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M A H L Z E I T
Wenn Sie zur aussterbenden Spezies derer gehören, die zu Hause es-
sen, sollten Sie sich in Ihrer Küche umsehen. Wenn Ihr Geschirr und Ihre
Gläser nicht Jahrzehnte alt sind, sind Tassen, Teller und Gläser wahr-
scheinlich deutlich größer als die Ihrer Eltern und Großeltern. Unser Ge-
schirr musste mitwachsen, um die heutigen Riesenportionen zu fassen.
Wir Verbraucher haben uns so sehr an größere Portionen gewöhnt,
dass wir sie überall erwarten. Die Begriffe »klein«, »mittel« und »groß«
haben keine echte Bedeutung mehr, seit die Anbieter die entsprechen-
den Mengen nach und nach erhöht haben. Als sich in den 1950er
Jahren die Fastfood-Ketten etablierten, galt der Halbliterbecher Cola
als »groß«. Heute heißt die gleiche Menge »klein«. Und wir werden dem
Trend folgend zum Kauf des XL-Bechers gedrängt, weil die größere Por-
tion, relativ betrachtet, preiswerter zu sein scheint. So kostet bei
7-Eleven der 0,6-Liter-»Gulp« (»gewaltiger Schluck«) zwei Dollar pro Liter,
der (tatsächlich mehr als dreimal so große) »Double Gulp« mit fast zwei
Liter Inhalt nur 0,83 Dollar pro Liter. So profitiert der Hersteller, wenn
das Produkt – bezogen auf die anderen Kostenfaktoren wie Verpackung
und Marketing – wenig kostet, was bei Massenware von schlechter
Qualität häufig der Fall ist. Die Portion zu vergrößern kostet den Anbie-
ter wenig, und er profitiert vom höheren Umsatz.
Was verleitet uns, mehr zu kaufen, ohne Rücksicht auf unsere wirk-
lichen Bedürfnisse? Niemand zwingt uns dazu, doch viele von uns
schauen gebannt auf das Preis-Leistungs-Verhältnis und sind derart
erpicht, ein Schnäppchen zu machen, dass wir Waren oder ein Lokal oft
nur anhand dieser Kriterien aussuchen. In den populären amerikani-
schen »Zagat«-Restaurantführern geht es in vielen Beiträgen vor allem
um die Menge auf dem Teller und den Preis, nicht um den Geschmack
der Gerichte. Wir glauben, mehr sei besser, und darum begehren wir
vollgepackte Teller und Burger im Godzillaformat.
Mit den Portionen ist auch der Bauchumfang der US-Bürger gewach-
sen. Zwar begünstigen physiologische, genetische und psychologische
Faktoren den Hang zur Fettleibigkeit, doch sie reichen zur Erklärung un-
serer zunehmenden Leibesfülle nicht aus. Unsere Gene haben sich
kaum verändert, auch nicht die Vorliebe (oder Abneigung) gegen Aus-
gleichssport. Was sich geändert hat, sind die Mengen – und damit die
Zahl der Kalorien –, die wir täglich vertilgen.
Die US-Ernährungswirtschaft stellt jedem US-Bürger pro Tag 4000
Kalorien zur Verfügung – das Doppelte des durchschnittlichen Bedarfs.
Als der US-Baseballstar Yogi Berra in den 1950er Jahren gefragt wurde, ob er seine Pizza in vier oder in acht
Stücke geschnitten haben wolle, antwortete er: »Vier. Ich glaube nicht, dass ich acht Stücke schaffe.« Vor 50 Jahren
waren die Por tionen kleiner. Und die Menschen schlanker. Unser üppiger Wohlstand hat seine Schattenseiten.
Dank kreativem Marketing sind die Por tionen um das Doppelte bis Fünffache gewachsen: Die Größe von Bagels
und Muffins hat sich verdoppelt. Die Popcorntüte im Kino fasste einst 1,1 Liter, heute gibt es den Puffmais in
Viereinhalbliter-Eimern.
Auf die Portion kommt es an
Essay
Von Lisa R. Young
Dr. Lisa R. Young ist Professorin für Ernährung an der New York University und führt
eine Praxis als Ernährungswissenschaftlerin. Sie schrieb das Buch: »Portion nach Maß:
Abnehmen auf einen Blick ohne Kalorienzählen«.