Level 4 (Grundtext)
Große Bewirkungssysteme
Wo beginnen die eigentlichen Bewirkungswunder. Das Schicksal der Technik als Form. Die Versuchung durch den Knopfdruck. Das Auto als das Spielzeug des Jahrhunderts.
Abrunden werden wir unsere formale Analyse der Bewirkung durch einen kurzen Blick aus einem ganz anderen Winkel, nämlich aus der Perspektive jener gewaltigen Systeme von griffbereiten Mitteln und Methoden, die von den Kulturen zwar vor allem deshalb entwickelt werden, damit sie ihnen verschiedene inhaltlich erwünschte Bewirkungen erleichtern, zugleich aber unvermeidlich auch das Formverhalten berühren.
Wie wir uns überzeugen konnten, stellt eine Bewirkung ohne große Hilfsmittel im unprivilegierten Normalfall ziemlich hohe physische oder psychische Anforderungen an den Bewirker und bleibt trotzdem in ihrer Reichweite deutlich begrenzt. Durch den Einsatz dieser riesigen instrumentalen Potentiale werden nun viele solche Schranken aufgehoben: weil sie statt uns die Schwerarbeit erledigen, kann unsere Bewirkungshandlung unglaublich minimal* ausfallen – vor allem auch, was unsere Kompetenz ohne derartige Hilfsmittel betrifft –, und doch lassen sich damit nicht nur bei schon gesehenen Wirkungen sonst unvorstellbare Extremwerte* erreichen, es werden auch neue, bis dahin für unmöglich gehaltene Wirkungen möglich, mit entsprechendem Erwartungskontrast*. Kurzum, mit den großen Bewirkungssystemen betreten wir das Reich der eigentlichen Bewirkungswunder, und das Wunderliche daran ist eindeutig der Grad der Anhäufung von Gleichem, was unserer Homokumulativitätsgier einfach nicht entgehen kann.
Dem heutigen Menschen kommt unter diesen Systemen als erste wahrscheinlich die moderne Technik in den Sinn, die den Bereich des Machbaren so stark erweiterte, daß sie naiveren Gemütern vielfach geradezu allmächtig erschien (oder noch immer erscheint). Daß zu ihrer Bewunderung nicht unbedingt ein inhaltlich-instrumentales Motiv notwendig ist, ist an sich wohlbekannt; einige Formalisierungen bzw. reine Spielereien – für Kinder und vielleicht noch mehr für Erwachsene – haben wir schon nebenbei erwähnt. Freilich verliert der Erwartungskontrast dort, wo die Unmöglichkeit einer Bewirkung gar nicht mehr konkret erlebt werden kann, seinen Beziehungspunkt, und deshalb bleibt die CIF-Faszination von technischen Errungenschaften oft auf eine Generation beschränkt. So können wir heute kaum noch das ursprüngliche Staunen über die mechanische Reproduktion von Bild und Ton (Foto*, Film*, Schallplatte* usw.) nachvollziehen; ja sogar das Fliegen* – die Verwirklichung eines uralten Traums der Menschheit, in dem sich inhaltliche Motive unlösbar mit formalen vermischt haben dürften – ist für uns fast schon eine Selbstverständlichkeit, der man nur noch durch einen zusätzlichen Nervenkitzel einen nennenswerten Reiz abgewinnen kann (sportliche Wettkämpfe*, Rekorde* der Geschwindigkeit*, Höhe*, Weite*, Dauer* usw., Fliegen ohne Motorantrieb* wie z.B. mit Ballonen*, Segelflugzeugen* oder neuerdings mit Flugdrachen*), und vielleicht ergeht es der Raumfahrt* morgen oder übermorgen nicht viel anders. Unerschütterlich ist dieser Kontrast höchstens bei jenen glitzernden Phantasien, in denen unser Science-Fiction-Märchen* das Motiv der Allmacht der Technik auf eine kaum anders als spielerisch zu genießende Formel bringt.
Doch bleibt uns immer noch der sichere Formgrund der Leistungssteigerung: die Intensität* oder Extensität* der Wirkung einer modernen Maschine* begeistert nach wie vor auch außerhalb des Nützlichkeitskontexts und macht in den Augen der nüchternen Praktiker oft aus Erwachsenen Kinder. Dabei verdichtet sich die Versuchung vor allem in jenem Knopfdruck*, den wir hier als Symbol für alle Arten der für die Technik so typischen Ingangsetzung eines Geräts verstehen wollen. Der Knopfdruck ist ein wahrer Triumph der Homokumulativität – ein äußerst geringer* und scharf konturierter* Auslösungsakt* (seine lange Vorgeschichte wird natürlich übersehen), der aber durch eingeschobene Zwischenverstärkungen beliebig große Effekte* zeitigen kann, unter anderem auch im Sinne des Weiterlaufens* einer Maschine bis zu ihrer Abschaltung* oder der räumlichen Fortpflanzung* der Wirkung von einem zum anderen Element eines vielteiligen* Mechanismus. (Allerdings gibt es neben der Freude an der sichtbaren Transmission* auch die Lust zu versteckter* Übertragung des Knopfdrucks, der an den entferntesten* und überraschendsten Stellen Veränderungen hervorrufen soll.)
Die klassische Fundstelle der Formalisierung des Knopfdrucks ist wohl die Lenkung* bei verschiedensten Arten der motorisierten Ortsveränderung – denken wir nur an die ersten Berufswünsche* des heutigen Kindes –, insbesondere aber beim Auto*, in dem man ungeachtet seiner Zweckmäßigkeit das Spielzeug des Jahrhunderts erblicken muß, und zwar ganz unverkennbar ein Homokumulationsspielzeug. Zu den Umständen, die eine Autofahrt in ein Formfest verwandeln, gehören die Exaktheit*, mit der sich dabei komplizierte kinetische Vorstellungen verwirklichen lassen; die Geschwindigkeit*, vor allem wenn sie körperlich erlebt werden kann, z.B. durch den Beschleunigungsdruck* oder den Gegenwind* (deshalb kaprizieren sich unentwegte Homokumulativitätsjäger auf offene Wagen* oder noch besser Motorräder*); ferner die Atmosphäre des Wettkampfes*, vom einfachsten Überholmanöver* bis zu allerlei Autorennen*; und das Risiko*, das bei einer solchen Forcierung in Kauf genommen werden muß, ist gerade der richtige Pfeffer für diese Suppe.
Homokumulativitätsgier und Macht. Der Befehl als Anhäufung. Über die Dressur von Tier und Mensch. Glücksspiel um Geld – ein Idiotismus? Aber durch den formalen Gewinn werden hohe materielle Verluste aufgewogen.
Ein ähnliches, nur viel älteres Bewirkungssystem bilden Befehle und Verbote, wie sie bei bestimmten Machtverhältnissen möglich werden. Ein Befehl ist das genaue Gegenstück des Knopfdrucks und damit gleichfalls eine formal besonders ausgezeichnete Art der Bewirkung. Charakteristische Aspekte der Anhäufung von Gleichem sind in seinem Fall die bis zum Exzeß getriebene Reduktion* der Bewirkungshandlung, die sich auf ein knappes Wort* oder einen Wink* beschränken soll, die Unverzüglichkeit* und Exaktheit* des Parierens, die dabei verlangt wird, aber auch der sichtbare oder nacherlebbare Widerstand* des Adressaten als ein indirektes Maß für die Aufdringlichkeit* einer solchen Intervention. All das macht auch hier die Existenz eines formal motivierten Verhaltensüberschusses wahrscheinlich, und dafür gibt es in der Tat hinlänglich viele Beispiele.
Bloße Schaunummern sind heute unter anderem die meisten Akte der Tierdressur*, die es bei zahmen Tieren, vor allem Pferden, zu richtigen Exaktheitswettkämpfen* bringt und bei wilden durch das hohe Risiko* für die an sich unansehnlichen Leistungen entschädigt, in beiden Fällen aber den typischen Erwartungskontrast der Widernatürlichkeit* aktualisiert. Eine ähnliche Spielerei mit den Grenzen des Möglichen* ist, bei allen Instrumentalitätsbeteuerungen, die Suggestion* unter Hypnose* (vielleicht gar mit wochenlang aufgeschobener* Ausführung des Befehls = Wirkung auf zeitliche Entfernung*). Aber auch bei wirklich inhaltlich begründeten Befehlshandlungen entdeckt man oft einen derartigen Überschuß: deutlich zu erkennen ist er z.B. beim militärischen – und nicht nur militärischen – Verhaltensmodell als ein infantiler Zackigkeitskult* und ein mehr oder weniger zweckloser (zweckfreier) Drill*.
Möglicherweise ist der Reiz der Form beim Befehl sogar überhaupt unentrinnbar; sicher spielt er bei jeder Art der sozialen Führung* eine gewisse Rolle, schon wegen des physischen Ausmaßes* und der schicksalsmäßigen Intensität* der Folgen ihrer Entscheidungen, auf deren hartnäckiger Bewunderung bis heute alle naive Geschichtsschreibung* beruht, und desgleichen findet man in Einzelbeziehungen bei genauerem Hinsehen kaum einen Befehl, der völlig frei wäre vom Verdacht einer formalen Nebenbefriedigung (zusätzlich zur Rangbestätigung). Dabei muß man unter anderem beachten, daß sich Befehle und Verbote vorzüglich für existentielle Destruktion eignen, denn man kann mit ihnen z.B. jemandem den Weg zu etwas Heißersehntem versperren*, ihn zu demütigenden Handlungen zwingen* oder ihn sonstwie schikanieren und quälen*, und diese Art des Sadismus ist nach unserem Dafürhalten ebenfalls zumindest zum Teil formal motiviert. Persönlich glaube ich sogar, daß die sogenannte strenge Zucht*, angeblich von irgendeinem brutalen Gott angeordnet, in neunundneunzig von hundert Fällen vor allem den Zweck verfolgt, den Züchtern eine möglichst häufige CIF-Konsummation zu bescheren.
Nach alledem ist auch die Homokumulativitätsgier eine Strähne im Geflecht jener Motive, die die Herrschaft über den Mitmenschen so wünschenswert erscheinen lassen, daß sie den einzelnen oft mit einem schier unersättlichen Machthunger erfüllen – und zwar eine Strähne, die hauptsächlich den ungerechtfertigten Machtmißbrauch vermehrt. Auf dieses Thema kommen wir übrigens noch in einem anderen Zusammenhang zurück.
Und schließlich basiert der dritte Bewirkungskomplex, den wir hier anschneiden wollen, auf der Kraft des Geldes, bestimmte Leistungen zu erzwingen, wobei die Bezahlung wiederum stark an den Befehl und den Knopfdruck erinnert. Doch wird uns dabei nicht so sehr das Moment der Formorgie z.B. an jedem Einkaufen* interessieren, sondern vor allem das seltsame Sekundärphänomen des Glücksspiels um Geld. Diese generisch verbreitete und oft zu einer richtigen Sucht gesteigerte »Unsitte« stellt den analytischen Betrachter des menschlichen Verhaltens bekanntlich vor große Probleme. Wenn ein aus den Einsätzen der Teilnehmer gebildeter Fonds durch einen Zufallsgenerator immer wieder mehr oder weniger ungleichmäßig umverteilt wird, ist der langfristige Gewinn für den gewöhnlichen Teilnehmer bestenfalls gleich Null, doch sorgen Spielveranstalter und/oder Betrüger dafür, daß es ihm in aller Regel noch viel schlimmer ergeht; und um das zu erkennen, braucht man keine Wahrscheinlichkeitsrechnung zu bemühen, denn man weiß es schon nach einigen Versuchen ganz genau aus der anschaulichen Erfahrung des Verlustes. Warum läßt man also nicht die Finger davon? Ist man als Glücksspieler unvermeidlich ein sogenannter egozentrischer Optimist, d.h. ein unverbesserlich von sich selbst eingenommener Trottel, der sich für die große Ausnahme hält?
Die Theorie des Homokumulats versetzt uns da in die Lage, einen anderen Erklärungsweg einzuschlagen. Das Hasardieren erweckt nicht nur die Hoffnung auf den materiellen Vorteil, es ergibt auch eine äußerst ansprechende Form, nämlich eine vielgestaltige Anhäufung von Gleichem. Das Wesen des Glücksspiels besteht offenbar darin, daß man für wenig* Geld viel* Geld erwerben kann – je stärker die Ungleichmäßigkeit der Umverteilung, desto krasser* wird dieses eklatante Mißverhältnis zwischen Ausgabe und Vergütung, das so deutlich all unserer Lebenserfahrung widerspricht*; und dabei ist die Beteiligungshandlung, die einen solchen Effekt hervorruft, denkbar minimal. Schon allein das ist Bewirkungseffizienz* in einer Vollendung, die selbst den Knopfdruck und den Befehl in den Schatten stellt. Natürlich kann das ganze leicht schiefgehen, aber formal gesehen ist auch das finanzielle Risiko* eine Bereicherung, weil der Sieg über die eigene Angst ums Geld, der jeder Glücksspielbeteiligung vorangehen muß, auf die Homokumulativität dieser Bewirkung ein zusätzliches indirektes* Licht wirft, und zwar voraussichtlich ein ganz entscheidendes, da Kindern, die ein solches Wagnis noch nicht richtig begreifen können, die Sache nicht halb soviel Spaß macht.
Konsequent zu Ende gedacht bedeutet das: je schlimmer*, desto besser – und in der Tat sucht der Homokumulationssüchtige bewußt oder unbewußt hohe Einsätze*, niedrige Gewinnchancen*, lange Serien* von Mißerfolgen und den Rand des totalen Ruins* (während wir Kompromißler eher danach trachten, sich möglichst billig das Recht auf ein vorsichtiges Beschnuppern dieser gefährlichen Formwelt zu erkaufen). Weiter sind viele Glücksspiele (scheinbare) Wettkämpfe*; ihnen entstammt das Paradigma des Nullsummenspiels mit seinen scharfen Kontrasten* zwischen Gewinnern und Verlierern. Und zu guter Letzt müssen noch die mit dem Risiko verbundenen Zeitformen erwähnt werden, zunächst die Steigerung der Spannung* beim Warten auf die nahende Entscheidung des Zufallsgenerators und dann ihr plötzlicher* Abfall.
Zusammenfassend dürfen wir also feststellen, daß man die finanzielle Bilanz von der übergeordneten Bilanz aller Belohnungen und Strafen beim Glücksspiel unterscheiden muß, wobei die letztere wegen des Formgewinns auch bei hohen materiellen Verlusten ein Plus aufweisen kann. Als Homokumulativitätsjäger bekommt man dabei doch ziemlich viel für sein Geld, und das ist meiner Meinung nach der verborgene Grund, der das Hasardieren – samt seinen optimistischen Selbsttäuschungen – intelligibel macht: es handelt sich einfach um eine weitere negative Auswirkung der Homokumulativitätsgier des Menschen.
Das Rätsel des Glaubens an übernatürliche Kräfte. Sie führen zweifellos zu einer aufregenden Form der Bewirkung. Warum wird überhaupt Phantastisches für wahr gehalten. Der biologische Unsinn solcher Hirngespinste. Benachbarte Beispiele für Formverhalten: Märchen, Salonmagie, Parapsychologie.
Neben diesen profanen gibt es allerdings noch ein völlig anders geartetes großes System von Hilfsmitteln, nämlich die übernatürlichen Kräfte der Magie und der Religion, die bestimmten Klassen von Bewirkern zur Verfügung stehen sollen. Dem Ungläubigen kommt die Annahme zwar äußerst problematisch vor, weil in der Realität praktisch nichts für die Existenz von solchen Kräften spricht und praktisch alles dagegen; doch kennen wir bislang keine Kultur, die auch nur annähernd frei wäre von einer derartigen »Verirrung«. Ihre merkwürdigste Blüte treibt sie vielleicht in der Gestalt jenes religiösen Wissenschaftlers, der als Fachmann von der Autorität der intersubjektiven Überprüfung lebt, und zwar nicht schlecht, im Falle seines persönlichen Glaubens aber eben diese Instanz kategorisch ablehnt.
Wie soll man sich all das erklären? Selbstverständlich sind dabei mächtige inhaltliche Beweggründe im Spiel, doch das Befremden des Außenstehenden ist schwer zu beschwichtigen: genügt dies für eine restlose Aufhellung des Rätsels? Man steht eher vor einem explanatorischen Faß ohne Boden, in das man hineinwerfen muß, was immer man hat – und was wir haben, ist die Möglichkeit, im Glauben an übernatürliche Kräfte ein unter anderem auch durch die Faszination der Form diktiertes Verhalten zu erblicken, wobei wir freilich eine größere Rolle der Neugier gleich ausschließen können. Wohl aber werden wir bei der Homokumulativitätsanalyse des Glaubens bald stutzig. Man weiß ja, wie sehr die Magie und die Religion – insbesondere die unreflektierte »natürliche« Religion – die Bewirkung in den Vordergrund stellen; schließlich besteht ihr Wesen darin, daß sie, ähnlich und noch viel durchgreifender als die naive Historiographie, den spontanen Ablauf der Welt mit einem Netz von dramatischen personhaften Verursachungsakten überziehen. Und diese Eingriffe erweisen sich schon auf den ersten Blick als wahre Bilderbuchbewirkungen in jenem Sinne, der uns hier interessiert: einerseits erscheinen dabei alle potentiellen Aspekte der Homokumulativität der Bewirkung gesteigert bis zur letzten denkbaren Extremalitätsstufe*, so auch die dem Befehl nachempfundene Minimalität* der Bewirkungshandlung (außer natürlich bei angekündigten Eigenbewirkungen), und andererseits gibt es keine vorstellbare Wirkung, die sich mit Hilfe von übernatürlichen Kräften nicht realisieren ließe, einschließlich jener allsehenden Unsichtbarkeit* des Akteurs, die die Argumentationskette des Gläubigen kurzschließt und sie gegen jeden Einwand immunisiert.
Im Prinzip wäre demzufolge die Theorie des Homokumulats durchaus in der Lage, einen gewissen Beitrag zur besseren Verständlichkeit auch dieses Verhaltensmusters zu leisten. Durch die Magie und Religion wird die Welt in einen formal viel aufregenderen Zustand versetzt, und eine solche Metamorphose muß den Homokumulativitätsjäger wohl zwangsläufig stark beeindrucken. Vor allem würde die damit umschriebene Anziehungskraft, bei allen sekundären Rationalisierungen, auf einem angeborenen Automatismus beruhen, d.h. sie hätte nichts zu tun mit der individuellen Intelligenz und könnte den heutigen Wissenschaftler genauso leicht überrumpeln wie einst den Steinzeitjäger, was uns helfen würde, die Universalität, die Unvermeidlichkeit und Unausrottbarkeit des »Aberglaubens« zu erklären.
Doch wahrscheinlich muß diese Frage in einen noch breiteren Zusammenhang gestellt werden. Bekanntlich fällt es dem Menschen – und zwar jedem Menschen, nicht nur einem Kind oder einem »Primitiven« – oft entsetzlich schwer, eine eigene oder fremde Vorstellung von der Wirklichkeit zu trennen und Phantastik als Phantastik zu identifizieren; gemessen am Maßstab einer echten intersubjektiven Überprüfung geht er mit dem Realitätsattribut geradezu unglaublich schlampig um. Dafür gibt es verschiedene Gründe, unter anderem auch den, daß sein Interesse an dem vorgestellten Sachverhalt seinen Wirklichkeitssinn gleichsam korrumpieren kann. Natürlich denkt man sich ein solches Interesse zunächst inhaltlich spezifiziert, aber das ist eine reine Gewohnheit: warum sollte nicht gerade die Konsummation der Information als Form eine leichtfertige Realitätszuschreibung nach sich ziehen? Und dabei kann als auslösendes Moment sowohl die Neuheit der Vorstellung wie auch ihre Homokumulativität fungieren. Zu der letzteren Komponente ist nun zu sagen, daß sie wahrscheinlich sogar sehr oft in der korrumpierenden Motivationsmischung vertreten sein dürfte, weil sich die Fiktion unendlich leichter extremalisieren läßt als die Wirklichkeit. Die Phantasie ist immer allmächtig* – schon unsere wenigen Gegenüberstellungen haben gezeigt, daß selbst die Leistungen der großen realen Bewirkungssysteme keinen formalen Vergleich mit phantastischen Annahmen aushalten (und das gilt wohlgemerkt nicht nur für Bewirkungen). Angesichts dieses Vorsprungs muß sich unsere Homokumulativitätsgier gerade von solchen Annahmen besonders angezogen fühlen und in der Folge die Beurteilung ihres Seinsmodus recht empfindlich verzerren.
Gewiß kann auch eine irreale Fiktion eine sehr reale Funktion erfüllen, vor allem im ideologischen Bereich, wo es ja kaum auf den intersubjektiven Wahrheitsgehalt ankommt, gelegentlich aber sogar im eigentlichen Vorfeld der Technologie – das beste Beispiel dafür sind naturwissenschaftliche Erkenntnisse, die wir der Astrologie und Alchimie verdanken. Doch grundsätzlich ist ein Mechanismus, der bewirkt, daß der Mensch lieber irgendwelchen frei erfundenen Hirngespinsten nachhängt, anstatt sich ganz der Wirklichkeit zuzuwenden, einfach nicht biologisch zweckmäßig (es sei denn, dieses Tier sollte sich als konstitutiv unfähig erweisen, die Realität zu ertragen, aber das käme bei einem Wesen, das so radikal auf Erkenntnis getrimmt ist, ohnehin dem Todesurteil gleich). Und proportional zu ihrem Anteil an der Irreführung träfe auch die Homokumulativitätsgier die Mitschuld daran; es wäre dies eine neue, weitreichende schädliche Folge der hier untersuchten Motivation.
Der Grund für die Möglichkeitsform unserer Anklage ist der Umstand, daß in der Magie und Religion ohne Frage inhaltliche Motive weit überwiegen, was den Nachweis einer eventuellen Mitverstrickung des Formverhaltens bis auf weiteres so gut wie ausschließt. Eine verläßlichere Identifizierung unseres Motivs wird erst in einigen angrenzenden Fällen möglich, in denen es selber die führende Rolle übernimmt. Sicher ist z.B., daß sich das Übernatürliche leicht formalisieren läßt. Es geschieht nämlich gar nicht so selten, daß der ursprüngliche Ernst eines kulturell obligatorischen Glaubens verblaßt, die davon betroffene Vorstellung aber trotzdem ihre Anziehungskraft behält; so kennen schon die Naturvölker neben echten Mythen reine Unterhaltungsmärchen* (ganz abgesehen davon, daß es auch im Mythos selbst recht unbekümmert komisch* zugehen kann). Zwar enthalten die sich daraus ergebenden unverbindlichen Spielereien mit der Idee des Übernatürlichen nach wie vor gewisse Elemente eines inhaltsbezogenen Wunschdenkens, aber die Hauptbetonung liegt unüberhörbar auf der eleganten* Form der Lösung einer (scheinbar unlösbaren*) Aufgabe – bis hin zu quasi sportlichen magischen Zweikämpfen*. Und noch deutlicher formal ist unsere Salonmagie*, deren Bewirkungen von den meisten Zuschauern mehr oder weniger passiv als Wunder* hart an der Grenze des Übernatürlichen hingenommen werden, ein Erlebnis, das von der gleichfalls formalen Vexation der Suche nach dem Trick unterschieden werden muß.
Etwas anders liegen die Dinge auf den ersten Blick bei der modernen Parapsychologie, deren Fanatismus und tierischer Ernst unter dem durchsichtigen »wissenschaftlichen« Mäntelchen eher auf einen unabgeschwächten magischen Glauben schließen läßt, ähnlich wie die Ufologie nicht nur bei Däniken an echte Religion erinnert. Außerdem ist »Psi« eine Art Wirkstoff-Extrakt des philosophischen Idealismus. An sich würde das für starke inhaltliche Implikationen sprechen, doch bleiben die von der Parapsychologie konkret anvisierten Bewirkungen – verschiedene Telekinesen*, Levitationen*, Materialisationen* und wie sie alle noch heißen mögen – geradezu lächerlich rudimentär, reine Schaunummern ohne jeden praktischen Wert (denn die Parapsychologie hat unglücklicherweise zwei Seelen in ihrer Brust und jagt intersubjektiv überprüfbaren übernatürlichen Bewirkungen nach, was sie an jene kläglichen Überreste der einstigen Herrlichkeit kettet, bei denen sie eben gerade noch hoffen kann, daß sie mit einer Illusion oder einem Schwindel bei sich selbst oder bei anderen durchkommen wird). Vielleicht verbindet ein harter Kern von Psi-Gläubigen damit tatsächlich wild ins Kraut schießende Erwartungen technologischer Art; dem breiteren Umfeld von Gauklern und Gaffern geht es jedoch auch hier offensichtlich nur um die augenblickliche Sensation*, also um Form. Ein überwiegend bis rein formales Verhältnis zum Übernatürlichen ist demnach zweifellos möglich. Die Antwort auf die Frage, wieviel man aus solchen Anzeichen folgern soll, lasse ich aber trotzdem lieber offen.
Die Rolle des Homokumulats bei der Supernaturalisierung von Realien. Die Beliebigkeit als ein Zufluchtsort der CIF-Anhäufung.
Damit bleibt uns nur noch das Problem der Supernaturalisierung von Realien, das vor allem wegen der nun folgenden Kapitel einer Klärung bedarf. Auch um magische Zwecke zu erreichen, werden nämlich meist gewisse äußere Mittel eingesetzt, und zumindest indirekt kommt eine ähnliche Bewirkungsrelevanz den Symbolen des Heiligen zu. Das Ergebnis ist in beiden Fällen, daß sich metaphysische Kraft in physisch existierenden Dingen ansiedelt.
Natürlich ist eine solche konkrete Instrumentalitätsannahme objektiv genauso wenig begründet wie das allgemeine Paradigma selbst, und die Folge ist absolute Unbestimmtheit: man darf als übernatürlich wirksam hinstellen, was immer man will, denn es kann sich ja kein Mittel besser bewähren als jedes beliebige andere. Aber irgendwie muß sich der Mensch trotz allem entscheiden, und deshalb kommen bei der Supernaturalisierung besonders deutlich zum Ausdruck die Gesetze der sogenannten arbiträren Funktionalität. Zunächst gibt es da Wahlakte, die einfach durch den Zufall bestimmt werden und über die man also nichts Sinnvolles sagen kann. Doch es ist nicht immer so; manchmal lassen sich dennoch gewisse Regelmäßigkeiten feststellen, die darauf hindeuten, daß das Vakuum von allen Seiten Ersatzkriterien anlockt. Das bekannteste Beispiel einer derartigen Entscheidungshilfe findet sich im Bereich der Magie – ich meine das Argument »Imitation oder Kontakt« (das aber nur einen Teil der entsprechenden Wahlakte erklärt). Und schaut man sich magische Mittel bzw. Symbole des Heiligen genauer an, so kann man nicht übersehen, wie oft sie sich durch ausgesuchte Homokumulativität der Form auszeichnen. Selbstverständlich hat auch eine solche Anhäufung von Gleichem in Wahrheit nichts zu tun mit übernatürlicher Wirksamkeit. Wohl aber führt sie potentiell bei jeder Anwendung schon an und für sich, d.h. unabhängig vom Erfolg oder Mißerfolg zu einer unbewußten Konsummation der Information als Form. Das ist die zweite Art der Beteiligung der Homokumulativitätsgier an diesem Bewirkungssystem.
Eigentlich müssen wir sogar noch mehr sagen: in den meisten Kulturen entdeckt man CIF-verdächtige Realien vor allem (wenn auch nicht ausschließlich) im Zubehör der Religion und der Magie, und zumal unter beengten Verhältnissen ist das der bei weitem vorherrschende Typ der Koalition zwischen unserem und anderen Motiven. Beides wird auch ganz logisch, wenn man sich den hier besonders starken Druck des kulturellen Funktionalismus vor Augen führt und bedenkt, daß sich durch das Prinzip des übernatürlichen Mittels innerhalb einer so zentralen Funktion, wie es im allgemeinen die magisch-religiöse Überlebenssicherung sein dürfte, eine weite Wiese der Beliebigkeit auftut, auf der sich unser Motiv nicht nur völlig legal, sondern sogar mit unsterblichen Verdiensten frei austoben kann.
Dieses geschickte Manöver zählt sicher zu den großartigsten Tricks der Homokumulativitätsgier und demonstriert besonders anschaulich die Unmöglichkeit ihrer totalen Kontrolle. Sein Eindruck ist so stark, daß er einige Forscher veranlaßt, das, was wir hier formal motivierte Homokumulation nennen, bzw. jene Fälle davon, die man dank ihrer offenkundigen Zweckfreiheit konkret bemerkt hat, samt und sonders als Überreste von ehemaligen magischen Mitteln oder Symbolen des Heiligen zu erklären. Freilich können wir uns dieser Meinung nicht anschließen, unter anderem weil ihrer Daseinsgrundlage beraubte Relikte langsam atrophieren müßten, während die Homokumulativitätsgier des Menschen gerade in unserer weitgehend säkularisierten Kultur unzählige neue Sprossen treibt. In der Regel dürfte sich nach all dem Gesagten bei der Supernaturalisierung der realen Homokumulate um eine sekundäre Entformalisierung von solchen Exemplaren handeln, die es bereits in formalen Extremalisierungsprozessen zu einer gewissen Prominenz gebracht haben – und die darum natürlich, sobald der instrumentale Kontext wegfällt, problemlos wieder zurückformalisiert werden können.