Level 4 (Grundtext)

Das Verborgene

 

Aktivitäten rund um ein Verborgenes. Warum findet man beim Suchen wenig Neues, aber viel Anhäufung. Die fieberhafte Spannung und ihre plötzliche Auflösung. Suchen als Sucht. Erraten aus spärlichsten Anzeichen.

Die letzte Grundfigur, die wir im Rahmen der Bewirkung genauer analysieren wollen, umfaßt verschiedene Aktivitäten, die sich rund um ein konkretes oder abstraktes Verborgenes ergeben. Mit dieser Figur hat man sich bisher wohl am wenigsten beschäftigt, doch weist auch sie eine sehr interessante Morphologie auf, mit zahlreichen Möglichkeiten der formalen Auszeichnung, bei denen die Homokumulativitätsgier leicht auf ihre Rechnung kommt.

Die erste derartige Aktivität ist ein physisches oder psychisches Suchen als Bewirkungshandlung mit dem Wirkungsziel, etwas Verborgenes zu finden, d.h. äußerlich oder innerlich zu erblicken. Der Suchende weiß stets, was er sucht; er weiß nur nicht, wo es steckt bzw. wie es im einzelnen aussieht. Und alle Beobachter, die nicht mehr wissen als er, erleben die Situation auf dieselbe Weise mit. Versucht man nun, sich diese Aktivität als Formverhalten vorzustellen, so zeigt sich bald, daß man dabei mit der Neugier nicht sehr weit kommen wird, denn Finden impliziert Wiedererkennen, also kann das Gesuchte gar nicht so überwältigend neu sein. Wirklich unvorgesehene, unbekannte, identitätslose Informationen fallen erst bei einem offenen (erwartungsneutralen) Erkunden an, während das typische Suchen eine ganz andere, viel geschlossenere, dafür aber auch markantere, ja geradezu »dramatische« Struktur darstellt. Faßt man es hingegen als eine Anhäufung von Gleichem auf, dann treten seine formalen Vorzüge sofort klar zutage, unbeschadet der Tatsache, daß ihre Analyse vorläufig noch etwas unvollkommen bleiben muß.

Am Anfang steht hier eine typische Einschränkung: findet man etwas gleich, so kann man überhaupt nicht danach zu suchen beginnen. Oder anders gesagt, es handelt sich um eine Struktur, die zu ihrer Entfaltung einige Zeit braucht. Deshalb führt der Vorsatz, diese Struktur als Form zu konsummieren, zu einer denkwürdigen Spaltung unseres Interesses. Einerseits sind wir zwar nach wie vor bestrebt, das Gesuchte so rasch wie möglich zu finden, doch andererseits müssen wir uns unter solchen Umständen in der letzten Tiefe des Herzens das genaue Gegenteil wünschen – je später*, desto besser, denn eine Minimalisierung der Bewirkungshandlung der Suche kommt offenbar von vornherein nicht in Betracht, also bleibt lediglich die Möglichkeit ihrer Maximalisierung* übrig.

Und in der Tat werden nur hinreichend lange Suchaktionen formal berücksichtigt, obwohl es dabei Unterschiede gibt: erst bei einem Blick auf die Bewirkungshandlung von außen kann ihre zeitliche Extensität wirkliche Extremwerte* erreichen, während uns, solange wir mitten in ihr drinstecken, unsere Ungeduld zu Kompromissen zwingt. Doch vielleicht noch wichtiger als die Dauer der Suche selbst sind ihre Folgen. Sie signalisiert Schwierigkeit*, und Schwierigkeit läßt Wettkampfstimmung* aufkommen, auch wenn sie rein objektiv verstanden wird. Aber das gesuchte Objekt nimmt fast zwangsläufig Züge eines persönlichen Gegners an, obgleich wir ihm vorerst keine Absicht und keine Behinderungstaktik zuschreiben. Es ist einfach ein »Widerstand« zu spüren, der die ursprünglich vielleicht schwache Motivation des Suchenden oft bis zur Weißglut erhitzt; jedenfalls findet man im Kern der Suche kein gelassenes Warten auf den Anblick des Verborgenen, sondern ein dringendes, manchmal fast qualvolles Streben summa cum ira et studio, vor allem im Sinne einer fieberhaften psychischen Aktivität*, die hier die intensionale Seite der maximalen Bewirkungshandlung vertritt. Dabei spiegelt sich der wachsende Druck unserer frustrierten Erwartung als sogenannte Spannung* wider.

Doch was behaupten wir eigentlich mit dem letzten Sternchen – schließen Konsummation und Frustration nicht einander aus? Auf den ersten Blick kann das Formerlebnis also nicht vor dem Zeitpunkt des Findens einsetzen. Und das Finden ist zweifellos der dramaturgisch gekonnte Höhepunkt des Suchunternehmens: in aller Regel plötzlich*, also scharf konturiert*, und verbunden mit einem steilen Spannungsabfall*, der zu den spezifischen Anstrengungen der gerade beendeten Bewirkungshandlung einen markanten Kontrast* herstellt und ihnen dadurch einen zusätzlichen formalen Daseinsgrund verleiht. Jetzt, d.h. nachträglich lassen sich diese Anstrengungen sicher am ungestörtesten zu erfreulichen Erfahrungen umfunktionieren. Aber vergessen wir dabei nicht unsere Fähigkeit der Vorwegnahme; man kann, schon während man sucht, von der beglückenden Vorstellung der Erleichterung beim Finden erfüllt sein und sich zwecks Intensivierung des bevorstehenden Genusses unbewußt die größten Schwierigkeiten herbeiwünschen.

Eigens für das Spiel erfundene Suchaktionen* sind häufig, aber nicht unbedingt notwendig, denn das Leben selbst ist sehr oft ein Suchen, und bezeichnend ist schon, wie leicht verschiedenste inhaltlich motivierte Tätigkeiten dieser Art über ihren konkreten Anlaß hinauswachsen, von dem einfachsten Pilzesammeln* bis zur Gold- oder Schatzsuche*, Archäologie* oder Paläontologie*. Solche und ähnliche Berufe liefern nicht nur die Helden für allerlei spannende Geschichten*, sie werden auch in der Wirklichkeit oft zu einer instrumental unerklärlichen Sucht*. Die berühmteste von diesen Gestalten ist natürlich der Detektiv*, in dessen Lage sich das Publikum eines whodunit* so gern versetzen läßt. Aber auch jede Problemlösung* ohne einen vertrauten Algorithmus, bei der man also erst auf den »Dreh« kommen muß, gehört hierher (womit wir allerdings nicht andeuten wollen, eine Problemlösung mit Algorithmus wäre unter keinen Umständen homokumulativ). Neben anderem führt sie zu der ausgeprägtesten Form des Aha-Erlebnisses*, wie man es aus zahllosen Berichten über Intuitionen* und Inspirationen* kennt – und jedermann weiß, wie schnell unter dem Eindruck einer solchen Erfahrung der eigentliche Zweck der Übung verblaßt.

Noch verspielter wirken Parallelwettkämpfe zwischen Suchenden: wer findet mehr* (= Menge/Dichte*), wer findet als erster* (= mit relativ kürzester* Bewirkungshandlung) usw. Dasselbe Gefühl hat man auch bei der bekanntesten Art der quantifizierbaren Erschwerung*: wer »errät« etwas aus den wenigsten* und strenggenommen vielleicht gar nicht ausreichenden Anzeichen? (Hier geht es um die Minimalität* der zur Bewirkung benötigten Information, wobei auffällige Sparerfolge durch das Unmöglichkeitsgefühl* des Unterlegenen bzw. des Beobachters, also durch den heftigen Erwartungskontrast formal unterstrichen werden.) Oft bewunderte Beispiele dieser Kunst beziehen sich auf das Witterungsvermögen* der Tiere, das Spurenlesen* der Jägervölker, moderne kriminalistische Methoden*, verschiedene Erkennungsspiele*, Handschriftenentzifferung* oder Handschriftendeutung*, und als eine besonders phantastische Leistung gilt dabei mit Recht jede Art der exakten Vorhersage* eines nichttrivialen Ereignisses, sei sie nun streng wissenschaftlich, magisch oder parapsychologisch untermauert.

 

Die Unkenntnis eines Verborgenen und ihr Ergebnis. Verhängnisvolle Uninformiertheit und komische Verblendung. Verstecken als Induktion von Ahnungslosigkeit. Leugnen der Bewirkung. Das allgemeine Phänomen des heimlichen Agierens. Aber wehe, wenn man dabei erwischt wird. Verbergen in mehr als einem Stockwerk.

Unser zweiter Ausgangspunkt ist die entgegengesetzte Situation, nämlich die Unkenntnis der objektiven Existenz eines konkreten oder abstrakten Verborgenen. In den Augen der besser informierten Beobachter – die in diesem Fall also nicht das Schicksal des Akteurs teilen – kann eine solche Unwissenheit von einem ähnlichen formalen Glanz umgeben sein wie die Suche, und zwar wieder vor allem wegen der Anhäufung von Gleichem. Dazu kommt es, wenn die fehlende Information eine ganz bestimmte Art von Verhaltensfolgen hat oder zu haben droht, nämlich wenn sie das Opfer entweder zu völlig falschen, seinen wirklichen Interessen kraß widersprechenden* Handlungen verleitet oder es durch ein trügerisches Gefühl der Souveränität* zu sorgloser Untätigkeit verdammt, wo Handeln dringend nötig wäre. Bewirkt wird durch eine derartige Fehlleistung zwar nichts Zielführendes, wohl aber ein respektabler formaler Kontrast* – auf jeden Fall zum situationsgerechten Verhaltenssoll, bei Untätigkeit aber auch zu der Unruhe des Beobachters, dem die Haare zu Berge stehen* ob dieser Torheit und der am liebsten aufspringen und das Opfer laut warnen möchte. Die wohlbekannte physiologische Intensität* einer solchen Unruhe ist das erste indirekte Maß für die Homokumulativität der Ahnungslosigkeit, und als ein zweites gesellt sich die leicht vorauszusehende Bestürzung* des Opfers bei der zu späten Entdeckung des Informationsmankos hinzu. Dabei fällt ein passives Ende der Ahnungslosigkeit meist ebenso plötzlich* aus wie ein bewußt herbeigeführtes Finden, nur mit umgekehrtem Spannungsknick und breiteren seelischen Reperkussionen, denn im Kielwasser einer derartigen Entdeckung wird typischerweise »alles* ganz anders«.

Der Glanz dieser Form bleibt für den Beobachter anscheinend selbst dann verhaltenswirksam, wenn sich die Unkenntnis einer Gefahr* für das Opfer eindeutig verhängnisvoll auswirkt. Zwar muß man in solchen Fällen mit starken inhaltlichen Motiven (Sympathien und Antipathien) rechnen, doch die unersättliche Gier, mit der gerade Schilderungen der schrecklichsten Konsequenzen* der Uninformiertheit verschlungen werden – und das ist ein berühmter Archetyp der Erzählkunst –, läßt sich durch Mitgefühl oder Schadenfreude kaum restlos erklären. Ganz in den Vordergrund rückt aber das CIF-Syndrom bei einer nicht fatalen und daher komischen Ignoranz, wobei aus unserer Sicht vor allem die Beliebtheit ihrer krassesten Extremform Erwähnung verdient, mit einem Verborgenen, das eigentlich gar kein Verborgenes ist, weil es für jedermann klar und deutlich sichtbar dem Opfer vor der Nase baumelt, so daß die unfaßbare Verblendung, in der es daran vorbeigeht und überhaupt nichts bemerkt, die Abweichung vom Soll-Wert zu einer wirklich drastischen* (und meist absichtlich übertriebenen*) Inkompetenz radikalisiert. Wir kennen sie alle, jene zerstreuten Professoren, die dauernd etwas suchen, was sie selber in der Hand halten*; jene naiven (Ortho-)Beobachter, die zusehen und nichts verstehen* oder über ein leicht durchschaubares Ereignis wild mißdeutende Berichte* abfassen; jene Kurzsichtigen* und Schwerhörigen*, deren Gebrechen so oft herhalten müssen, weil dem Komiker vom Dienst gerade nichts Besseres einfällt; und viele ähnliche Helden.

Manchmal findet sich eine gute Seele, die dem Opfer einer solchen Unwissenheit die Augen öffnen möchte, und daraus entwickelt sich eine neue Formorgie, wenn das Opfer z.B. für jede noch so eindringliche und verzweifelte* Warnung unzugänglich* bleibt oder einen ganz einfachen Witz auch nach mehrmaliger ausführlicher Erklärung* nicht mitkriegt*. Häufiger sind jedoch Bemühungen in umgekehrter Richtung, die die Situation der Ahnungslosigkeit künstlich zu erzeugen versuchen. Als einen anschaulichen Musterfall kann man hier verschiedene Blindekuhspiele* nennen (aber nicht aus der Perspektive der Blindekuh selbst, die in Wirklichkeit ein ganz anderes Spiel spielt, nämlich »Erraten aus spärlichsten Anzeichen«*). Auch das unbemerkte Unterschieben* von allerlei komischen Dingen liefert uns die Idee für unzählige Streiche. Die allgemeinste Formel für einen Eingriff dieser Art ist wohl, daß man dem vorgesehenen Opfer sich selbst oder etwas anderes versteckt. Und das Verstecken ist die nächste formal privilegierte Handlung im Zusammenhang mit einem Verborgenen, erstens als Meta-Bewirkung der oben geschilderten Ortho-Effekte*, die sich deren Homokumulativität voll anrechnen darf, und zweitens als eine im allgemeinen recht elegante* und mühelose* Intervention. Außerdem kann man sich bei ihm oft nach eigenem Gutdünken entscheiden, ob man es bei der Situation der Unwissenheit bewenden lassen oder das anschließende plötzliche Auftauchen* des Verborgenen (= Ende der Ahnungslosigkeit) in den Mittelpunkt einer solchen Meta-Bewirkung stellen wird – das letztere natürlich, um sich an dem sichtbaren Erschrecken* des Opfers zu delektieren (Scherzartikel*!).

Wie schon erwähnt wurde, kann sich das Verbergen unter anderem auch auf die Vorbereitungen und die Hilfsmittel beziehen, die vielleicht für eine anspruchsvollere formale Bewirkung nichtverbergender Art notwendig sind. Offensichtlich geschieht das nicht nur wegen der Reduktion der Bewirkungshandlung auf einen scheinbar spontanen Auslösungsakt, sondern manchmal auch aus Lust an dem eigens durch das Verstecken* zu erzielenden Formzuwachs. Und dieselbe Lust erklärt uns, wie Leute auf den Gedanken kommen, den Tatbestand der Bewirkung ohne einen zwingenden inhaltlichen Grund überhaupt ganz geheimzuhalten oder zu leugnen*: sie opfern zwar dabei ihren Urheberruhm, doch dafür können sie sich an der heftigen Verwunderung ihrer Mitmenschen über eine »Wirkung aus heiterem Himmel«* weiden, und das ist eine durchaus gleichwertige formale Entschädigung.

Solche und ähnliche Überlegungen bringen uns schließlich zum allgemeinen Phänomen des heimlichen Agierens im eigenen Interesse, zu seinem Nutzen und zum Schaden der ausgeschalteten Beobachter. Natürlich geht es dabei in erster Linie um handfeste inhaltliche Motive, doch stellt man bei genauerem Hinsehen oft einen unverkennbar intrinsischen Motivationsüberschuß fest, d.h. die Verheimlichung wird vielfach auch oder vielleicht sogar vor allem wegen der ihr a priori innewohnenden Genugtuung betrieben und nicht nur aus Berechnung. Diese Genugtuung rührt also nach unserer Auffassung von der Bewirkung der Unwissenheit* als homokumulativer Form, mit den gleichen Aspekten wie oben. Von den zahllosen Beispielen für »Leben als Verstecken« seien nur einige besonders hervorstechende genannt: zunächst der Reiz jedes noch so unschuldigen Geheimnisses*, Geheimschriften*, Geheimbünde* und überhaupt die ganze Geheimniskrämerei* mit ihren so profund befriedigenden Anspielungen* vor uneingeweihten Dritten; dann die alte, unbeirrbare Vorliebe für Geschichten über allerlei Intrigen*, anonyme Briefe* und ähnliche Maßnahmen; ebenso leicht werden verbergende Kriegstaktiken wie nächtliche Bewegung*, Hinterhalt*, Untergrundkampf* oder Unterseekrieg* formalisiert (nach dem Vorbild des Ansitzens* und des Heranpirschens* bei der Jagd); und nicht zuletzt ist heimliches Agieren ein wichtiges Formelement – neben der allgemeinen Minimalität* der Anstrengung – auch bei vielen kriminellen Handlungen*. Selbstverständlich werden Menschen in aller Regel aus anderen, schwerwiegenderen Gründen Verbrecher, aber wie sollen wir damit z.B. die sogenannte Kleptomanie* erklären? Der nichtutilitäre Stolz des erfolgreichen kleinen Verbergers und Möchtegern-Meistergauners* ist offenbar ein ganz legitimer Bestandteil des kriminogenen Syndroms.

Nun riskiert* man grundsätzlich bei jedem Verstecken und heimlichen Agieren, entdeckt zu werden. Solange nichts schiefgeht, sorgt diese Komplikation einfach für eine zusätzliche indirekte Homokumulativitätskomponente. Manche suchen geradezu den formalen Wettkampf mit einer maximalisierten Entdeckungsgefahr bzw. mit anderen Wagehälsen: wer fordert die Aufmerksamkeit des Opfers am verwegensten* heraus (und demonstriert so am augenfälligsten dessen Inkompetenz)? Wenn man aber dabei unglücklicherweise von der designierten Blindekuh erwischt wird, dann kippt die Stimmung jäh um, denn jetzt wird der Verberger, der sein Wirkungssoll verfehlt hat, selber komisch. Homokumulativ ist daran, neben der am Ende jeder Verborgenheit fast obligaten ruckartigen* Umstrukturierung der Lage, z.B. das Paradox*, wenn sich jemand durch eigene Ungeschicklichkeit verrät*, oder die extensive Unreinheit* der Wirkung, wenn seine hartnäckigen Geheimhaltungsversuche immer wieder* kläglich mißlingen.

Eine besonders komplizierte Struktur erhält man, wenn das vorgesehene Opfer in einer solchen Situation den Spieß umdreht, d.h. dem erfolglosen Verberger die Illusion beläßt, er wäre nicht entdeckt worden, und auf diese Weise selber der eigentliche Verberger »im zweiten Stock« wird. Hin und wieder gelingt es jedoch dem ursprünglichen Verberger, dem Opfer mit gleicher Münze heimzuzahlen, wenn er nämlich bemerkt, daß er bemerkt wurde, aber nun seinerseits so tut, als wäre nichts geschehen, und daneben heimlich eine andere, wirklich unentdeckte Aktion startet (Verbergen im dritten, vierten, fünften… Stock). Dadurch kommt es zu einer eigenartigen Übertrumpfungsspirale*, die aus lauter »imitativen«* Rollenwechseln besteht und deshalb das Formgefühl des Menschen ganz ungewöhnlich fesselt – man denke nur an die fabulistischen Konstruktionen (oder sind sie das doch nicht?) der modernen Spionageerzählung*. Aber auch sonst steht man im Leben nicht selten vor der Aufgabe, als Zeuge unentdeckt zu bleiben. Solche Konstellationen werden einmal mehr mit dem größten Genuß formalisiert (wenn es sich nicht von vornherein um ein unbeobachtetes Beobachten von heimlichen Aktivitäten als reine Formspielerei handelte); so z.B. das Spähen* und Lauschen* im Krieg oder bei der Verbrechensbekämpfung, die Gucklöcher* und die durchsichtigen Spiegel* verschiedener Voyeure* oder unsere zählebigen Unsichtbarkeitsphantasien*.

 

Kombinationen zwischen Verstecken und Suchen. Von der Seeschlacht im Mathematikheft bis zur Psychoanalyse. Ertappen auf frischer Tat. Die Überlegenheit des Verbergers und die Suchreaktion im Passiv. Triumphierende Provokateure wie z.B. der Zauberkünstler oder der Erzähler. Die Dankbarkeit des Opfers.

Neben vollständigen sind allerdings auch partielle Entdeckungserfolge möglich: wir erfahren zwar, daß man uns wider unser Interesse irgendetwas versteckt hat, doch die Frage bleibt, was genau oder wo, und damit entsteht eine völlig neue Situation, die beide prototypischen Aktivitäten im Zusammenhang mit einem Verborgenen untereinander in Berührung bringt. Unsere erste Reaktion ist nämlich, sich unverzüglich auf die Suche nach dem Verborgenen zu begeben, denn ein subjektiver Akt des Versteckens, der uns bekannt wird, bedeutet noch viel unmißverständlicher als jede objektive Verborgenheit eine Herausforderung zum Wettkampf; und dieser Wettkampf ist wieder von hoher Formqualität. Seine Hauptvariante ist offenbar ein grundsätzlich asymmetrischer, obwohl vielfach von beiden Seiten sehr ähnliche Leistungen verlangender Intelligenzvergleich zwischen einem Suchenden und einem Verberger. Für diesen Vergleich gilt einerseits alles, was wir über die Homokumulativität der Suche* gesagt haben (vielleicht mit dem Zusatz, daß die Schlauheit eines intelligenten Gegners noch zuverlässiger für eine ausreichende Dauer* der Bewirkungshandlung sorgt), und andererseits fungieren dieselben Parameter als indirekte Beweise für die Homokumulativität des an sich weniger markanten Versteckens* als einer Behinderung von zunächst unklarer Effizienz, deren endgültiges Format hier ganz von der Intensität* und Extensität* der Suche abhängt. Daneben gibt es aber auch eine symmetrische* Spielart des eben genannten Vergleichs, bei der beide Gegner einander etwas verstecken, und sogar einen Parallelwettkampf* zwischen mehreren Verbergern: wer oder wessen Objekt wird als letztes* entdeckt?

Verstecken-und-Suchen ist natürlich ein klassisches Thema unzähliger Spiele* für jedes Alter (denn das Kleinkind »versteht« den formalen Reiz des Gesuchtwerdens* bekanntlich schon lange, bevor es sich richtig zu verstecken weiß). Dabei ist neben der zentripetalen auch eine zentrifugale Suchrichtung möglich – man vergleiche z.B. das Eindringen* und das Herausfinden* aus dem Labyrinth*. Aber auch die Aufstellung eines Rätsels* (= Aktualisierung eines meist ziemlich albernen Problems als reines Formverhalten) bedeutet eigentlich nichts anderes als Provokation* durch Verbergen. (Allerdings ist ein fairer Suchwettkampf nur bei sogenannten korrekten Problemen möglich, und diese sind eine verhältnismäßig junge Errungenschaft unserer Zivilisation; ein volkstümliches Rätsel ist meist eher eine Art Wissensquiz oder Scherz.) Ähnlich spannt sich der Bogen der symmetrischen Suchpartien von der Seeschlacht* im Mathematikheft bis zum Durchschauen* der Pläne des Gegners als einem wichtigen Formelement aller strategischen Brettspiele*.

Und ebensooft begegnet man in der spielfernen Wirklichkeit einzelnen Rechercheuren und witternden Meuten, die hinter etwas Verstecktem her sind. Dabei treten selbstverständlich wieder mächtige inhaltliche Interessen in den Vordergrund, aber wie bei allen Erscheinungsformen der Verborgenheitsdramatik liegt die Formalisierung des sich daraus ergebenden Kräftemessens stets in greifbarer Nähe, und zwar nicht nur für den Beobachter, sondern manchmal auch für den Akteur, zumindest in der Mischform des schon erwähnten Motivationsüberschusses. So ist ein Verstecken-und-Suchen der formale Höhepunkt vieler Märchen*, die nahtlos z.B. in unsere Detektivgeschichte* übergehen. Bei dieser ist die Wettkampfsituation vielleicht am anschaulichsten, wenn das Publikum den Täter und seine Ambition, einen »perfekten Mord«* zu begehen, von Anfang an kennt. Desgleichen nimmt der Enthüllungsjournalismus*, sobald er sich von besonders gut gehüteten* Geheimnissen besonders stark herausgefordert fühlt, einen deutlich »sportlichen« Zug an, genau wie die unermüdliche Begeisterung seiner Leser. Und selbst ein Sigmund Freud dürfte bei der Psychoanalyse* als einer typischen Suche nach Sich-Versteckendem unbewußt auch eine stille Befriedigung seiner persönlichen Homokumulativitätsgier empfunden haben.

Die schärfste Zuspitzung erfährt der hier geschilderte Wettkampf, wenn es jemanden auf frischer Tat zu ertappen* gilt, was einerseits vom Suchenden vermehrte Aufmerksamkeit* verlangt und andererseits dem Verberger, wenn sein Gegner die entsprechenden Vorkehrungen getroffen hat, die Aufgabe ganz schön erschwert*, vor allem aber sein Risiko* steil in die Höhe treibt. Dieser Umstand ist es, der aus Verbrechern und feindlichen Spionen, die sich gegen allerlei Wächter* und Alarmanlagen* behaupten müssen, oft richtige Helden* macht – ein neues Paradox, das sich ohne die unabhängige Anziehungskraft der homokumulativen Form nicht erklären ließe. Viel Tradition hat das sportliche Moment bei volksnahen gefährlichen Unternehmungen wie beim Schmuggeln* oder Wildern*, und am deutlichsten wird die Natur der damit verbundenen Lust wie gewöhnlich bei Kinderspielen* im Ertappen. Als eine reine Stilfrage interpretieren das Thema auch die Taschenspieler* und Varietédiebe*, die ihrem Publikum wenigstens zum Schein den gleichen Wettkampf anbieten.

Wiederum ganz anders liegen aber freilich die Dinge, wenn man z.B. etwas nur durch eine Aussage des Verbergers selbst erfahren kann. Unter Umständen kommt es dabei zu einem Entlockungswettkampf*, dessen formaler Reiz sich vor allem in seiner psychologischen Komplexität* verbirgt (von dem Spezialmittel der Folter natürlich abgesehen). Überhaupt ist im allgemeinen eher der Verberger derjenige, der die Bedingungen der Suche diktiert – und verständlicherweise neigt er dazu, seine Überlegenheit so ins Spiel zu bringen, daß er darin von vornherein als Sieger feststehen wird.

Der Suchende kann nämlich zwar wissen, daß ihm etwas versteckt wurde (vielleicht hat er sogar mit eigenen Augen gesehen, wie es verschwand), zugleich aber dagegen machtlos sein, so daß er nach einem kürzeren oder längeren Tappen im dunkeln seine Suchaktivitäten aufgeben muß. Damit ist die Wettkampfsituation aufgehoben; von nun an ist er allen Launen des Verbergers ausgeliefert. Und dieser nutzt das auf eine sehr charakteristische Weise aus: er verspricht zwar meistens, daß er das Geheimnis zu guter Letzt lüften wird, doch behält er sich das Recht vor, den genauen Zeitpunkt dafür selber zu bestimmen, und dann zögert er ihn hinaus und läßt das Opfer zappeln, um sich an seiner Suchreaktion im Passiv zu ergötzen. Kennzeichnend für die letztere ist die uns schon bekannte intensive, ja qualvolle Wißbegier*, die sich aber hier nicht in Tätigkeit ausdrücken, sondern nur gleichsam im eigenen Safte schmoren kann, was sie natürlich noch brennender* macht. Außerdem ist die Suchreaktion in diesem Fall nicht autonom; sie ist das manipulierte Zielobjekt eines neckischen Informationsentzugs, d.h. einer Meta-Bewirkung, die wohlgemerkt bei einer genaueren Prüfung keinen inhaltlichen Sinn ergibt, dafür aber durch einfaches Nichtstun* eine enorme Wirkung* erreicht und deshalb eine fast unwiderstehliche formale Versuchung darstellt.

Schon für unkorrekte Rätsel* mit mehreren Lösungen und andere Spiele mit unzulänglicher (= versteckter) Information* gilt es, daß sie sich ganz nach dem Interesse des Verbergers richten. Ähnlich ist der Zauberkünstler* (oder z.B. auch der Spezialist für besondere Filmeffekte*) zum Teil wegen seiner Fingerfertigkeit und zum Teil wegen der ihm zur Verfügung stehenden technischen Hilfsmittel den Zuschauern in Wirklichkeit turmhoch überlegen: sie wissen zwar grundsätzlich, daß hinter seinen »behaupteten« Bewirkungen irgendein Trick stecken muß, haben aber praktisch keine Chance, ihn herauszubekommen, und können nur mit offenem Munde* (wegen der Intensität des Unmöglichkeitsgefühls*) zusehen, wie da Dinge mit der größten Eleganz* und Selbstverständlichkeit* verschwinden* und dann an den unvermutetsten Orten wieder auftauchen*, wie sie sich in völlig andere Dinge verwandeln*, zerstückelt werden und scheinbar von selbst wieder zusammenwachsen*, ja wie sie einfach aus dem Nichts* hervorgeholt werden usw. Hier erreicht das Motiv der triumphierenden Provokation des Verbergers den Gipfel der formalen Brillanz.

Darüber hinaus ist der Wunsch, zu wissen, wie es weiterging, also die Suchreaktion im Passiv, das formale Herzstück jedes Erzählaktes*. Selbst wenn wir den Ausgang der Ereignisfolge kennen, bleiben wir manchmal fast entwürdigend »gespannt«* darauf, durch welche Vorfälle es wohl im einzelnen dazu gekommen sein mag. Deshalb geben uns besonders schlaue Verfasser nicht nur von Kriminalgeschichten von vornherein zu verstehen, daß es da irgendein Geheimnis* gibt, und machen dann immer wieder rätselhafte Andeutungen*, die unsere Neugier bis ins Unerträgliche* steigern können; die erlösende Schlüsselinformation jedoch enthalten sie uns bis zum letzten Augenblick vor*. Und auch sonst will man etwas oft nur deswegen als erster erfahren, um damit andere »auf die Folter«* spannen zu können. Denselben Zweck hat übrigens jenes hinhaltende* und dadurch künstlich dramatisierende Getue, das allerlei Initiationen* vorangeht.

Merkwürdigerweise ist das Opfer dem Verberger für eine solche Behandlung oft sogar dankbar und reagiert auf eine zu frühe Erlösung mit sichtbarer Empörung; offenbar kann die Homokumulativität einer blockierten Suche auch auf der Ortho-Ebene konsummiert werden, und dabei wird besonders deutlich, daß wir in Wirklichkeit nur so tun, als ob wir das Gesuchte sofort finden wollten. All das gilt schon für den Säugling, denn lustvolles Zappeln liegt einem der frühesten Typen von Spielen zwischen Kindern und Erwachsenen* zugrunde. Genaugenommen enthält überhaupt jede halbwegs präzisierte Erwartung* Elemente der Verborgenheitsdramatik, die unsere Existenz inhaltlich und formal bereichern. So möchte man z.B. eine Sehenswürdigkeit erst nach einem längeren* unüberstürzten Anmarsch, dann aber plötzlich* erblicken (daher die bekannten Kunstgriffe der architektonischen Wegführung: »durch eine Enge«*, »um eine Ecke«* usw.). Aus dem gleichen Grund soll ein Geschenk möglichst verpackt* sein, und auch der Striptease* ist um diesen Formgedanken herum aufgebaut.

 

Wie kommt es zur Desinformation als einer besonders eleganten Art des Verbergens. Die Vielfalt der Beispiele. Die hohe Kunst der Lüge. Sonderformen: Null-Wandschirm und Null-Wahrheit. Über die Schwierigkeit, das Opfer zu überzeugen.

Die unmittelbare Ursache der Verborgenheit ist sehr oft eine andere  konkrete oder abstrakte Information, die in die Wahrnehmungslinie gerät und gleichsam wie ein Wandschirm das Dahinterliegende verdeckt. Zieht dieser Wandschirm selber die Aufmerksamkeit an sich, weil er den Betrachter irgendwie motiviert oder weil er alle bekannten Merkmale des Gesuchten aufweist, dann erhält er den Stellenwert einer typischen Desinformation. Die Desinformation ist bisweilen zufällig (objektiv), meist aber subjektiv und vorsätzlich (= indirektes Verstecken durch Vorschieben eines solchen Wandschirms) und hat stets die gleiche Folge: entweder läßt sie überhaupt keine Suchreaktion aufkommen, oder sie lullt sie durch einen Scheinerfolg wieder ein. An sich ist die sich daraus ergebende Unwissenheit* des Opfers als Form ebenfalls nicht neu; hervorzuheben ist lediglich die fast unbegrenzte Freiheit bei der Wahl des Blickfangs und damit bei der Beeinflussung des Verhaltens des Opfers, die seine anhäufungsmäßig optimale Irreführung ermöglicht. Dadurch erlebt das allgemeine Formziel des Versteckens – durch einen im Prinzip denkbar leichten* und einfachen* Eingriff eine (un)heimliche Macht* über den Menschen zu erlangen – wohl seine höchste Verwirklichung, und entsprechend groß ist die Beliebtheit der primär formalen oder nachträglich formalisierten Desinformation.

Auf den Bewirker selbst, auf sein Äußeres, seine Stimme oder sein sonstiges Benehmen bezieht sich z.B. eine physische Verstellung* – so auch die Mimikry*, die Jagd in Tiergestalt* oder die Kriegstarnung* (während eine leicht erkennbare Gesichtsmaske* eher das Motiv des Zappelnlassens* variiert). In unseren Geschichten, besonders älteren, wimmelt es von Personen, die ihre Erscheinung ganz nach Belieben ändern* können; im Zirkus gab es einst spezialisierte Verwandlungskünstler*, und inzwischen hat sich des Themas, wie zu erwarten, der Film bemächtigt. Ähnlich anschaulich ist eine Jagdfalle*: die beiden Elemente des Köders* und der Betätigung durch das Opfer* verleihen dem desinformativen Kontrast eine geradezu paradigmatische Schärfe, und diese Linie läßt sich über das Angeln* bis hin zum Giftmord* verfolgen. Außerdem sind hier noch verschiedene Ablenkungsmanöver* im Sport, im Krieg und in der Taschenspielerkunst zu erwähnen. Die falsche Spur* hingegen bezeichnet schon etwas Abstraktes, nämlich jenen durch die Umstände irregeleiteten Verdacht, der in den meisten Detektivgeschichten für ausreichende Verwicklungen sorgt. Seine nahen Verwandten sind allerlei Mißverständnisse* und Verwechslungen*, ohne die es kaum eine Komödie* geben würde, obwohl sie auch tragisch enden können. Und ganz bewußt herbeigeführt wird dieselbe Wirkung bei einer Verständigung durch unverdächtige Gesten* oder Tierlaute*, in der Gaunersprache* und überhaupt bei jeder Ironie*, Doppelsinn* oder Trugschluß*.

Die meisten abstrakten Desinformationen sind aber zweifellos Kinder der Lüge* und der Heuchelei* als instrumentaler Lebenstechniken und müssen oft derart problematischen Urhebern wie Speichelleckern*, Verleumdern* oder Betrügern* zugeschrieben werden. Dabei zeigt sich, daß ein Erfolg durch List* immer eine unwillkürliche formale Faszination ausstrahlt, sei er inhaltlich noch so verwerflich; er muß also für eine CIF-Konsummation keineswegs mit dem Sieg des positiven Helden zusammenfallen. Die unglaubliche, ja fast schon dämonische Perfektion* in der Kunst der falschen Auskunft ist übrigens wieder ein Lieblingsthema der klassischen europäischen Literatur, und die sie begleitende moralische Entrüstung, falls vorhanden, ist als Grund viel zu schwach für eine so auffällige Schwerpunktbildung.

Eine Sonderform des Wandschirms ist die Null-Information: »da gibt es offenbar nichts, denn sonst würdest du als Opfer irgendetwas bemerken«. Manchmal erfordert die dazu notwendige Geheimhaltung seiner Gedanken und Gefühle (poker face*) vom Desinformator große Selbstbeherrschung*, was ihren formalen Reiz zusätzlich erhöht. (Eine verspielte Zuspitzung des gleichen Problems auf einer anderen Ebene finden wir z.B. beim Bauchredner*.) Psychologisch leichter ist diese Art der Bewirkung, wenn nur ein wichtiges Detail verschwiegen werden soll, typischerweise, um den unzutreffenden Eindruck der Einfachheit* einer anderen Bewirkung zu erwecken und damit das Opfer »aufs Glatteis« zu führen. Aus dem instrumentalen Bereich kommen hinzu erfolgreiches Leugnen* bzw. Unschuldsmiene* und die meisten Varianten des Tiefstapelns* (sich arm*, dumm*, schwach* oder tot* stellen, Inkognito* usw.).

Gerade umgekehrt liegt der Fall beim Vorgaukeln* von Dingen, hinter denen gar nichts steckt (= Verbergen einer Null-Wahrheit), wodurch der Desinformator gegenstandslose Erwartungen* und Handlungen* auslösen will. Hier kommt der Tatbestand der Desinformation vielleicht am reinsten zum Ausdruck, oft mit ausgesprochen komischer Absicht. So gibt es eine ganze Menge von Spielen, bei denen es jemanden durch einen falschen Alarm* hereinzulegen gilt – berühmtestes Beispiel: Aprilscherze*. Gewissermaßen reflektiert wird das Thema der Verborgenheit bei einer fingierten Versteckaktion*, die zu einer verzweifelten Suche* führt. Ähnliche Effekte lassen sich durch das Vorlegen einer auf den ersten Blick schrecklich komplizierten*, in Wirklichkeit aber ganz leichten Aufgabe erzielen. Im weiteren Sinne gehört hierher jede Illusion (auch z.B. die Fata Morgana*) oder Illusionismus (Varietézauber*, Trompe-l’oeil-Malerei* als Wahrheit und Anekdote, Wachsfigurenkabinette*, Doppelgänger*, Hochstapler* usw.). Und schließlich wäre in diesem Zusammenhang noch die Imitation* eines kostbaren Materials zu nennen, besonders wenn sie zu einem bösen Reinfall* führt, und in ihrer Verlängerung das Fälschen* von Geld oder Kunstwerken mit seiner wohlbekannten »sportlichen« Konnotation.

Natürlich ist eine subjektive Desinformation gewagt* wie jedes Verstecken. Man versucht dabei, eine künstlich aufgestellte Fiktion als Realität zu verkaufen; um das Opfer zu überzeugen und es für den Aufsitzer reif zu machen, muß man offenbar diesen Schein der Wirklichkeit »täuschend«* ähnlich zu gestalten wissen, und das impliziert – obwohl auf die Illusion der Mühelosigkeit* hier wie allenthalben großer Wert gelegt wird – eine in Wahrheit oft äußerst schwierige* (aber ebendeswegen wieder Gleiches anhäufende) exakte Wiederholung* gewisser Erfahrungsbilder. Umso mehr gilt das, wenn das Opfer grundsätzlich mit einer Desinformation rechnet und sich bei dem leisesten Verdacht den Sachverhalt mit allem gebotenen Mißtrauen zu klären anschickt. Die Mehrzahl der Fälle einer solchen »Echtheitsneurose« ist zwar primär inhaltlich begründet, doch zugleich sind die um eine Desinformation herum entbrennenden asymmetrischen Wettkämpfe* im Verstecken-und-Suchen (oder sogar symmetrische* bzw. mehrstöckige* Wettkämpfe im gegenseitigen Überlisten*) stets auch formal ausgezeichnet, von der gerichtlichen Überführung des Verbrechers* bis zur ganz privaten Entlarvung* oder erfolgreichen Verteidigung* einer Lüge. Noch deutlicher wird die CIF-Komponente beim Poker* und ähnlichen Spielen, wo man laut Regel nach Herzenslust angeben darf, wenn nicht sogar muß, was aber jederzeit in die Hosen gehen kann* – im Unterschied vom Schwindeln gegen die Regel* als einfachem, obwohl unter Umständen nicht weniger formintensivem heimlichem Agieren.

 

Was für Erfindungen sind Jagdfallen oder Mechanismen. Erkenntnis als Prozeß – eine typische Suche. Die Theorie des Homokumulats erklärt auch sich selbst. Doch das ist noch nicht der gewünschte Funktionalitätsbeweis.

Auf welche Weise sollte nun die durch ein Verborgenes ausgelöste Aktivität zu formal-homokumulierenden Erfindungen führen? Unter den physischen Bewirkungen finde ich keinen besonders überzeugenden Kandidaten für einen solchen Status. Zwar liegt bei den meisten Arten von Jagdfallen die Funktionalitätsschwelle ziemlich hoch, und als einen Weg hinauf zu ihr könnte man sich leicht ein längeres rein formal motiviertes Herumspielen mit diesen versteckten* und gut getarnten* und dann plötzlich* zuschnappenden Fangvorrichtungen* vorstellen. Oder man könnte darauf hinweisen, daß das griechische Wort »mechane« unter anderem »List« bedeutete und daß einige Grundtypen von Mechanismen eigens für Spielzeugautomaten entwickelt wurden, offenbar aus Lust an einer verborgenen* und deshalb rätselhaften* Bewirkung, die den Betrachter gleichsam zappeln* ließ. Allerdings: waren das auch wirklich die einzigen, unumgänglichen Anmarschrouten?

Aber vielleicht kann ich hier doch noch eine bessere Karte ausspielen. Dazu müssen zunächst einmal ein paar Worte über die Erkenntnis als Prozeß gesagt werden. (Der Begriff soll vor allem den Gegensatz zur Erkenntnis als Besitz hervorheben.) Selbstverständlich spielen bei dieser und jener Erscheinungsform der Erkenntnis inhaltlich-instrumentale Motive eine sehr große Rolle, doch das ist schon eine bewußt vorsichtige Formulierung, weil z.B. die alten Griechen, die mit ihrer Philosophie die – an sich zwar seit jeher vorkommende – Erkenntnis als Prozeß kulturell legalisiert haben, ziemlich vehement auf ihrer Zweckfreiheit bestanden: sie soll um ihrer selbst willen betrieben werden und den Menschen intrinsisch befriedigen (was sie zweifellos kann). Man wird wohl wenig dagegen haben, wenn ich dieses Postulat als eine frühe Umschreibung des Formverhaltens interpretiere. Freilich wird man dabei aber vor allem an die Neugier denken.

Sicher habe auch ich nicht die Absicht, jede Beteiligung dieses traditionellen Motivs zu bestreiten; ich glaube jedoch, daß sie das Phänomen bei weitem nicht erschöpft. Man erkennt das leicht, wenn man sich fragt, wie man eigentlich Erkenntnis als Bewirkung verstehen soll. Auf den ersten Blick werden dabei zwar tatsächlich einfach neue Erklärungen aufgestellt, d.h. Sätze gebildet. Doch geschieht das immer schon auf dem Hintergrund eines empirischen, systematischen, intuitiven usw. Vorwissens über den zu erklärenden Sachverhalt, und die Erklärung muß mit den jeweils für relevant gehaltenen Teilen dieses Vorwissens gut übereinstimmen, denn sonst wird sie rasch verworfen. Das heißt aber, daß man dabei nicht schlechtweg irgendwelche Sätze bilden kann, es müssen schon die »richtigen« sein, und diese gilt es zuerst in dem kaum überschaubaren Dickicht der Sprachmöglichkeiten zu finden wie die sprichwörtliche Nadel im Heu. Die Bewirkungshandlung der Erkenntnis ist demzufolge eine typische Suche – man vergleiche nur ihre Terminologie: unter-suchen, er-forschen, ent-decken usw. – und die Wahrheit wird vom Menschen seit jeher als etwas Verborgenes erlebt.

Damit sind wir aber wieder am Anfang dieses Kapitels, wo die Homokumulativität einer solchen Suche bereits ausführlich analysiert worden ist. Deshalb wollen wir hier keine Einzelheiten wiederholen, sondern nur nochmals unterstreichen, erstens, daß der Spielraum der Neuheit bei einer neuen Erklärung durch das Prinzip der Kongruenz mit dem Vorwissen zwangsläufig stark eingeengt wird, und zweitens, daß man mit dem Begriff der Neuheit nicht die charakteristische Stimmung einer Erklärungsbemühung einfangen kann, nämlich jenes verzweifelte* Tasten nach Sätzen, die einem »auf der Zunge liegen« und doch zunächst unaussprechlich bleiben, die still wachsende Leidenschaft* und dann, vielleicht, den großen Augenblick des subjektiven Triumphes*. Nein, das ist ein völlig anderes Formerlebnis; die Erkenntnis als Prozeß enthält zwar gewiß eine hohe formale Belohnung, aber dabei handelt es sich in erster Linie um eine Belohnung unserer Homokumulativitätsgier.

Nebenbei sei bemerkt, daß all das auch für die vorliegende Untersuchung gilt: wenn bei jeder Erkenntnis als Bewirkung Homokumulativität anfällt, dann kann es bei der Aufstellung einer Theorie über ebendiesen Vorgang* nicht viel anders gewesen sein. Eine solche Theorie ist demnach nicht nur eine Meta-Theorie über andere Theorien, sondern zugleich auch eine Theorie über sich selbst, also ein Stück Selbsterkenntnis. Und natürlich umgekehrt – sie müßte ein gutes Beispiel für sich selbst abgeben.

Was den letzten Punkt betrifft, kann ich bestätigen, daß ich die Form, die ich in der Theorie des Homokumulats beschreibe, bei der Aufstellung dieser Theorie ausgiebig wahrgenommen und konsummiert habe; die Jagd auf den Homokumulativitätsjäger war äußerst homokumulativ, und der Jagende war sicher einer der Gejagten. Das dürfte auch ein wahres Glück für die Theorie gewesen sein, denn ich glaube, daß die vagen instrumentalen Hoffnungen, die ich mit ihr verband (und es waren in meinem Fall tatsächlich all die Jahre reine Zukunftshoffnungen), nicht ausgereicht hätten, um sich entgegen jeder Vernunft in ein solches Abenteuer zu stürzen, gäbe es da nicht die überwältigende und reich beschenkende Absorption* einer fast schon megalomanischen Suchpartie*, zunächst nach einem zeitlebens geahnten archimedischen Punkt und dann nach seinen weitverzweigten Folgen, die eine freie Entscheidung überhaupt nicht zuließ.

Die Theorie des Homokumulats kann also ruhig genannt werden, wenn es die ersten zwei Stufen der Funktionalität der Homokumulativitätsgier durch Fälle aus dem Bereich der Erkenntnis zu illustrieren gilt: dieses Motiv spielt bei der Generalisierung des theoretischen Interesses eine ebenso wichtige Rolle wie bei praktischen Erfahrungen vom Typ einer Ortsveränderung oder Objektveränderung. Aber das ist uns zuwenig, denn wir brauchen Beweise auf der dritten Funktionalitätsstufe, und hier macht sich eine wichtige Eigentümlichkeit der Erkenntnis bemerkbar. Genaugenommen bedeutet zwar jede neue Erklärung eine Er-findung, doch besitzen solche Erfindungen insgesamt eher selten technologische Relevanz; die Technologie entwickelte sich lange fern von theoretischer Durchdringung, als ein Monopol der Praktiker, und die Erklärungen dienten einem rein ideologischen Zweck. Die Ideologie ist jedoch ein einziges endloses Reich der arbiträren Funktionalität, in dem sich unglaublich verschiedene Lösungen gleich gut bewähren, und deshalb für unsere Beweisführung ungeeignet.

Die Fähigkeit, technologische Entwicklungen voranzutreiben, ist einer ganz speziellen, klar unterscheidbaren Art der Erkenntnis vorbehalten, die man als »Wissenschaft« im strengsten, paradigmatischsten Sinne des Wortes einstufen kann. Und eine solche Erkenntnis ist begrenzt auf höchstens zwei Zeitalter: den Hellenismus und die europäische Neuzeit.

 

Die Reichhaltigkeit der Form bei strenger Wissenschaft: Präzision, Ausdehnung, Tiefe usw. Wissenschaft als multipler Extremalisierungsprozeß. Was wissen wir über ihre ursprünglichen Beweggründe. Also dennoch formal-homokumulierende Erfindungen. Und wie ist es heute? Irrationalismus und Agnostizismus.

Zu den Besonderheiten dieser musterhaften Wissenschaft gehören sicher die ausgeklügelten Methoden und die rücksichtslose Strenge der sogenannten intersubjektiven Überprüfung des Einklangs mit dem Vor- und Nachwissen (»Experiment«). Die überraschende Folge ist jedoch eine noch viel reichhaltigere Homokumulativität der Form, die die zweckfreie Faszination der Suche nach einer orthodox wissenschaftlichen Erklärung entsprechend erhöht. Zunächst sind derartige Hypothesen so konstruiert, daß sie sich möglichst leicht widerlegen lassen, wodurch ihre Aufstellung um ein Vielfaches schwieriger* und riskanter* und schon deshalb formal interessanter wird als in der sonstigen Erkenntnis – dramatische Entthronungen* sind hier bekanntlich an der Tagesordnung. Oft kann die Auswahl so weit eingeengt werden, daß nur noch eine Erklärung übrigbleibt; das macht neben dem Kampf mit der Materie noch einen zweiten, nämlich den Parallelwettkampf* um die (generische) Erstbewirkung* sinnvoll, und in der Tat spielen Prioritätsstreitigkeiten in der Wissenschaft eine weit größere Rolle als z.B. in der Philosophie, wo es für jedes Phänomen viele gleichwertige Erklärungen gibt. Doch meistens wird die endgültige Form einer halbwegs disziplinierten Hypothese nicht durch einen Kraftakt erreicht, sondern durch etliche kleinere Annäherungsschritte, was wiederum den Aspekt der Präzision*, also der Exaktheit* der Übereinstimmung mit den feinsten Einzelheiten unseres Vorwissens in den Vordergrund rückt. Eine solche Annäherung ergibt übrigens eine typische Extremalisierungslinie*, bei der dieselbe Grunderklärung von Fassung zu Fassung an Homokumulativität zunimmt.

Und diese Linie ist nicht die einzige, denn genau das gleiche gilt auch für die »Ausdehnung« des radikal wissenschaftlichen Wissens. Während nämlich anderen Arten der Erkenntnis von vornherein Globalität* gegeben ist, muß die exakte Wissenschaft um jeden Meter Boden kämpfen; in dieser Hinsicht ist ihr also z.B. die Philosophie eindeutig formal überlegen, doch kann sie das durch den Reiz jener allmählichen Kumulation* der Erkenntnis wettmachen, mit der in der Philosophie nicht sehr viel los ist. Dabei geht es zunächst einmal um eine Steigerung der Menge* der erklärten Tatsachen, der Breite* des erfaßten Weltausschnitts und der Vollständigkeit* (Lückenlosigkeit) der Erklärung innerhalb dieses Ausschnitts. Problematischer wird es allerdings, wenn das Kriterium der Tiefe* der Erkenntnis angewendet werden soll. Der Begriff ist eher emotional-wertend intoniert und steht im Ruf einer losen, leicht zu mißbrauchenden Metapher, doch kann man ihm trotzdem nicht den Verdienst absprechen, daß er den Bewirkungsakt der Suche besonders plastisch hervorkehrt und ihn durch die Vorstellung von vielen untereinander verborgenen Schichten* der Wahrheit, durch die es sich bis zum »innersten Kern«*, »letzten Grund«* oder »ersten Prinzip«* durchzubuddeln gilt, um eine weitere Extremalisierungsmöglichkeit bereichert. Vermutlich hat er sogar einen Großteil seiner unausrottbaren Beliebtheit seiner formalen Prägnanz zu verdanken.

Rationaler wäre es aber sicher, von der logischen Hierarchie der Erklärungssätze zu sprechen, die über den Homokumulativitätsgrad des einzelnen Satzes mit entscheidet. Je höher er nämlich in dieser Hierarchie steht, desto weiter* erstreckt sich sein Geltungsbereich, desto mehrere* Konsequenzen hat er (desto beträchtlicher ist unter anderem auch seine Chance, daß er scheinbar völlig unverwandte Sachverhalte untereinander in Beziehung bringen wird, mit entsprechendem Erwartungskontrast*) – vor allem aber: desto größer* ist die Wirkung je Einheit der Erklärung, desto minimaler* also die Bewirkungshandlung (und demzufolge steht »Tiefe« eigentlich für Bewirkungseffizienz*). Bei dem bekannten Ideal der Ökonomie der Erkenntnis wird all das zwar rein inhaltlich begründet, doch ist eine ökonomische Erklärung zwangsläufig zugleich auch »elegant«*, d.h. auf eine formal-verspielte Art reizvoll.

Mit einem Wort, die exakte Wissenschaft ist ihrer Form nach ein sehr einladendes Unternehmen, und jeder, der sich diesem Unternehmen verschreibt, träumt am Anfang davon, daß er seine Konkurrenten in der Präzision, Ausdehnung, Tiefe usw. seiner Hypothesen weit übertrumpfen* wird. Zwar können wenige etwas von diesem Traum verwirklichen, aber aus der Vogelperspektive ergibt der wissenschaftliche Erkenntnisprozeß trotzdem das Bild einer gigantischen Extremalisierungsbewegung* mit vielen Gesichtern.

Nun läßt sich gewiß auch eine technologisch relevante theoretische Entdeckung manchmal sofort zu irgendeinem praktischen Zweck verwenden, doch als typisch gilt eher der umgekehrte Fall einer weit entfernten Nützlichkeit und eines langen Aufstiegs zur Funktionalitätsschwelle; und diese Schwelle ist erfahrungsgemäß sehr oft von unten unsichtbar, d.h. bei vielen solchen Entdeckungen hat sich der Mensch ganz konkret als unfähig erwiesen, ihren Nutzen im voraus zu erahnen. An sich ist das zweifellos die richtige Situation für formal-homokumulierende Erfindungen, nur reicht die geschilderte Art der Ahnungslosigkeit hier nicht aus für einen einwandfreien Nachweis ihrer Existenz, weil für die beiden Epochen der Wissenschaft zumindest grundsätzlich auch schon eine inhaltlich-instrumental motivierte Verallgemeinerung des Erklärungsinteresses (»man kann nie wissen…«) in Betracht kommt. Doch zugleich bringt das relativ junge Alter der durch die Theorie möglich gewordenen technologischen Durchbrüche den Vorteil mit sich, daß wir verhältnismäßig viel erfahren können über die wirklichen Beweggründe, aus denen die erklärende Vorarbeit zu solchen Durchbrüchen geleistet wurde, und zwar nicht selten aus erster Hand, so daß jener Mangel an Tatsachen, über den wir uns eingangs beklagt haben, hier am deutlichsten wegfällt. Und aus den Zeugenaussagen geht unmißverständlich hervor, daß das Schlagwort von der Zweckfreiheit selbst dort, wo sich schon sehr früh die Gelegenheit für einen guten Dienst ergab, eine mächtige Realität beschreibt.

In Abwesenheit des Anwendungsgedankens läßt sich aber die oft bemerkte Leidenschaftlichkeit, mit der dieses größte Suchunternehmen* in der Geschichte der Menschheit betrieben wurde, lediglich durch das unmittelbar Belohnende der dabei anfallenden Form erklären. Zumal in den Augen der spöttisch-neidischen Beobachter wurde die Figur des Wissenschaftlers zu einer klassischen Verkörperung des »unpraktischen« und »weltfremden« Menschen, der nur noch wie ein Süchtiger seinem heureka*, d.h. der orgiastischen Entladung der beim Suchakt aufgestauten Intension entgegenfiebert. Und das heißt wiederum, daß von den unzähligen Erfindungen, für die die strenge Wissenschaft den Grundstein gelegt hat, viele, auch wenn sie an sich nicht unbedingt hätten formal-homokumulierende Erfindungen sein müssen, in Wirklichkeit dennoch, ähnlich wie die Metallurgie, über weite Strecken solche gewesen sind. Konkrete Beispiele dafür kann sich jedermann selbst aussuchen, in den Naturwissenschaften oder auch in der Mathematik – jenem ältesten Wissenschaftszweig, der interessanterweise in der Zahl die reine, inhaltsentleerte Form und innerhalb dieser ausgerechnet das Homokumulat thematisiert, sich zunächst zu einem mehr oder weniger freischwebenden Denksport* mit oft nirgendwo anwendbaren Problemlösungen* entwickelt und erst viel später der gesamten Erkenntnis das Werkzeug der letzten Exaktheit schenkt.

Und wo stehen wir heute? Um die Generalisierung des Erklärungsinteresses brauchen wir uns natürlich nicht mehr zu sorgen, weil man inzwischen (fast) mit jeder noch so esoterischen Art der Hypothesenproduktion Geld verdienen und Karriere machen kann und weil schon allein die harte Konkurrenz zwischen den Wissenschaftlern für eine rasche Besetzung aller erkennbaren Nischen bürgt. Doch merkwürdigerweise hält die Wissenschaftstheorie nicht sehr viel von dieser neuesten Entwicklung; für sie zählen nach wie vor, ähnlich wie z.B. für die moderne Funktionalitätstheorie des Spiels, nur die intrinsischen, zweckfreien Motive der Erkenntnis. In dem Sinne umweht also selbst jene technologischen Neuerungen, zu denen uns die gegenwärtige Grundlagenforschung for better or worse führen wird, noch ein letzter Hauch von formal-homokumulierenden Erfindungen.

Es soll aber hier nicht unerwähnt bleiben, daß nach unseren Prämissen auch der umgekehrte Fall, nämlich die Unerklärlichkeit eines Sachverhalts, der alle Möchtegern-Erkenner zappeln* läßt, als Form ähnlich interessant sein kann wie der Vorgang seiner Erklärung, und deshalb ist es leicht möglich, daß die vielbedauerte Hartnäckigkeit des Irrationalismus und des Agnostizismus ebenfalls nicht nur auf inhaltliche Motive zurückzuführen ist, sondern daß bei solchen Haltungen außerdem auch noch ein CIF-Beweggrund seine Hände im Spiel hat, nämlich wieder unsere Homokumulativitätsgier. Dabei dient das allgemeine Leistungsniveau der Erkenntnis als ein sehr natürliches indirektes Maß für die Intensität* des Widerstandes eines Phänomens, an dem sich unser Verstand die Zähne ausbeißt, und die logische Folge ist eine gleichlaufende Steigerung: je erfolgreicher im Durchschnitt unsere Erklärungsbemühungen, desto größer wird die Anziehungskraft der verbleibenden »Rätsel«*, die immer mehr in die Rolle eines sympathischen David* hineinwachsen, gegen den der Goliath der modernen Wissenschaft nichts ausrichten kann. Aus der Perspektive des Homokumulativitätsjägers muß man also dem Irrationalismus und dem Agnostizismus eine große Zukunft prophezeien.

 

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