Page 120 - [Peter_Menzel,_Faith_D’Aluisio]_Mahlzeit_Auf_80(BookFi.org)

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Atwater hatte ein einfaches Ziel: Er wollte den Armen helfen, mehr
Nährwert für ihr Geld zu bekommen. Nachdem er den Eiweiß- und
Gesamtnährwertgehalt von zahlreichen Lebensmitteln analysiert hatte,
kam er zum Beispiel zu dem Ergebnis, dass ein Stück Käse zum Preis
von 25 Cent 240 Gramm Eiweiß enthielt, dreimal mehr, als wenn man
das Geld für Filetsteak ausgegeben hätte. Heute dagegen ist die Kalorien-
tabelle zur Basis einer Diätindustrie geworden, die allein in den USA
jährlich 40 Milliarden Dollar umsetzt. Ihr Konzept ist simpel: Man darf
alles essen, solange dabei unterm Strich nicht mehr als 2000 Kalorien
pro Tag zusammenkommen. Das würde prima funktionieren, wenn Kalo-
rie gleich Kalorie wäre. Doch das stimmt nicht.
Seit Atwater seine grundlegenden Berechnungen durchführte, hat die
Ernährungswissenschaft große Fortschritte gemacht. Wir wissen mehr
über Verdauung, vor allem darüber, wie viel Energie wir verbrauchen, um
verschiedene Lebensmittel so aufzubereiten, dass sie für den Organis-
mus verfügbar sind. Wir wissen auch, dass durch die Verarbeitung unse-
rer Lebensmittel wie Mahlen und Garen die darin enthaltenen Kalorien
leichter verwertbar werden. Je leichter unser Körper die Kalorien aufneh-
men kann, je weniger er für die Erschließung arbeiten muss, umso eher
werden sie in Fettpolster umgesetzt. Die Nährwertangaben berücksich-
tigen diese Unterschiede nicht, sodass der tatsächlich für den Körper
verfügbare Energiegehalt um bis zu 25 Prozent nach oben oder unten
von den Angaben abweichen kann.
Atwater berechnete den Energiegehalt der Lebensmittel, indem er sie
verbrannte und die dadurch freigesetzte Wärmemenge maß. Doch unser
Körper verbrennt seine Nahrung nicht im offenen Feuer, sondern verdaut
sie ganz ohne Flammen. Um die tatsächlich für den Körper verfügbare
chemische Energie zu ermitteln, untersuchte Atwater den Stuhl von Ver-
suchspersonen, deren Nahrungsaufnahme er genau überwachte. Und
entdeckte mit diesem Verfahren, dass etwa zehn Prozent der aufgenom-
menen Nahrung unverdaut bleiben. Dann zog er noch den Energieverlust
durch Abfallprodukte im Urin ab. Und kam zu dem Endergebnis, dass
jedes Gramm Eiweiß oder Kohlehydrat vier Kalorien liefert, jedes Gramm
Fett dagegen volle neun.
Aber in seinen Berechnungen hatte Atwater nicht die für die Arbeit der
Verdauung nötige Energie berücksichtigt und vom Bruttobrennwert abge-
zogen. Ähnlich wie beim Sprichwort »Geld verdienen kostet Geld« wird für
Elf Kartoffelchips: 120. Sieben ganze Walnüsse: 185. Ein Esslöffel Honig: 64. Man kann kaum einen Bissen zu sich nehmen,
ohne an dessen Kaloriengehalt zu denken. Schuld daran ist ein Mensch, von dem die meisten von uns wahrscheinlich noch
nie gehört haben: Wilbur Olin Atwater. Der amerikanische Wissenschaftler war es, der Ende des 19. Jahrhunderts den
Energiegehalt von Kohlehydraten, Eiweiß und Fett pro Gramm bestimmte und darauf aufbauend den Gesamtnährwert von
über 1000 Lebensmitteln errechnete. Die Frucht seiner Arbeit – die Brennwertangabe – ist heute auf fast jeder Packung im
Supermarktregal aufgedruckt. Leider jedoch führen diese Angaben in die Irre.
Geißel und Versuchung: die Kalorie
Essay
Von Bijal P. Trivedi
Bijal P. Trivedi ist Wissenschaftsjournalistin und freie Autorin mit den Spezialgebieten
Umwelt und Medizin. Ihre Arbeiten erschienen unter anderem in »National Geographic«,
»New Scientist«, »Wired« und »The Economist«. Sie hat einen Lehrauftrag im »Science,
Health, and Environmental Reporting Program« der New York University.