Milliarden von Dollar für Fitnessprogramme ausgeben, bekom-
men zwei Drittel der US-Bürger zu wenig Bewegung.
Tatsächlich legt die Gesellschaft in industrialisierten Ländern die Latte
für körperliche Tätigkeit immer tiefer, sodass die Kinder von heute eine
kürzere Lebenserwartung als ihre Eltern haben könnten, allein aufgrund
schlechter Lebensführung. Dies ist bestürzend für den Einzelnen und ver-
heerend für die Gesellschaft. In den USA hängen 80 Prozent der Krank-
heiten mit der Lebensführung zusammen. Die Menschen in Bewegung zu
setzen ist eine billige, einfache und höchst effektive Lösung.
Warum ist es für die meisten Menschen in industrialisierten Ländern
so schwierig, sich ausreichend körperlich zu betätigen? Wenigen Glück-
lichen bringt körperliche Aktivität ausreichend Belohnung für die Mühe.
Den meisten aber nicht. Die meisten von uns müssen mehr Disziplin
und Willenskraft aufbringen, doch dem stehen vielerlei Hindernisse der
Umwelt entgegen: schlechte Stadtplanung, mangelhafte öffentliche
Sicherheit, Mangel an Zeit und Geld und die seelische Erschöpfung durch
das Arbeiten und Leben in einer Bildschirm-Gesellschaft.
Und dennoch können kleine Änderungen große Wirkung haben: Ein
sicherer Radweg wird gebaut, und das Radfahren nimmt um 25 Prozent
zu. In Betrieben werden Duschen installiert, und die Mitarbeiter steigern
ihre körperlichen Aktivitäten um ein Drittel. 15-minütige bezahlte Arbeits-
pausen für Bewegung steigern die Produktivität. Schüler bekommen
eine halbstündige Pause zum Toben im Freien und verbessern deutlich
ihre Noten.
Jeder muss die Art der Bewegung finden, die für ihn funktioniert. Ein
ausgezeichneter Anfang ist die Erneuerung der Verbindung zum Boden –
und zur Ernährung. Indem wir die Bande zwischen Körper und Bewe-
gung, Boden und Nahrung erneuern, die unsere Vorfahren prägten, kön-
nen wir anfangen, unsere Gesundheit wiederherzustellen. Gartenarbeit
ist gut für Körper und Seele. Und nichts ist so frisch, gesund, saisonal
und regional wie das, was man selbst im Garten erntet.
Zugegeben, das ist nicht für jeden und zu jeder Jahreszeit machbar.
Doch jeder kann sein Leben betrachten und Gelegenheiten zur Bewe-
gung finden. Auch scheinbar kleine Änderungen können große Wirkung
haben. Im Rahmen meiner Genesung kaufte ich ein Stehpult. Es ver-
wandelte meinen Arbeitsplatz von einem Sitzalbtraum, wo ich es kaum
vier Stunden am Tag aushielt, in eine Oase der Bewegung und Kreati-
vität, wo ich stundenlang stehen, sitzen (auf einem Hochhocker) und
auf und ab gehen kann. In dem Augenblick, in dem ich mich von un-
serer modernen Sitzkultur, die mir Krämpfe im Rücken bereitet, verab-
schiedete, wusste ich, dass ich mit kleinen Änderungen neue Bewe-
gungsmuster in mein Leben bringen konnte. Das war der wichtigste
Augenblick meiner Rehabilitation.
Von links nach rechts: Munna Kailash befördert
seine Familie durch Varanasi, Indien. Passagiere
eines Flussschiffes auf dem Solimoes in Brasilien
entspannen sich in Hängematten. Junge Frauen in
einem Diätcamp in den Catskill Mountains, New
York, beim Frühsport. Ein 227 Kilo schwerer Veteran
des Golfkrieges in Knoxville, Tennessee. Ein
Ziegeleiarbeiter in Sonargaon, Bangladesch.
Fahrradkurier Yajima Jun unterwegs in Tokio
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