Page 202 - [Peter_Menzel,_Faith_D’Aluisio]_Mahlzeit_Auf_80(BookFi.org)

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M A H L Z E I T
Welche Folgen hat es, dass so viele in den Industrienationen körper-
liche Tätigkeit aus ihrer Energiebilanz gestrichen haben? Weil mein
Übergang in die Welt der trägen Massen so abrupt erfolgte, war ich mir
der weitreichenden Auswirkungen auf mein Leben schmerzlich bewusst.
Täglich rang ich darum, ein gesundes Gewicht zu halten, kämpfte gegen
Depressionen und konnte mich schlecht auf meine Arbeit konzentrie-
ren. Und um mich herum sah ich die Kultur derer, die nicht durch Zwang,
sondern freiwillig und bedingt durch eine Reihe systembedingter Hin-
dernisse bewegungslos lebten. Ich erkannte ein Muster der körper-
lichen Inaktivität einer Gemeinschaft, die ihr tägliches Brot nicht mit
Pflügen, Säen, Ernten, Dreschen, Mahlen und Kneten verdient, sondern
durch Schreibtischarbeit und Fortbewegung mittels PKW, Bus, Bahn,
Flugzeug und anderer Transportmittel.
Diese neue Lebensweise bringt viele Annehmlichkeiten. Die Natur
machte es den Sammlern und Jägern und den frühen Ackerbauern
nicht leicht. Ihr Leben war ein täglicher Kampf, um genügend Kalorien
fürs bloße Weiterkämpfen zusammenzubekommen. Sie lebten ständig
in Gefahr, und jeder Misserfolg hatte schlimme Folgen. Jahrtausende-
lang lag die Lebenserwartung des Menschen bei weniger als 50 Jah-
ren. Die Menschen in den hochzivilisierten Ländern von heute müssen
ihren Lebensunterhalt nicht mehr im Kampf gegen die Naturgewalten
verdienen. Elektrizität, sauberes Wasser aus der Leitung und ein ver-
lässliches Angebot an anständiger Nahrung bescheren uns gesund-
heitliche Vorteile, die einen Ausgleich für die Aufgabe des anstrengen-
deren Lebensstils bieten.
Doch wir Menschen tragen eine körperliche Erblast, über die wir
nicht gefahrlos hinwegsehen können. Wir können uns von den körper-
lichen Anforderungen an den Sammler und Jäger oder Ackerbauern
abwenden, aber wir können nicht unseren Bedarf an regelmäßiger
körperlicher Bewegung ignorieren.
Wir sind dafür gemacht, für eine abwechslungsreiche Ernährung
körperlich zu arbeiten, und unser Körper nimmt Schaden, wenn wir dem
nicht Rechnung tragen. Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und
sogar seelische Krankheiten zählen zu den negativen Folgen des Ignorie-
rens. Ähnlich geht es den Tieren im Zoo, die täglich ihr Futter vorgesetzt
bekommen: Sie werden dick und träge, leiden an Diabetes und Herz-
Kreislauf-Erkrankungen. In der freien Wildbahn, wo sie ihre Nahrung
Ich habe keine Erinnerung an den Hergang des Fahrradunfalls, der mich, als ich Anfang 40 war, meiner durch Leistungssport
erworbenen Fitness beraubte – nicht an die Gesichter der Helfer, die mich auf dem Uferweg am Potomac in Washington, D.C.,
fanden, nicht an den Hubschraubertransport ins Unfallkrankenhaus. Ich weiß nur, dass ich, als ich das Krankenhaus verließ, durch
meine lädierten Wirbel gezwungen war, mich den Bewegungsarmen anzuschließen – den 3,4 Milliarden Menschen (etwa der Hälfte
der Weltbevölkerung), die in Städten leben und ihren Körper selten auch nur mäßig fordern. Im krassen Gegensatz zur anderen
Hälfte der Menschheit, die nach wie vor erntet, jagt und sammelt, um ihren täglichen Kalorienbedarf zu decken.
Die trägen Massen mobilisieren
Essay
Von Mary Collins
Mary Collins, Professorin für kreatives Schreiben an der Central Connecticut State Univer-
sity, schreibt unter anderem für die National Geographic Society und das »Smithsonian
Magazine«. Ihr neuestes Buch, »American Idle«, betrachtet die sozialen, kulturellen,
körperlichen und auch moralischen Folgen eines bewegungsarmen Lebensstils.