Level 4 (Grundtext)

Theorie des Homokumulats V

 

Genetische Bemerkungen. Warum ist die Homokumulativitätsgier für uns kein kulturelles Produkt. Geschenk oder Kuckucksei? Versuche der Kultur, diese Gier zu kontrollieren. Das Bild eines primären Bedürfnisses. Das Kleinkind als Zeuge. Alles deutet auf eine angeborene Disposition. Die ontogenetische Unaufhebbarkeit einer Erkenntnis des Genoms und der natürlichen Auswahl. Die Frage an den Neurophysiologen.

 

Abschliessend noch kurz ein paar explorative Bemerkungen über den genetischen Hintergrund und die Art der Verankerung der Homokumulativitätsgier als solchen, von der wir bereits wissen, daß sie nichts zu tun haben kann mit der Intelligenz.

Fest steht auch schon, daß darüber, auf welche Objekte sich diese Gier im einzelnen beziehen wird, in aller Regel die jeweilige Kultur entscheidet und damit sehr stark ihr äußeres Erscheinungsbild prägt; unsere konkreten Analysen werden sich meist wie Kulturanthropologie in einer »formalistischen« Abwandlung anhören. Und wir haben noch mehr gesagt: die jeweilige Kultur ist der einzige Ort, an dem der Mensch seine Homokumulativitätsgier auf dem gewohnten Niveau stillen kann, was ihr in seinen Augen etwas formal tief Befriedigendes verleiht und ihre Anziehungskraft zusätzlich verstärkt. Darin müssen wir wohl eine wichtige sekundäre Funktion unseres Motivs, nachdem es einmal da ist, erblicken.

Das Motiv selbst ist jedoch meines Erachtens kein Produkt der menschlichen Kultur, und zwar meine ich das aus den folgenden Gründen.

1. Die heute allgemein anerkannte Funktionalitätstheorie des formalisierenden und des rein formalen Spiels gibt nicht nur offen zu, sie unterstreicht sogar oft mit polemischem Eifer, daß der Mensch nicht erst von der Kultur spielen lernt, sondern die Neigung dazu schon in die Kultur mitbringt. Diese Neigung ist also etwas außerhalb der Kultur und unabhängig von ihr Existierendes, mit dem die genannte Funktionalitätstheorie wie mit einem kostbaren Geschenk rechnen kann; sie muß es nur behutsam zur Entfaltung bringen und vor allem darauf achten, daß die Kultur es nicht durch brutale Unterdrückung zerstört, denn durch etwas anderes ersetzen kann sie es nicht. Ausdrücklich konkretisiert wird all das einstweilen zwar lediglich für die Neugier als Spielkomponente, aber ich sehe keinen Grund, warum es nicht auch für die Homokumulativitätsgier gelten sollte, die ebensooft unser Spiel zu regieren scheint.

2. Doch immer geht es zwischen der Kultur und der Homokumulativitätsgier nicht bei allen Unterschieden so idyllisch zu. Oft werden die beiden zu Gegnern (auch in der Brust des einzelnen, der ihren Konflikt internalisiert), mit der Folge, daß die Kultur die Konsummation eines bestimmten formalen Homokumulats zu verhindern versucht. In solchen Situationen nimmt jenes Andere, der Kultur Fremde an unserer Motivation natürlich besonders deutliche Konturen an. (Vorausgesetzt haben wir dabei allerdings eine klar identifizierbare, verselbständigte Art der Homokumulativitätsgier. Darum wird das ganze Ausmaß dieses Spannungspotentials erst in der europäischen Kultur sichtbar.)

Und welche Seite hat dabei »recht«? Manche Homokumulate sind tatsächlich schädlich; deshalb steht es im Prinzip auch für uns außer Zweifel, daß unsere Homokumulativitätsgier von unserer Kultur kontrolliert werden muß und daß das immer so bleiben wird. Doch vielfach greift die Repression unsinnigerweise weit über solche Einzelpunkte hinaus und erfaßt tendenziell alle Anhäufungen von Gleichem, die sich nicht in eine Mischmotivation retten oder irgendwo am Rande der Kultur unscheinbar machen können: der traditionellen Spielart des kulturellen Funktionalismus, die von der Möglichkeit einer dialektischen Funktionalität gar nichts weiß, muß nämlich grundsätzlich jede Konsummation eines rein formalen Homokumulats »zwecklos« und damit verwerflich vorkommen. Diese Reaktion scheint auch in der Geschichte der europäischen Kultur zu überwiegen, während Epochen bzw. kulturelle Strömungen, die sich – obwohl sie die dialektische Nützlichkeitstheorie noch nicht entdeckt haben – offen zu ihrer Konsummationslust bekennen und ihr zuliebe das Funktionalitätspostulat über Bord werfen, insgesamt eher eine Ausnahme bedeuten. (Die Begründung für eine derartige Haltung liefert jene Ideologie, die die Zwecklosigkeit zur Zweckfreiheit uminterpretiert und diese als letztes Ziel der Selbstverwirklichung hinstellt; das ist ein weiterer Rahmen, in dem die unerkannte, aber mit einbezogene Homokumulativitätsgier zur Reflexion gelangt.)

Aber wie erfolgreich ist eine solche Kontrolle – wohlgemerkt nicht mittels Knappheit und Not, sondern bei an sich ausreichenden Ressourcen? Im Durchschnitt ist die Homokumulativitätsgier, wie gesagt, ein relativ schwaches Motiv. Deshalb gelingt es der Kultur sehr oft ohne weiteres, sie dem einzelnen in einer konkreten Situation aus dem Kopf zu schlagen, und aus demselben Grund war ihre europäische Emanzipation bei aller Fülle der Möglichkeiten praktisch vor allem ein Werk der eben erwähnten Ideologie der Zweckfreiheit. Doch eine hundertprozentige Erfolgsquote läßt sich nirgends beobachten: früher oder später, und zwar meist ziemlich rasch, trifft man auf einen Fall, in dem alle Verbote und Unterdrückungsversuche nichts nutzen und in dem sich die Kultur bzw. der einzelne seiner Homokumulativitätsgier gegenüber als machtlos erweist. Der Grund dafür ist manchmal ein frontaler Widerstand unseres Motivs, noch öfter aber sein »Ausweichen« in einen unüberwachten Freiraum; je häufiger sich nämlich eine Konsummationsgelegenheit bietet, desto schwieriger wird es für die Kultur, mit ihrem Druck immer und überall gegenwärtig zu sein. Inzwischen reichen unsere Erfahrungen für die allgemeine Feststellung, daß eine totale subjektive Kontrolle der Homokumulativitätsgier praktisch nicht möglich ist (schon gar nicht um einen halbwegs vernünftigen sozialen Preis), weil die Kultur sie offenbar nicht bei allen Individuen auf alle Zeit ausrotten kann. (Wir werden demnach lernen müssen, mit einigen von ihren negativen Auswirkungen zu leben.) Das ist aber nun ein Typ der Resistenz, der uns von mehreren sogenannten primären Bedürfnissen des Menschen und nur von diesen her vertraut ist.

3. Mit der Unausrottbarkeit im Einklang steht die Tatsache, daß wir Spuren der Homokumulativitätsgier in allen uns bekannten Kulturen des Menschen begegnen. Natürlich sind ihre Entfaltungsmöglichkeiten je nach den Umständen sehr verschieden, und auch gleiche Entfaltungsmöglichkeiten kommen konkret sehr verschiedenen formalen Homokumulaten zugute, was dem äußeren Erscheinungsbild dieser Gier seine Vielfalt verleiht; überall, d.h. von der Kultur unabhängig vertreten sind da höchstens die breitesten Grundklassen der dem Menschen zugänglichen Information. Generisch universal ist jedoch nach unseren Beobachtungen (außerhalb der Katastrophensituation) erstens die Homokumulativitätsgier als solche in irgendeiner von ihren Erscheinungsformen und zweitens ihre Eigenschaft, daß sie keinen sich öffnenden Raum lange unbesetzt läßt. In diesem Sinne können wir also von ihrer kulturellen Invarianz sprechen, und eine solche Invarianz gilt als das zweite Erkennungsmerkmal eines primären Bedürfnisses. Wenn es sich aber bei der Homokumulativitätsgier wirklich um ein primäres Bedürfnis handelt, dann ist auf einer tieferen Ebene offenbar gerade umgekehrt sie diejenige, die die Kultur (mit) determiniert, weil die Kultur sie irgendwie befriedigen muß, obwohl dabei die meisten Einzelheiten ihr überlassen bleiben (so benötigt sie z.B. dafür keine spezialisierten CIF-Homokumulate, weil auch mischmotivierte Verhaltensweisen ähnlich spektakuläre und formal reich belohnende Anhäufungen von Gleichem enthalten können).

4. Ich sagte allerdings nur »die meisten Einzelheiten«: es sind nämlich nicht alle tatsächlich konsummierten Homokumulate kulturell vorbestimmt, sondern lediglich fast alle. Die wichtigste Ausnahme bezieht sich auf das Verhalten des ganz kleinen Kindes, das mit dem entsprechenden Angebot seiner Kultur kaum etwas anfangen kann, weil es noch so viel davon formal nicht »versteht«. Ein solches Kind wartet nicht gleichmütig ab, sondern beginnt mit bemerkenswertem Eifer das Reich der Homokumulativität auf eigene Faust zu erforschen. Natürlich kann es dabei nur einige wenige einfachste Möglichkeiten entdecken und sie auch nur in sehr bescheidenem Maße extremalisieren, doch sie sind trotzdem einwandfrei identifizierbar als formale Homokumulate und demzufolge als Objekte der Homokumulativitätsgier. Später, wenn das Kind allmählich in seine Kultur hineinwächst, bleibt von dieser Selbständigkeit zwar so gut wie nichts übrig, weil seine individuellen Anhäufungen ab ovo nicht mit dem kulturellen Homokumulativitätsangebot konkurrieren können; aber sie werden erst nach einer solchen charakteristischen Anfangsphase aufgegeben.

Alle hier aufgezählten Fakten zusammen lassen nach meiner persönlichen Einschätzung eine einzige Möglichkeit offen: in der Homokumulativitätsgier müssen wir wohl eine angeborene, »vorprogrammierte« Verhaltensdisposition und damit einen Teil der menschlichen Natur erblicken. Ich tippe also auch bei der Art der Motivation auf eine Parallele zur Neugier, wo die gleiche Behauptung unumstritten sein dürfte. (Das Spezifische an diesen beiden Dispositionen ist freilich, daß sie den Menschen inhaltlich im Zustand der tabula rasa belassen, d.h. beim Formverhalten wird der Streit zwischen dem Nativismus und dem Empirismus besonders gegenstandslos.)

Die Entstehung der Homokumulativitätsgier hängt für uns selbstverständlich kausal mit ihrer biologischen Funktion und mit der Erkenntnis dieser Funktion zusammen, und der Träger der Erkenntnis ist, wie gesagt, der einzelne, der sie notfalls gegen seine Kultur verteidigen kann. Doch dürfen wir uns sein Wissen konkret nicht als eine bewußte oder unbewußte Leistung seines individuellen Gehirns vorstellen, sondern als eine evolutionäre Errungenschaft unseres Genoms, die zu einer Bereicherung unseres Motivationsgefüges führte, indem sie den vorgefundenen Homokumulativitätsdetektoren einen »direkten Draht« zur Motivationszentrale sicherte. (Was das neurophysiologisch heißen soll, wissen wir natürlich hier ebensowenig wie bei der Neugier.) Die Erkenntnis hatte offenbar Anpassungswert, und deshalb brachte schon der geringste Ansatz dazu einen positiven Selektionsprozeß in Gang. Gegenstand der natürlichen Auswahl waren dabei wahrscheinlich kulturell definierte Populationen und das anzustrebende Optimum nicht eine gleichmäßig maximale Stärke der Homokumulativitätsgier bei allen Mitgliedern der Population, sondern vor allem große individuelle Variationen dieser Stärke, die es der Population ermöglichten, durch einige Mitglieder das Potential der Strategie voll auszuloten und durch andere, vorsichtigere, den Schaden daraus zu minimalisieren.

Der Zusammenhang zwischen der Funktion und der Entstehung ist also in unserem Fall nicht onto-, sondern phylogenetisch. Das bedeutet, daß der einzelne von dem Wissen, das er in sich trägt, keine blasse Ahnung hat oder zu haben braucht – er verspürt nur die Lust der CIF-Konsummation und den Wunsch, sie nochmals zu erleben, und dadurch wird er sanft oder unsanft gezwungen, sich nach diesem Wissen zu richten. Die Unabhängigkeit der Homokumulativitätsgier von den Zufällen der persönlichen Nützlichkeitserfahrung ist ja auch eine unerläßliche Bedingung für ihren Bestand, weil sie den einzelnen immun macht gegen Zweifel, die sich so leicht aus der »dialektischen« Funktionalität unseres Motivs ergeben, und ihn störrisch unbeirrbar an dieser Strategie festhalten läßt. Andererseits können wir aber wegen derselben Unabhängigkeit die in der Homokumulativitätsgier verkörperte Hypothese darüber, wie wir uns richtig verhalten sollen, auch nicht einfach aufgeben oder durch eine andere ersetzen; solange wir mit dem ursprünglichen Genom des Menschen ausgestattet sind, bleibt sie – kontrollierbar oder nicht kontrollierbar – ein Teil unseres Schicksals.

Ich weiß, ich habe mich in dieser Einleitung (und in dem Rest des Buches) vieler Spekulationssünden schuldig gemacht. Deshalb möchte ich hier am Ende zu meiner Entlastung darauf hinweisen, daß sich die Theorie des Homokumulats aber nicht auf immer und ewig einer direkten Überprüfung entzieht, denn eines nahen oder fernen Tages wird sich der Neurophysiologe für eine von den folgenden zwei Behauptungen entscheiden können.

A. Es gibt einen neurophysiologischen Mechanismus oder eine Gruppe derartiger Mechanismen, die für das Erscheinungsbild der Homokumulativitätsgier verantwortlich gemacht werden kann.

B. Die Existenz von solchen Mechanismen dürfen wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen.

 

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