Level 4 (Grundtext)

Ortsveränderung

 

Grundfiguren der Bewirkung. »Fleißige« Ortsveränderung. Der Reiz der Geschwindigkeit – vom Laufen bis zum Wettrennen. Verschiedene Quellen der Schwierigkeit der Ortsveränderung. Der Kampf mit der Gravitation. Ein klassischer Fall von Sinnlosigkeit: Bergsteigen als Form. Obenbleiben oder -behalten als die statische Variante derselben Struktur.

Nun gilt es, diesem noch immer ziemlich abstrakten Umriß der Bewirkung durch konkrete Beispiele Leben einzuhauchen. Das Problem dabei ist, daß ich keine brauchbare Systematisierung der Bewirkungsinhalte kenne oder selber beisteuern kann; alles, was mir dazu einfällt, sind ein paar »Grundfiguren«, die die Möglichkeiten sicher bei weitem nicht erschöpfen, sondern das Beobachtungsmaterial höchstens in einigen besonders illustrativen Bereichen ordnen. Die erste solche Figur ist die Bewirkung einer auto- oder allokinetischen Ortsveränderung. Natürlich ist Ortsveränderung unter anderem auch ein überaus wichtiges Mittel, doch zugleich umfaßt sie viele klassische Fundstätten eines zweckfreien Verhaltens (Bewegungsspiele, Sport, Akrobatik usw.), bei dem der Beobachter gar nicht so abgeneigt sein dürfte zu glauben, daß sich dahinter wirklich eine Konsummation der Information als Form verbirgt. Deshalb können wir uns hier ungestört auf die Analyse der Anhäufungsphänomene konzentrieren.

Beginnen wir also mit dem Nächstliegenden und vergleichen wir das Gehen mit dem Laufen. Die konsummatorischen Erlebnisse des Kindes beziehen sich eindeutig auf die letztere Bewegungsart. Im Zuge der heutigen Diversifikation hat es zwar auch das Gehen zu einer Sportdisziplin gebracht, doch mobilisiert es im allgemeinen eher wenig Begeisterung und hat oft erhebliche Mühe, vom Lächerlichen wegzukommen. (Wegen der Skurrilität des Laufverbots trotz größter Eile fällt es offenbar leicht, darin nur einen weiteren Fall jener Extremalisierung einer komischen Aufgabe* zu erblicken, der sich im Bereich der Ortsveränderung so viele Türen öffnen – ich erinnere nur an die ehemalige Fernsehserie Spiele ohne Grenzen* –, daß wir uns hier gar nicht auf die Sichtung des betreffenden Materials einlassen können.) Der Grund für diese ziemlich einseitige Präferenz ist nach unserem Dafürhalten die weitaus größere formale Ergiebigkeit des Laufens, die sich konkret vor allem in seiner höheren Geschwindigkeit* manifestiert. Damit haben wir einen ganz zentralen Homokumulativitätsaspekt der Ortsveränderung als solchen angeschnitten. Aus unserer Sicht bedeutet hohe Geschwindigkeit zunächst einmal viel Extensität* je Zeiteinheit bzw. wenig Zeit* je Extensionseinheit, und dieses Verhältnis darf man mit Fug und Recht als ein Zeichen großer Bewirkungseffizienz* auslegen. Kinästhetisch noch anschaulicher ist natürlich die hohe Geschwindigkeit einer Geschwindigkeitsveränderung, z.B. Beschleunigung*, als »Geschwindigkeit zweiter Ordnung«. Außerdem wird vielfach auch die physiologische Intensität* der dazugehörigen Bewirkungshandlung oder die Dichte* der Handlungseinheiten in den Gesamteindruck mit einbezogen. Und unter besonders glücklichen Umständen – so schon bei einer schnellen Reaktion* – findet eine komplette Ortsveränderung Platz innerhalb einer scharfen Kontur*.

All das kann sich nun entweder in der spontanen und wenig durchgestalteten Grundform des wilden Herumtollens* niederschlagen (oft spricht man von einem Bewegungs- bzw. Geschwindigkeitsrausch*), oder daraus entwickelt sich ein straffer organisierter Einzelvergleich im Wettrennen*; und die Vergleiche selbst lassen sich wiederum in zwei Typen einteilen. Der erste, einfachere, überall verbreitete und beliebte Typ ist das Verfolgungsrennen*: ein leicht asymmetrischer Wettkampf mit der anstachelnden Erschwerung einer gewissen Vorgabe* – vom Haschemann* bis zur Parforcejagd* bzw. vom Märchen bis zum Action-Film im Sinne der Formalisierung einer inhaltlich motivierten Verfolgung. Raffinierter und weniger universal als diese Anordnung sind dann die eigentlichen Wettrennen, d.h. hochstilisierte Parallelwettkämpfe mit meist gleichzeitigem Start am Anfang einer vorbestimmten Strecke, bei denen es vor allem darauf ankommt, welcher von den Teilnehmern als erster*, also am schnellsten* das Ende der Strecke (das Ziel) erreichen wird, über standardisierte  Strecken aber auch Zeitrekorde* geführt werden können. (Da solche Vermerke die abnehmende Dauer einer homokumulativeren Bewirkung registrieren, liefern sie uns ein Exempel für die häufig anzutreffende Gattung des scheinbar paradoxen Minimalitäts-Rekordes.)

Ein anderer sehr allgemeiner Formaspekt ist selbstverständlich auch hier die Schwierigkeit* der Ortsveränderung bzw. der stets intensitätsverdächtige Kampf mit ihr, entweder als Alternative zur Geschwindigkeit oder kombiniert mit dieser. Die Quellen einer solchen Schwierigkeit sind wie immer sehr verschieden. Zu nennen sind darunter z.B. die Ungewöhnlichkeit des Mediums – Schwimmen* für Anfänger, räumlich oder zeitlich extensiviertes* Tauchen* – oder der gewählten Art der Bewirkungshandlung (so auch bei vielen auf der Ortho-Ebene komischen Fortbewegungsaufgaben); ferner äußere Umstände der Ortsveränderung wie Klima* und Wetter* und vor allem die Beschaffenheit der Strecke, die unter dem Einfluß von formalen Kriterien in zwei Richtungen tendiert – manchmal wird die Strecke »idealisiert«, d.h. möglichst bereinigt*, und manchmal wiederum mit Hindernissen* vollgespickt*; sowie nicht zuletzt große Entfernung* selbst und die Strapazen* der für ihre Bewältigung nötigen Bewirkungsanstrengung (Musterbeispiel: Marathonlauf*). Die Lage irgendwo am »Ende der Welt«, hinter allerlei unwirtlichen Gegenden*, und/oder die Primitivität* der Fortbewegungsart sind unter anderem auch für jene schwere Zugänglichkeit* bestimmter Punkte bzw. Routen auf der Erdkugel verantwortlich, die die Reisen der Forscher, der Abenteurer und selbst der Verunglückten, insbesondere Erstbegehungen*, formal so interessant macht – denn die Neuheit des Ortes allein erfaßt unter solchen Umständen sicher nicht das ganze Wesen seines Reizes.

Seltener fällt bei horizontaler Ortsveränderung der anzunehmende Hauptgegner dieser Bewirkungsfigur, nämlich die Gravitation, spürbar ins Gewicht; am ehesten noch bei einer äußerst erschwerten Allokinese wie z.B. beim Transport von riesigen Lasten*, zumal mit einfachsten Mitteln*, oder bei symmetrischen Deplacierungswettkämpfen vom Typ des Seilziehens* oder des Sumo*. Darum ist eine Ortsveränderung mit einer aufsteigend vertikalen Komponente, die sich also der Schwerkraft mehr oder weniger frontal widersetzt*, schon wegen der bekannten Intensität* des physiologischen Erlebnisses der Schwere fast automatisch formal ausgezeichnet als eine Art Urform aller Kämpfe mit irgendeiner »Schwierigkeit« (sic). Auf der autokinetischen Seite gehören dazu beispielsweise der Drang des Kindes, jedes halbwegs einladende Objekt zu erklettern*, oder verschiedenste ausgesucht schwierige Varianten der Selbstelevation* beim Geräteturnen. Aus dem allokinetischen Bereich, wo die Gegentendenz eine noch handgreiflichere Verkörperung erfährt, wollen wir das kraftakrobatische Heben des Partners* im Zirkus, das Gewichtsheben* – als einen Schulfall der indirekten Messung der Intensität – und die auch hier sehr logische Formalisierung der entsprechenden technischen Höchstleistungen* erwähnen.

Ein paar Worte mehr verdient in diesem Zusammenhang vielleicht das moderne Bergsteigen als eine geradezu klassisch »sinnlose« und rational unverständliche Spielart der Ortsveränderung, die sich durch ihre reiche Homokumulativitätsentfaltung besonders eindrucksvoll formal erklären läßt. Zunächst sind Berge die extensivsten* Vertikalstrecken, die es überhaupt gibt, und in diesem Sinne ganz überwältigend anschauliche Gegner*. Vielfach impliziert ihre Begehung zugleich ein hohes Konzentrat des kinetischen Risikos*, das sie indirekt noch verlockender macht. (Die Intensitätsausstrahlung* und das durch sie ausgelöste vorsätzliche Eingehen eines solchen Risikos sind typische negative Begleiterscheinungen der Homokumulativitätsgier, die sich im Bereich der Ortsveränderung zum Teil auf die Höhe und zum Teil auf die Geschwindigkeit beziehen.) Neben dem Kampf mit der Natur bzw. mit der warnenden Stimme im eigenen Innern* ist dabei sehr oft auch ein Wettkampf mit anderen inbegriffen, z.B. »wer ersteigt als erster* einen bestimmten Gipfel« oder »wer ersteigt den höchsten* Berg« (bis hin zum Mount Everest*). Und wenn diese Formrichtungen einmal erschöpft sind, kann man sich immer schwierigere*, vor allem immer steilere* Wege zum Gipfel aussuchen – die Extremalisierbarkeit des extremen Alpinismus* kennt praktisch keine Grenzen. Am Ende steht dann die direttissima*, d.h. die reinste* Vertikale durch eine Senkrechtwand mit möglichst vielen Überhängen*, und selbst auf ihr werden noch inoffizielle Geschwindigkeitsrekorde* registriert.

Dabei wird neben der Aufwärtsbewegung eine weitere Möglichkeit sichtbar, wie man die Schwerkraft für formal interessante Bewirkungen ausnutzen könnte, nämlich die Möglichkeit eines durch diese Schwerkraft akut gefährdeten, also gewissermaßen umkämpften*, obwohl in der Intention völlig statischen Obenbleibens oder -behaltens. Dazu muß schon ein dramatisiertes Hängen* (an Händen, Zähnen, Haaren, Fersen usw.) gezählt werden; die Hauptmasse der Beispiele läßt sich jedoch auf die auto- oder allokinetische Erhaltung eines labilen Gleichgewichts* zurückführen (auch in Varianten wie »mit irgendetwas nicht den Boden berühren«* oder »ein schmales Ding so aufstellen, daß es nicht kippt«*). Bei allen derartigen Beharrungsaufgaben geht es offenbar um die Verhinderung der Ortsveränderung, nämlich eines durch die stets agile Gravitation ausgelösten Falles oder Sturzes. Erfahrungen der letzteren Art, insbesondere autokinetische, gehören aber nun zu den frühesten und unvermeidlichsten Traumen des Zweibeiners Mensch; deshalb verleiht schon allein die Aktualisierung dieser Urangst* jeder problematischeren Form des Obenbleibens oder -behaltens eine hohe indirekte Intensität*.

Auch hier können wir die enorme Vielfalt der Möglichkeiten höchstens da und dort ankratzen, indem wir z.B. das Kleinkind auf der Einfriedungsmauer* nennen oder den Turner im Handstand* bzw. die Turnerin auf dem Schwebebalken*, oder den Seiltänzer*, stellvertretend für verschiedenste, auch allokinetische Sparten der Zirkusäquilibristik*. Besonders beeindruckend ist oft die Kombination mit einer schnellen* Fortbewegung im labilen Gleichgewicht. Manches dabei wirkt aber auch komisch, so (neben dem Fall selbst) z.B. ein wildes Herumrudern* als unfreiwillig maximalisierte* Bewirkungshandlung der Fallverhinderung. Unter den Gleichgewichtswettkämpfen verlaufen einige parallel wie beim Rodeo* – »wer hält sich am längsten* oben«, die meisten aber ausgesprochen symmetrisch – »wer bringt wen zu Fall«* (und das ist das Prinzip bei vielen Arten des Ringens*, bei den Turnierkämpfen* der Ritter usw.). Dabei verbündet sich der initiative Bewirkungsstrang gleichsam mit der Schwerkraft, was unter Umständen zu der recht minimalen* Bewirkungshandlung des Umstoßens* führen kann, wie noch beim Kegeln*.

Ein latenter Kampf mit der Gravitation ist übrigens auch das Schwimmen im oder auf dem Wasser, was aber erst im Katastrophenfall richtig zum Ausdruck kommt.

 

Welchen formalen Vorteil haben ausgelöste Ortsveränderungen. Gleiten, waagerecht und bergab. Was reizt den Schifahrer. Rollen. Das Einschalten einer externen Kraftquelle, vom Reiten bis zum Surfen. Flugphantasien und wie man real einem Flug nahekommt: Schwingen, freier Fall, Projektion. Die Fülle der Formmöglichkeiten beim Sprung und beim Wurf.

Gemeinsam war den meisten bisher behandelten Fällen der Ortsveränderung die zeitliche Überlappung, ja Deckung der Bewirkungshandlung und der Wirkung: diese gab es nur, solange jene andauerte. Natürlich ist das für die Homokumulativität der Bewirkung eine einschneidende Begrenzung. Zu noch viel besseren Ergebnissen dürfte da nämlich jene zeitliche Entkoppelung der beiden Elemente führen, zu der man einerseits durch eine »selbsttätige« Verlängerung* der einmal eingetretenen Wirkung (bis hin zur Idee des Perpetuum mobile*) und andererseits durch die Reduktion der Bewirkungshandlung auf einen möglichst kurzen* Initialanstoß gelangen würde. Eine auf diese Weise ausgelöste* Ortsveränderung, ein Sinnbild der Bewirkungseffizienz, hätte offenbar von vornherein einen großen formalen Vorteil gegenüber dem die Bewegung mühsam aufrechterhaltenden Bewirkungstyp.

Verwirklicht ist diese Möglichkeit erstens bei allen Arten des Gleitens* auf glatter oder nasser Oberfläche, Schnee, Eis oder Wasser (weniger geeignete Gleitobjekte werden zu diesem Zweck auf entsprechende Untersätze gestellt, so auch meist der Mensch selber). Dabei muß man auf horizontalen Strecken nach wie vor den Bewegungsimpuls von Zeit zu Zeit erneuern, aber das Verhältnis zwischen Investition und Ertrag ist trotzdem schon recht günstig und regt an zu verspielten Wettkämpfen von der Art »wer versetzt sich selbst oder etwas anderes mit einem Impuls  am weitesten«* bzw. »wer bewältigt eine vorbestimmte Strecke mit der geringsten* Anzahl von Bewegungsimpulsen« (= Minimalisierung). Die homokumulativste Form des Gleitens erreicht man jedoch auf abfallenden Flächen – auch Flüssen oder Wellen –, wo man mit einem einmaligen Startakt* schon wieder die Schwerkraft für sich einspannen kann als einen mächtigen Gehilfen, der dann alle weitere Bewirkungsarbeit übernimmt. Auf diese Weise lassen sich manchmal unglaublich lange* Strecken absolvieren und bei ausreichender Neigung entsprechend hohe Geschwindigkeiten* erzielen; auch in der Beziehung bietet nämlich das Gleiten einem oft bessere Chancen als jede trottende Bemühung (so ist z.B. schon das Eislaufen* die schnellste* Art der horizontalen Fortbewegung des Menschen auf eigenen Beinen). Und einen zusätzlichen Reiz erhalten derartige Rutschpartien, wenn man sie in aufrechter Haltung, d.h. im labilen Gleichgewicht hinter sich bringen muß, denn die Sturzgefahr* ist beim Gleiten ebenfalls definitionsgemäß groß. (Die Komik eines ständigen Ausrutschens* kennen wir ja schon.) Mit alledem haben wir z.B. eine wichtige Gruppe von formalen Gründen für die ungeheure Beliebtheit des modernen alpinen Schisports* genannt.

Dieselben Formmerkmale kennzeichnen auch die nächste Abart einer selbsttätig prolongierten Ortsveränderung, nämlich das Rollen* bzw. »Gleiten« auf rollendem Untersatz*. Wer sich ein Bild von der Faszination des einfachen Rollens machen will, der muß natürlich Kinder bei ihren Spielen beobachten (Reifenschlagen*, Rollschuhfahren* usw.). Bei den Erwachsenen bleibt davon vor allem der Radsport* übrig, während sich Zirkusnummern mit dem Fahrrad* eher auf Gleichgewichtsprobleme* spezialisieren.

Und schließlich kann die Ortsveränderung noch durch das Einschalten von anderen externen Kraftquellen in Gang gebracht werden, die nicht so selbstverständlich und stets verfügbar sind wie die Gravitation. Wo das gelingt, wird die formale Privilegiertheit des Auslösungsprinzips wohl am deutlichsten sichtbar. Zum einen ist die Meta-Bewirkungshandlung des Indienststellens der Kraftquelle entweder wirklich minimal*, oder sie kann wenigstens durch Ignorieren der Vorbereitungen so aufgefaßt werden; und zum anderen läßt sich eine Fortbewegung mit Fremdantrieb oft, »ohne einen Finger zu rühren«* (außer zur Lenkung), fast beliebig verlängern*, denn sie ist logischerweise nicht an irgendein Gefälle gebunden, im Gegenteil – sie kann sogar den Tatbestand des Hinaufgleitens* erfüllen. Damit wird der bei allen mühelosen Ortsveränderungen mitklingende Erwartungskontrast* zur Hauptmasse der Erfahrung besonders stark. Genauer besehen bedeutet der Fremdantrieb meist ein Gleiten oder Rollen mit Schub oder Zug, und neuerlich können wir uns auf die Freude des Kindes an jeder Form eines solchen Gefahrenwerdens* berufen. Die Kraftspender sind dabei auch abgesehen von den Motoren sehr verschieden, nämlich Mensch, Tier oder Wind wie bei allen Arten des Segelns*, bis hin zum heutigen Surfen* – einer völlig unpraktischen Spielerei, unter anderem wieder mit dem Gleichgewichtsproblem*, die aber ungleich mehr Homokumulativität abwirft als z.B. das verhältnismäßig nüchterne, obwohl an sich auch schon gleitende* Paddeln (außer auf Wildwässern*!). Eine Nebenvariante – und die einzige wirkliche Neuheit – ergibt sich durch das Reiten* bzw. jegliches Getragenwerden* von irgendeinem Lebewesen einschließlich des Menschen. Bei Tieren werden die besten Ergebnisse in beiden Varianten mit Pferden erzielt, was uns die alte und unverminderte Anziehungskraft von Pferderennen* erklärt.

Nun kehren wir noch einmal zum Kampf mit der Schwerkraft zurück und stellen fest, daß als der bei weitem spektakulärste, indirekt intensivste* und vor allem mit der Hauptmasse der Erfahrung am heftigsten kontrastierende* Sieg über sie wohl ein naturwidriges Fliegen* bzw. Schweben* in der Luft eingestuft werden muß. Selbstverständlich war richtiges Fliegen für den Menschen bis zu unserem technischen Zeitalter nur eine von den vielen Phantasien, die für die wohlbekannten Orgien einer extrem homokumulativen Ortsveränderung in Mythen und Märchen (aber auch noch im »parapsychologischen« Wunschdenken oder im Zeichentrickfilm) so typisch sind – ähnlich wie z.B. das Gehen auf dem Wasser*, die Siebenmeilenstiefel* oder schlicht und einfach ein undefiniert-blitzartiger* geographischer Sprung über beliebige Entfernungen*. Doch kannte man schon immer reale Fortbewegungsarten, die dem Fliegen zumindest im Gefühl mehr oder weniger nahekommen und zugleich wieder den oben geschilderten formalen Vorteil aufweisen, daß man sie nämlich nur auszulösen* braucht, und die Begeisterung für sie war schon immer entsprechend groß.

Dazu gehört unter anderem ein hängendes Schwingen* am Turngerät, auf der Schaukel* oder auf dem Karussell*, aber auch auf der Achterbahn*, in aller Regel verbunden mit einem physiologisch oft äußerst starken* Erlebnis der Fliehkraft als zusätzlichem Bonus. Beim freien Fall* (z.B. beim Wasser-, Schi- oder Fallschirmspringen) erreicht man den Zustand des Fliegens paradoxerweise dadurch, daß man sich der Gravitation widerstandslos ausliefert, sich von der Falldauer* und -geschwindigkeit* berauschen läßt und deshalb die Sprunghöhe* ohne Rücksicht auf das Risiko bzw. auch und gerade seinetwegen* maßlos übersteigert. (Davon leben ganz gut, solange sie leben, die Kaskadeure*.) Die paradigmatischste Verwirklichung eines Beinahe-Fluges ist jedoch eine Projektion mehr oder weniger steil nach oben, in die Luft, d.h. offen gegen* die Schwerkraft.

Die vielen Spielarten einer solchen emporschnellenden Ortsveränderung können wir wie gewöhnlich nur sehr summarisch aufzählen. Eine autokinetische Projektion aus eigener Kraft wird als Sprung* im engeren Sinne des Wortes bezeichnet; natürlich werden dabei verschiedenste Hilfsmittel verwendet, insbesondere elastische Unterlagen oder Stäbe. Bei Einschaltung von fremden Kraftquellen sollte man aber eigentlich eher von einem Geworfen-* oder Getragenwerden* reden (ich denke da beispielsweise an den Reitsprung*). Die Grundform der allokinetischen Projektion ist offensichtlich der Wurf*: einer anderen Person – für sie kann die Ortsveränderung zugleich auch autokinetisch interessant sein – und vor allem einer Sache, wo man noch zahlreiche Nebenvarianten berücksichtigen muß, so z.B. eine Projektion durch Schlagen*, Spritzen*, Blasen* oder Schießen* (zunächst wieder unter Ausnutzung der Elastizität).

Der wichtigste Homokumulativitätsaspekt einer Projektion ist wohl die Extensität*, also Höhe* und/oder Weite* des Sprunges oder des Wurfes. Beim ersteren sind die Extensivierungsmöglichkeiten allerdings im Prinzip ziemlich begrenzt und man kann nur unter besonders günstigen Umständen – z.B. bei Trapezfliegern* (sic) – von einem wirklichen Flug sprechen, wenngleich auch die Ballettänzer durch Heben der Arme, Spreizen der Beine und Regungslosigkeit in der Luft (»Ballon«*) ein ähnliches Erscheinungsbild hervorzuzaubern vermögen. Oft stellt sich die Aufgabe so, daß irgendein Objekt übersprungen* werden muß, was zu asymmetrischen Wettkämpfen mit einem handgreiflichen Widersacher* führt. Bei einem Sprung über den Abgrund* hingegen rückt stark in den Vordergrund das kinetische Risiko und mit ihm die Intensität der Mutprobe*. Das Risiko spielt überhaupt bei jeder autokinetischen Projektion eine gewisse Rolle, so auch bei verschiedenen Erschwerungen* des Sprunges, von denen wir vor allem Drehungen in der Luft und die Beendigung des Sprunges ohne Fall* (= Obenbleiben) als ein Hauptziel der Eisläufer, Turner oder Seiltänzer nennen wollen. Außerdem laden viele Formen des Springens geradezu ein zu genau geregelten Parallelwettkämpfen* – unter anderem in Abwandlungen wie »wer überspringt die größte Anzahl* von vereinbarten Objekten auf einmal« oder »wer überspringt alle* aufgestellten Objekte hintereinander« (= fehlerlos*) wie beim Springreiten. Dem Kind genügt aber auch hier ein intensives* und im übrigen formloses Hüpfen*.

Ähnlich reich ist die Auswahl der Formmöglichkeiten beim Wurf; in mancher Hinsicht läßt sich das Thema der Projektion in der allokinetischen Variante sogar noch viel extremer verwirklichen. Einerseits ist ihr spezifischer Auslösungsakt, außer bei wirklich schweren* Gegenständen (oder Personen: Judo* und ähnliche Sportarten), im Prinzip kinderleicht* – das Wegwerfen* ist bekanntlich eine der allerersten homokumulativeren Bewirkungen, die dem Säugling zugänglich werden, mit entsprechenden Folgen – und andererseits lassen sich beim Wurf unvergleichlich größere Weiten und Höhen erzielen; von geworfenen Gegenständen sagt man fast immer, daß sie »fliegen«. Dabei kann die Betonung entweder auf der Geschwindigkeit liegen, denn die schnellsten* Ortsveränderungen, die wir auslösen können, sind allokinetische Projektionen, bis hin zu realer Blitzartigkeit*, d.h. zum Wurf usw. als einer einzigen scharfen Kontur*, oder als der Hauptreiz der Wirkung fungiert ihre bei einem Sprung nach oben kaum in Erscheinung tretende zeitliche Extension, also die Flugdauer*, die oft durch die Segelfähigkeit* des geworfenen Gegenstandes zusätzlich verlängert und dramatisiert werden kann. Noch stärker wird der sich dabei anbahnende Erwartungskontrast* natürlich beim Bumerangeffekt*. Überhaupt ist die eigentliche Unmöglichkeit der erreichten Wirkung ein häufiger Grund für formale Spielereien auf das Thema der Projektion, z.B. für den Springbrunnen* (Wasser, das himmelwärts* fließt) oder für jenen »Mehrfachwurf«*, der durch das Abprallen eines Balles* oder eines Steins von der Felsenwand* bzw. von der Wasseroberfläche* möglich wird.

 

Das Ende der Ortsveränderung. Ziele, die man berühren oder vermeiden soll. Die Homokumulativität des Treffens. Erschwerungen dieser Aufgabe und ihre Eignung für symmetrische Wettkämpfe. Plötzliches Anhalten. Fangen und Entkommen.

Besonders bei ausgelösten Ortsveränderungen, die sich häufig sofort nach dem Anfang ihres Verlaufs der Kontrolle des Bewirkers entziehen, wird das Ende der Veränderung gern zu einem offenen Problem, um das herum sich eine weitere Reihe von Formphänomenen ansammelt. Erstens ist dieses Ende oft örtlich genau vorbestimmt, d.h. es gibt ein Ziel, das der Bewirker treffen soll (auch autokinetisch, z.B. beim Abschluß eines Sprunges). Die Fülle der sich daraus ergebenden Möglichkeiten soll nur durch die Vielfalt der Ziele angedeutet werden, von Punkten und Linien über Spielflächen oder Räume (Öffnungen, Behälter, Tore usw.) bis zu Gegenständen, Personen – so auch beim Zuspiel innerhalb einer Mannschaft – oder Tieren. Außerdem kann man die Aufgabe natürlich auch umkehren: der Bewirker soll irgendeins von diesen Dingen als »negatives Ziel« vermeiden, zuweilen in der etwas paradoxen Kombination »möglichst nahekommen, aber nicht berühren« und in abgeschwächter, aber noch immer erkennbarer Form mitklingend in Fällen, in denen ein Hindernis (beim Wettrennen, Springen, Mikado usw.) nur nicht verrückt, umgestoßen oder gerissen werden darf. Unter anderem kann auch die Erdoberfläche selbst als negatives Ziel fungieren, z.B. wenn man einen Ball durch wiederholte Projektion in der Luft behalten soll.

In welchem Sinne ist also das Treffen eine Anhäufung von Gleichem? Zunächst besteht die Homokumulation dabei in einer exakten Wiederholung* einer vorgestellten Soll-Wirkung, verbunden mit der jedermann geläufigen Schwierigkeit* der Realisierung der Ortsveränderung innerhalb eines eng umgrenzten Entfernungs- und/oder Richtungskegels. Bei sehr kleinen Zielen oder reinen Idealpunkten kann man manchmal nur auf eine Annäherung hoffen; dabei illustriert der Abstand zwischen dem Ziel und dem Endpunkt der tatsächlich bewirkten Ortsveränderung sehr anschaulich die zu minimalisierende Unreinheit* in der Ausführung der Aufgabe. Eine solche Annäherung kann übrigens leicht genau gemessen werden – dieses Motiv wird in stilisierter Form auch von unserer Zielscheibe* aufgegriffen. Eine andere Art derselben Reinheit wird durch möglichst viele* Treffer innerhalb einer Versuchsreihe erreicht. Besonders begeistern natürlich lückenlose* Serien. Das entsprechende Gegenstück dazu auf der negativen Seite ist ein ebenso lückenloses Vermeiden* bzw. möglichst wenige* Berührungsfehler. (So stellt man im Spiel unter anderem gern fest, wie lange* der Ball nicht auf den Boden fällt.) Und wenn man mit einem Treffer nach der ersten Einheit der Bewirkungshandlung praktisch gar nicht rechnen kann, versucht man wenigstens die Anzahl der benötigten Einheiten zu minimalisieren* wie beim Golf*.

Ein Großteil des Formreichtums beim Treffen geht auf das Konto von verschiedenen zusätzlichen Erschwerungen*. Da gibt es die Distanzvergrößerung* über das gewohnte Maß hinaus, mit zunehmendem Erwartungskontrast*, wenn jemand trotzdem nocht trifft; starke zeitliche Begrenzung* der Bewirkungshandlung wie beim Schnellschießen*, pariert durch Treffer dicht* hintereinander; Zielen mit verbundenen Augen* bzw. Springen durch Sichtblenden*; Trefferverkettungen* (Billard*, Kegeln*) usw. Warum ist der Fußball* heute das weltweit beliebteste, obwohl eindeutig sinnloseste, ja komischste Ballspiel? Unsere Antwort lautet: weil er als einziger in seiner Familie das Zielen mit dem Arm verbietet* und damit das Treffen ganz außerordentlich erschwert, d.h. indirekt intensiviert*, wie man es schon an der durchschnittlichen Höhe des Ergebnisses ablesen kann. (Eine ähnliche Rolle spielt das Greifverbot*, z.B. beim Volleyball*,  wo es zugleich minimale* Flugunterbrechungen garantiert.) Doch die gewaltigste Erschwerung bedeuten wahrscheinlich bewegliche* Ziele, darunter als Prototyp Tiere beim Jagdsport*, aber auch autokinetische – vom Seilspringen* (= Vermeiden) bis zum Voltigieren*. Die meisten Zielsprünge im Zirkus profitieren selbstverständlich wieder als Formen von dem ihnen innewohnenden kinetischen Risiko*. Dasselbe gilt für die knappe Vermeidung beim Schwertertanz*, Messerwerfen* oder Springen durch brennende Ringe*.

Das ist aber noch immer nicht alles. Dieser Aspekt der Ortsveränderung eignet sich nicht nur, wie schon gewohnt, ganz ausgezeichnet für allerlei Parallelwettkämpfe*, er ist auch die vermutlich bekannteste Fundstelle der symmetrischen Wettkampfform: »treffen und zugleich Gegentreffer verhindern* und es durch beide Strategien zusammen auf mehrere* Gewinnpunkte bringen als der Gegner«. Beim Boxen* oder Fechten* sind die Kontrahenten selber einander das Zielobjekt. Noch zahlreicher sind jedoch Wettkämpfe, in denen sie als »Beschützer« von toten Zielen agieren, die sie mit allen durch die Spielregel zugelassenen Mitteln vor Treffern zu bewahren versuchen (bis hin zum American Football*; sehr schön ausgeprägt auch beim Volleyball). Davon soll allerdings ein anderer Wettkampftyp unterschieden werden, bei dem es nicht auf die Abwehr des Treffers ankommt (beim Tischtennis* ist sie z.B. sogar verboten), sondern auf den Gegentreffer* – meist durch Zurückschlagen –, der unmittelbar darauf erfolgen muß. Eine der Konsequenzen ist bei allen Typen eine weitere Erschwerung* der Bewirkung durch die Einengung der faktischen Zielfläche auf die jeweils am schlechtesten gedeckten Teilareale, wo man noch am ehesten eine Chance hat, die Verhinderung bzw. Erwiderung des Treffers zu hintertreiben.

Ein zweiter Ansatzpunkt für Formentfaltung ist die Art und Weise, wie eine Ortsveränderung zum Stillstand kommt. Homokumulativ ist dabei ein plötzliches*, also scharf konturiertes* Anhalten (ohne Ausrollen usw.), zumal im Kontrast* zu einer bis dahin sehr schnellen Ortsveränderung – typische Beispiele: der sofortige Übergang in die Regungslosigkeit* beim Absprung am Ende einer Turnübung oder das Steckenbleiben* eines im Flug rotierenden* Messers (= Erschwerung). Besonders bekannt ist in diesem Zusammenhang natürlich eine aktive Immobilisation durch Fangen* mit Händen oder verschiedenen Hilfsmitteln (wieder auch als Sich-selber-Fangen denkbar, z.B. bei Trapezfliegern). Das Kleinkind ist bei seinen Wurfspielen* schon von der einfachsten Verwirklichung dieses Prinzips begeistert, vor allem wegen ihrer Schwierigkeit* für Uneingeübte; wir Erwachsenen behalten uns unsere Bewunderung vor für Jongleure*, die mit vielen* Gegenständen auf einmal so spielen können, sie mit den ungeeignetsten* Körperteilen immobilisieren usw. Interessant und deshalb leicht formalisierbar ist auch ein Erwischen auf scheinbar sichere Entfernung, also mit Erwartungskontrast*, von der Gleitschlinge* des Cowboys bis zur Jagdfalle*. Unter anderem ist Fangen eine von den möglichen Methoden der Trefferverhinderung* (sehr im Vordergrund beispielsweise beim Völkerball*, mit der Erdoberfläche als zweitem und eigentlichem Ziel). Es gibt aber selbstverständlich auch spezialisierte asymmetrische Wettkämpfe auf das Thema »gefaßt werden oder dem Gegner entschlüpfen«*.

Ringt ein Immobilisierter weiterhin um seine Freiheit, dann entsteht freilich eine völlig neue Situation, nämlich eine – ebenso asymmetrische – Auseinandersetzung über die Frage »Ortsveränderung ja oder nein«*. Zur höchsten formalen Brillanz bringen diese Art des Wettkampfs die Entfesselungskünstler* (durch vielfache*, erfahrungsgemäß unüberwindliche* Verhinderung, die in kurzer Zeit* und bei großem Risiko* dennoch überwunden wird). Aber auch eine wirkliche Flucht aus der Gefangenschaft* ergibt oft eine kaum weniger eindrucksvolle Geschichte.

 

Der Wagen als ein Beispiel für formal-homokumulierende Erfindungen. Die Entstehung des Radsatzes. Wer steckt das interessanteste Ding an die Achse. Tierpuppen auf Rädern. Wie wenig es den alten Mayas bis zum richtigen Wagen gefehlt hat.

Damit sind wir nun soweit, daß wir an die erste konkrete Überprüfung  unserer Hypothese über formal-homokumulierende Erfindungen denken können.

Der ernsthafteste Prätendent auf einen solchen Status im Bereich der Ortsveränderung ist nach meiner Einschätzung die Erfindung des Wagens. Damit diese Erfindung die Funktionalitätsschwelle erreichte, mußten nämlich mindestens fünf Elemente (Rad + Achse + Rad + Behälter + Fracht) auf eine ganz bestimmte Art zusammengesetzt werden. Einzeln genommen handelt es sich dabei zwar um ziemlich einfache Gebilde, aber ihr Ineinandergreifen ist äußerst artifiziell, d.h. kunstvoll und unnatürlich, und man kann praktisch ausschließen, daß es von einem wenn auch noch so klugen Sumerer gleichsam in einem Schub hätte erdacht oder erbastelt werden können. Deshalb wollen wir hier mal sehen, was herauskommt, wenn man sich die Erfindung des Wagens mit der zweckfreien Extremalisierung des Rollens – als einer formal privilegierten Art der Ortsveränderung – zu erklären versucht.

Als gegeben können wir irgendeine Urform des stationären Rads voraussetzen, wenn nötig als Spielzeug. Der Ausgangspunkt unserer besonderen Entwicklungslinie wären demzufolge zwei oder mehrere »Räder« (Scheiben) auf einer »Achse« als ein typisch zufälliger Initialzusammenschluß, zu dem es im Spiel ohne weiteres kommen konnte. An dieser Anreihung war nun nach unserem Dafürhalten etwas, was den Menschen von allem Anfang an intrinsisch befriedigte und ihn veranlaßte, sie beizubehalten, nämlich die prinzipielle Möglichkeit eines beliebig verlängerten* Rolleffekts. Natürlich kann dieser Effekt uns heute kaum noch beeindrucken, aber wir dürfen dabei nicht vergessen, daß das überhaupt die erste rollende Konstruktion war, die demnach für den damaligen Menschen neben der Neuheit auch einen starken Erwartungskontrast* (»Daß man so etwas bewirken kann!«) enthielt.

Klar ist allerdings, daß es mit der Verwirklichung dieser Formmöglichkeit zunächst ziemlich haperte und daß die vom Zufall hervorgebrachte Anordnung vieler Verbesserungen bedurfte. Doch eben daraus ergab sich die Perspektive einer allmählichen Ausdehnung der tatsächlichen Rollstrecke* und -dauer*, d.h. eines ins Auge springenden Extremalisierungsprozesses. Dieser und mit ihm die Homokumulativitätsgier waren es folglich, die mit der Zeit zur optimalen Gestaltung des künftigen Radsatzes führten: a) Räder dicht an beiden Enden der Achse (und zwar, wenn es anfangs mehrere waren, die größten zwei, mit allen übrigen dazwischen), b) genau gleich groß und c) von möglichst regelmäßiger Rundung – denn all das garantierte die maximale Extensität der Rollwirkung bzw. Leichtigkeit* ihrer Auslösung.

Und mehr oder weniger parallel dazu schälte sich offenbar ganz von selbst ein viertes Element der Struktur heraus. Neben überzähligen Rädern lagen auch Leinen zum Ziehen oder Stangen zum Vor-sich-her-Schieben nahe, und jedes solche Anhängsel verkörperte wenigstens potentiell einen weiteren formalen Reiz, nämlich den eines sichtlich in der Luft schwebenden* und so über die Schwerkraft triumphierenden* Gleitens. Nachdem dieser Reiz und in seiner Folge das vierte Element selbst voll bemerkt wurden (und es ist nicht schwer einzusehen, daß sie sich dem Menschen gerade mit dem Fortschreiten des oben geschilderten Extremalisierungsprozesses immer stärker aufdrängten), kam es vermutlich zu vielen Diversifikationsversuchen, d.h. man band oder steckte begeistert alles mögliche an die Achse zwischen die Räder und begann auch bald, verschiedene Gegenstände eigens zu diesem Zweck zu durchlochen, bis hin zur krönenden Verallgemeinerung, nach der jedes Ding, das Löcher verträgt, durch eine solche Beradung ins Rollen gebracht werden kann.

Auf den ersten Blick war das nur eine Reihe von – zumindest am Anfang wieder rein zufälligen – Rekonstituierungen des Sachverhaltes, doch wird bei genauerer Betrachtung eine zweite, eng mit ihnen verzahnte Extremalisierungslinie sichtbar, die die Auswahl zwischen ihnen unbemerkt gesteuert haben dürfte. Die ersten mitfahrenden Anhängsel waren wohl mehr oder weniger »nichtssagend«, d.h. nur sehr schwach besetzt mit spezifischen Erwartungen. Bei ihrem anschließenden Variieren kam es jedoch früher oder später vor, daß man auch solche Gegenstände auf Räder stellte, bei denen das Nicht-Rollen viel deutlicher als eine selbstverständliche Implikation eines reichen und fest umrissenen Bedeutungskomplexes auftrat; und die Folge war ein entsprechend starker Erwartungskontrast*, der offensichtlich gerade derartige Kombinationen formal begünstigte. Ihren Höchstwert erreicht diese Abart der Homokumulation übrigens in Fällen, in denen das Stocken des Objekts seit jeher als ein bedauerlicher Mangel empfunden wurde und in denen die Beradung gleichsam einen heißen Wunsch erfüllt (= zusätzliche Intensivierung* des Kontrastes). Darin liegt z.B. das Geheimnis der Beliebtheit jener Tierpuppen auf Rädern*, mit denen wir wohl alle irgendwann einmal gespielt haben.

Und hier kommt uns eine glückliche Fügung zu Hilfe: auch die alten Mayas besaßen solche Tierpuppen, obwohl kein Volk der neuen Welt den Wagen kannte, dem sie das Prinzip hätten abgucken können. Oder mit anderen Worten, sie sind den beiden postulierten Extremalisierungslinien tatsächlich bis zu diesem Punkt gefolgt, und zwar anscheinend ohne die leiseste Ahnung, wohin die Linien letzten Endes führten. Ein schöneres Beispiel für unsere und keine andere Motivation am Werk kann man sich kaum wünschen.

Um den Wagen zu erfinden, hätten die Mayas nur noch eines tun müssen, nämlich weiterhin spielend die Beine irgendeines Behälters mit Rädern versehen, wodurch sich automatisch das fünfte und letzte Element der Grundstruktur ergibt. Warum haben sie das nicht getan? Wir wissen es nicht; wir sehen sie nur, wie sie vor dieser unsichtbaren Rekonstituierungsbarriere hilflos herumstanden und auf die Gnade des einzigen noch ausstehenden Zufalls warteten. Aber grundsätzlich war das Hindernis doch schon viel weniger hoch und seine Überwindung unvergleichlich wahrscheinlicher als am Ausgangspunkt der Entwicklung: an sich haftet nämlich dem Einfall, analog zur Tierpuppe und mit einem ähnlich reizvollen Erwartungskontrast nun auch die Spielzeugausführung z.B. einer Tragbahre nach demselben unorthodoxen Rezept in Bewegung zu setzen und damit in einen rollenden Untersatz* zu verwandeln, nichts Übermenschliches an.

Auf jeden Fall blieb diese Rekonstituierung, nachdem sie einmal passiert war, wieder mit ziemlicher Sicherheit erhalten. Zwar war das Fahren* eines Objekts im Behälter vielleicht nicht mehr mit einem so starken Eindruck des Schwebens in der Luft verbunden, aber da es das Objekt durch keinerlei Löcher beschädigte, machte es das Rollen einer weiteren großen Klasse von solchen Objekten zugänglich; am wichtigsten war dabei wohl die Möglichkeit der Autokinese, die wenigstens bei Kleinkindern bald gar nicht mehr so abwegig erschien, und alles zusammen ergab eine mindestens ebenso beeindruckende Neuauflage des schon erwähnten Erwartungskontrastes*. Der Neid der Erwachsenen könnte dann zur Überschreitung des bis dahin anzunehmenden Spielzeugmaßstabs geführt haben. Diese Phase der Erfindung ist für uns nicht mehr so entscheidend, weil schon sehr bald nach der ersten Beradung eines Behälters eine intelligente Extrapolation bis hin zum richtigen Wagen und mit ihr eine Entformalisierung realerweise möglich wurde. Allerdings wissen wir, daß sich echte Funktionalität in der Praxis äußerst zögernd einstellte und daß der Wagen in Wirklichkeit noch lange eher ein kostbares Riesenspielzeug blieb, d.h. daß der Homokumulativitätsgier über weitere große Zeiträume die führende Rolle bei der »Doppelabsicherung« seiner Entwicklungslinie zufiel.

 

Vom Summen eines gespannten Seils bis zum Schießbogen. Die ersten Geschosse und Projektionsgeräte. Wie wurde der Speer zum Pfeil. Andere Erfindungen auf das Thema der Ortsveränderung.

Ähnlich artifiziell ist, besonders wenn man dabei die richtige Handhabung mit berücksichtigt, die Verknüpfung der einzelnen Bestandteile beim zweiten Hauptverdächtigen, nämlich beim Schießbogen. Unsere Rekonstruktion dieser Erfindung kommt zunächst mit einem vorgefundenen gespannten Seil aus, mit dem sich der Mensch aus irgendeinem Grund beschäftigte – vielleicht reizte ihn der durch seine Manipulation zu erzeugende Summton so lange, bis ihm dabei ein Zupfgerät aus der Hand glitt und wegflog. Jedenfalls bestand der Initialzusammenschluß der Information, die zum Schießbogen führte, nach unserer Auffassung einfach darin, daß man die Projektionskraft* eines solchen Seils und damit, wie beim Radsatz, eine schon an sich homokumulative Spielart der Ortsveränderung entdeckte.

Auch hier war gleich an Ort und Stelle eine erste Steigerung der Wirkung im Sinne der Extensivierung* des Fluges möglich, voraussichtlich verbunden mit der Überprüfung verschiedenster Projektile. Theoretisch ist es nicht auszuschließen, daß sich darunter auch der Speer befand, d.h. daß es schon in diesem Stadium zu einem kurzen Aufflackern der inhaltlich-instrumentalen Motivation kam. Das Ergebnis war allerdings unausbleiblich so frustrierend, daß der Gedanke rasch wieder verworfen wurde (Typ A der formal-homokumulierenden Erfindung) – das optimale Geschoß sah vorerst ganz anders aus. Nur das Formverhalten kann also auch für die Umwandlung der ursprünglichen ortsfesten in eine transportable Vorrichtung ausschlaggebend gewesen sein. Und die Vorrichtung erinnerte keineswegs an den Schießbogen, weil dieser bei jedem anderen Projektil außer beim Speer (Pfeil) die Projektion stark behindert. Die besten Resultate ließen sich vermutlich mit der Y-Form, d.h. mit einem entsprechend elastischen Gabelast erzielen, obwohl es damals vor vielen Jahrtausenden natürlich noch keine Gummibänder gab, die bei dem gleichartigen rezenten Kinderspielzeug* die Aufgabe so bedrohlich wirkungsvoll erfüllen. Doch brachte ein solches tragbares Projektionsgerät offensichtlich trotzdem beträchtliche formale Fortschritte mit sich; vor allem wurde durch es neben der räumlichen Ausdehnung des Wurfes noch eine zweite Extremalisierungslinie eingeleitet, weil man jetzt schon allmählich an ein genaueres Zielen und Treffen* denken konnte, mit allen vorhin aufgezählten Folgen auf dem Gebiet der Homokumulation. Es zeichnet sich also einmal mehr das Standardmuster eines Staffellaufs ab, in dem eine logisch geordnete Reihe von Formen eine »Idee«, die gar keine zu sein braucht, einander weiterreicht.

Wie kommen wir aber nun zum Pfeil? Über den richtigen Speer, wie gesagt, sicherlich nicht; doch der Eindruck seiner Projektion war damals vermutlich so zentral, daß es trotzdem immer wieder zu Versuchen kam, dem Kinde zuliebe eine entsprechend verkleinerte Version der Speerwaffe aus dem eben beschriebenen Gerät abzuschießen, obwohl man damit nicht die geringste Nützlichkeitserwartung verband. Die Schwierigkeiten blieben jedoch trotz dieser ahnungslosen Anpassung so lange unüberwindlich, bis jemand aus Geschicklichkeit oder Ungeschicklichkeit der Tendenz des »Pfeils« nachgab, sich in die Gabelung der Y-Form zu senken, und ihn an die andere Hand angelehnt gegen den Griff hin abfeuerte. Von dieser Rekonstituierung bzw. von den ersten daran anknüpfenden Extremalisierungserfolgen* war es dann wieder nicht mehr sehr weit bis zur Funktionalitätsannahme und einer durch diese Annahme motivierten endgültigen Vervollkommnung des Geräts und der Haltetechnik. Das Gesamtergebnis unseres Erklärungsversuchs ist demnach vielleicht ein kleiner Umweg – ähnlich wie schon beim Wagen –, dafür aber auch hier ein Fortschritt nach menschlichem Kreativitätsmaß.

Auf das Thema der Ortsveränderung gibt es natürlich verschiedenste Erfindungen, von denen wir möglicherweise noch etliche der Homokumulativitätsgier des Menschen verdanken. So wurde z.B. auch das Segelschiff erst bei einem Komplexitätsgrad wirklich nützlich, angesichts dessen man sich mit guten Gründen abermals fragen kann, wie er ohne länger andauernde und ahnungslos zielstrebige Spielereien der hier geschilderten Art erreicht werden konnte. Dasselbe gilt für künstliche Bewässerung. Und von der Projektionskraft des Schießpulvers wissen wir sogar positiv, daß sie erst viele Jahre, nachdem sie die Chinesen entdeckt hatten, in einer anderen, weit entfernten Kultur richtig instrumentalisiert wurde – das ist schon der zweite konkret überprüfbare Existenzfall jener Zwischenbekräftigung, nach der wir suchen.

Tatsache ist, daß sich bei diesen und bei vielen anderen Erfindungen mühelos ähnliche formale Reihen aufstellen ließen wie oben. (Im Falle der Bewässerung ginge es beispielsweise um jenes »Gleiten«* des zum Abfließen gebrachten Wassers, das von jedem Kind ganz spontan als eine homokumulative Information verstanden wird und es zur Ausgrabung von Rinnen bzw. Aufschüttung von Erde animiert, ersteres wegen der Prolongierung* und letzteres wegen der Verhinderung* des Phänomens.) Allerdings würden dabei meist doch schon erheblichere Zweifel bestehenbleiben darüber, ob ein Eingreifen unserer Motivation für das Zustandekommen der Erfindung wirklich unumgänglich nötig war oder nicht. Deshalb ist es wahrscheinlich ratsamer, hier nur mit einer prinzipiellen Doppelabsicherung der Entwicklung zu rechnen und sich auf keine der beiden Möglichkeiten zu versteifen.

Die ersten zwei Funktionalitätsstufen sind hingegen, wie man aus unserem Panorama der Ortsveränderung ersehen kann, fast allgegenwärtig; denkbar ist, daß sich ihr Einflußgebiet bis hin zur Erlernung des aufrechten Ganges erstreckt, denn auch dieser bedeutet für den Säugling als ein typisches »Obenbleibenwollen« unter anderem sicher einen mit extremen Schwierigkeiten* verbundenen und folglich äußerst homokumulativen Wettkampf mit der Gravitation*.

 

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