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die Verdauung Energie benötigt. Der Verdauungsprozess – Kauen, Schlu-
cken,dieHerstellung vonEnzymen sowie dieMuskelarbeit zur Beförderung
der Nahrung durch Magen und Darm – verbraucht Kalorien. So werden
für die Verdauung von Pflanzenfasern mehr Kalorien verbraucht als für
die Erschließung des Brennwertes aus anderen Kohlehydraten. Und
diese Fasern ernähren auch unsere Darmbakterien. Sodass unterm
Strich aus Pflanzenfasern 25 Prozent weniger Energie zur Verfügung
stehen (1,5 statt 2,0 Kalorien pro Gramm). Und beim Eiweiß bleiben
20 Prozent weniger Nettokalorien (3,2 statt 4,0 pro Gramm), weil Eiweiß
zunächst in Aminosäuren zerlegt werden muss – dabei wird giftiges
Ammoniak produziert, das zur Ausscheidung in Harnstoff verwandelt
werden muss. Auch dieser Prozess verbraucht Energie.
Darüber hinaus wird heute unsere Nahrung vor dem Verzehr in der
Regel in einem von Atwater nicht vorausgesehenen Ausmaß verarbeitet,
mit starken Auswirkungen auf den verfügbaren Energiegehalt. Während
beim grob gemahlenen Weizenvollkornmehl 30 Prozent unverdaut blei-
ben, wird Weißmehl fast vollständig verdaut; wir nehmen daraus also
wesentlich mehr Energie auf, als ein Vergleich der Kalorienangaben auf
der Packung vermuten lässt. Auch Hacken macht die Kalorien in Fleisch
leichter verfügbar. Ein Experiment mit Pythonschlangen (die ein Beutetier
bis zu elf Tage lang verdauen) ergab, dass sie zum Verdauen von Hack-
fleisch zwölf Prozent weniger Energie brauchen.
Von allen Arten der Bearbeitung ist das Garen die effektivste Metho-
de zur Freisetzung von Kalorien, da dabei Eiweiß und Stärke aufgespal-
ten werden. Im Rohzustand verbirgt Eiweiß seine inneren Strukturen.
Durch Hitze entfalten sie sich, das Gesamtmolekül wird für die Verdau-
ungsenzyme leichter zugänglich. Schlichtes Kochen verringerte den Ener-
gieaufwand der Pythons bei der Verdauung um 13 Prozent, Hacken und
Kochen sogar um 23 Prozent.
Was lehrt uns das? Wenn Nahrung knapp ist, kann man mit Kochen
und Hacken mehr Kalorien aus jedem Bissen holen. Wer dagegen abneh-
men möchte, sollte bedenken, dass weniger verarbeitete und mit weniger
Hitze gegarte Lebensmittel dem Körper weniger Kalorien zuführen. Die
Unterschiede mögen gering erscheinen, doch sie summieren sich. So
erscheinen etwa eiweiß- und ballaststoffreiche Nahrungsmittel mit höhe-
ren Kalorienzahlen auf den Nährwerttabellen – also weniger gesund, als
sie es in Wirklichkeit sind. Im Jahr 2002 berief die Welternährungs-
organisation FAO (Food and Agriculture Organization) eine Expertenkom-
mission zur Erörterung der Frage ein. Die Fachleute stimmten darin über-
ein, dass die Berücksichtigung der Verdauungsarbeit aufschlussreichere
Kalorientabellen ergeben würde. Weil dies aber aufwendige Neuberech-
nungen erfordern würde, beschloss man, alles beim Alten zu belassen.
Auch wenn die Brennwertangaben nicht 100-prozentig zuverlässig
sind, ermöglichen sie doch den Vergleich der verfügbaren Nahrungsener-
gie und liefern damit wichtige Informationen für die mehr als drei Mil-
liarden Menschen auf unserer Erde, die nicht den richtigen Tagesbedarf
an Energie erhalten. Nach FAO-Angaben waren 2009 gut eine Milliarde
Menschen unterernährt. Zugleich schätzt die UN-Organisation, dass bis
2015 etwa zwei Milliarden Erwachsene übergewichtig und 700 Millionen
fettleibig sein werden. Wichtigste Ursache für die »Fettleibigkeits-Epide-
mie« ist das Überangebot an energiereicher Nahrung mit hohem Fett-
und Zuckergehalt und wenig Mineral- und Ballaststoffen – bei gleichzei-
tigem Rückgang körperlicher Aktivität.
Zum Wohle der Unterernährten dagegen sind selbst die mangelhaften
Nährwerttabellen eine wertvolle Richtschnur für Ärzte, Ernährungs-
fachleute und Hilfsorganisationen, um die Rationen für die Hungernden
zu verteilen; den Übergewichtigen können sie aufzeigen, wie viel sie es-
sen und wie sie ihre Nahrungsaufnahme auf ein gesünderes Niveau
verringern können. Trotz ihrer Mängel haben Atwaters Kalorientabellen
unsere Art zu essen verändert, und sie bleiben ein wertvolles Werkzeug,
um eine Welt ins Gleichgewicht zu bringen, in der die einen Hunger lei-
den, während andere am Überfluss erkranken.
Von links nach rechts: Todd Kincer isst zu Hause
in Mayking, Kentucky, einen Teller Nudeln mit
Hackfleisch. Mittagessen in einem Lokal an der
Straße beim Dorf So in Vietnam. Ein Alltagsgericht
im Hause einer bürgerlichen Familie in Luxemburg.
Frühstück für einen Hausgast in London. Eine Platte
mit gegrilltem Fleisch und Reis in einem Restaurant
in Los Angeles. Ein junger Angestellter nimmt sich
Frühstück in einem Pho-Nudelrestaurant in Hanoi