Level 4 (Grundtext)

Leben mit Homokumulativitätsgier IV

 

Die Formalisierung von Instrumentalhandlungen. Provokation und Absorption. Wie kommt es, daß die Anstrengung der Erfüllung vorgezogen wird. Allerlei Großtaten und die Thematisierung der Existenz. Die Form macht jedes Thema verständlich. Die straffe Komposition eines Agons. Seine Typologie. Die entscheidende Rolle seiner Strukturformel. Entschlossenheit trotz Gefahr als Vorbedingung. Die Natur der agonalen Maßnahmen. Homokumulationseffekte aus ihrer Verflechtung. Wie wird Spannung erzeugt und verschärft. Die Spätphase des Agons und die endgültige Entscheidung. Das jähe Erlöschen des Interesses. Sonderformen wie Peripetie und Anagnorismus. Das vereinfachte Strickmuster der Abenteuergeschichte.

 

Freilich besteht unser Ortho-Leben nicht nur aus Konsummationen; die meiste Zeit sind wir vollauf beschäftigt mit instrumentalen Aktivitäten, ohne die es kaum eine Wunscherfüllung gibt. Deshalb ist es gut zu wissen, daß auf der Ebene der erlebenden Reflexion auch solche Aktivitäten ohne weiteres formalisiert werden können (und dabei läßt sich eine eventuelle Nützlichkeit unserer Erlebnisgier nicht mehr so streng ausschließen). Der konkrete Grund für diese Erweiterung der Auswahl ist der recht spezifische Reichtum der Form des Instrumentalverhaltens, deren Akzente sich von den dominanten Homokumulativitätsaspekten eines Konsummationsaktes deutlich unterscheiden.

Als erste Anhäufungsmöglichkeit kommt uns dabei wahrscheinlich die Maximalität* der Bewirkungshandlung und insbesondere ihre zeitliche Ausdehnung* in den Sinn: oft muß man sich um eine Konsummation äußerst lange beharrlich bemühen* oder gegebenenfalls geduldig warten*, ohne auch nur einen Augenblick lockerzulassen* (= Lückenlosigkeit*), bzw. wenn man zwischendurch anderes zu tun hat, dann muß man immer wieder zu demselben Vorhaben zurückkehren* (= Rekurrenz*). Was solche Leistungen möglich macht, ist das bekannte Phänomen der zunehmenden Intensivierung* einer frustrierten Motivation, das wir bereits am Beispiel der Suche nach etwas Verborgenem beschrieben haben – und durch den Aufschub der Befriedigung werden mitunter sogar die unscheinbarsten Wünsche zu glühenden Leidenschaften*, die unsere ganze Energie mobilisieren. Eine Voraussetzung dafür ist natürlich die »Provozierbarkeit« des Motivs, d.h. seine Fähigkeit zu einer derartigen Steigerung. Daher wohl die Beliebtheit von Situationen, in denen es durch extrem erhöhte Anforderungen* oder niederschmetternde Rückschläge* auf die Probe gestellt wird in der Hoffnung, daß es sich durch seine Unbeirrbarkeit* als wirklich homokumulativ erweisen wird.

Dabei ist es wichtig zu betonen, daß sich das Formverhalten keineswegs nur auf die Beobachtung von fremden Instrumentalhandlungen beschränkt, sondern eigene mit einschließt. Die Beschäftigung mit einer Aufgabe kann nämlich den Menschen so restlos beanspruchen, daß er in seiner Absorption* nichts anderes mehr wahrnimmt und vor allem die Zeit ganz vergißt, und diese charakteristische Bereinigung* seines Strebens erweckt in ihm auf der Ebene der erlebenden Reflexion ein manchmal geradezu ekstatisches Glücksgefühl, das im Gegensatz zur Konsummation praktisch keiner zeitlichen Begrenzung unterliegt* (und damit das Problem der Dauer des Genusses aus der Welt schafft). Oder mit anderen Worten: unser Instrumentalverhalten enthält paradoxerweise das Potential für eine Art der Befriedigung, die der unbehinderten Wunscherfüllung für immer versagt bleibt.

Hier kann eine weitere Form der Kritik an Erlebnissammlungen ansetzen, die der Flüchtigkeit eines zu leicht errungenen Erfolges und der daraus resultierenden Anhäufungsneurose den einleuchtenden formalen »Sinn« einer länger anhaltenden zielstrebigen Tätigkeit entgegenstellt. (Übrigens erscheint eine solche Tätigkeit vielfach aufgelockert durch eingestreute Wahrnehmungen des instrumentalen Fortschritts* als sekundäre Ortho-Konsummationen.) Im Lichte dieser Kritik verblaßt die eigentliche Endhandlung leicht zu einer abschließenden Formalität, ja zu einem gefürchteten Antiklimax, und wird nicht selten bewußt hinausgezögert; was sich der Mensch in einer solchen Gemütsverfassung wirklich wünscht und sucht, sind Schwierigkeiten*, die er nicht so schnell bewältigen wird. Im Extremfall behauptet er sogar, daß sich eine Anstrengung trotz eindeutigem Mißerfolg gelohnt hat, denn »nicht das Ziel ist wichtig, sondern der Weg«*. Rein inhaltlich, d.h. ohne die Belohnung durch formale Erlebnisse aus dem Instrumentalverhalten bleibt eine derartige Einstellung offenbar völlig unerklärlich.

Nichts anderes als ins Riesenhafte gesteigerte und mit Hindernissen vollgespickte Instrumentalhandlungen sind unter anderem auch jene wirklichen oder geglaubten Großtaten*, deren Bewunderung als die Hauptquelle des Ruhms fungiert. Und wieder ist es dem Bewunderer oft egal, ob es sich dabei z.B. um einen brutal egoistischen sozialen Aufstieg* handelt oder um die selbstloseste moralisch-ethische oder kulturogenetische Leistung*, wenn sie nur auf ihrem jeweiligen Gebiet zu den imposantesten, den in irgendeiner Hinsicht homokumulativsten Bewirkungen zählen (ähnlich wie auf der anderen Seite ausuferndes unbewirktes Glück* fasziniert; wahrscheinlich kann sogar ein hoher gesellschaftlicher Rang an und für sich* eine formale Auszeichnung bedeuten). Eine solche Großtat verkörpert das Maximum der Extensität, denn sie ist in aller Regel eine Lebensaufgabe*, deren Realisierung samt Vorbereitung die besten Jahre eines Menschen in Anspruch nimmt. Außerdem gehört es zu ihren Kennzeichen, daß sie sich meist nicht ohne Spezialisierung und eine gewisse Einseitigkeit denken läßt. Nur die Helden der naiven Fiktion können in allen* Tätigkeitsbereichen mühelos Spitzenleistungen* vollbringen – in Wirklichkeit impliziert das bekannte ästhetisierende Ideal einer universal-harmonischen* Entwicklung der Persönlichkeit fast unausweichlich ein mittleres Leistungsmaß, d.h. diese zwei Arten der Homokumulativität lassen sich kaum gleichzeitig extremalisieren.

Damit rückt in unser Blickfeld jener allgemeine »Thematisierungseffekt«, durch den für eine individuelle Existenz ein Inhalt aus irgendeinem Grund besonders wichtig wird und die meisten Kräfte des Ichs auf sich konzentriert, manchmal sogar in der Form einer regelrechten Monomanie (wie sie z.B. bei der Liebeswerbung konventionell beteuert wird): »nur diese eine Konsummation würde mich glücklich machen, nur für sie lebe ich und an sie denke ich ununterbrochen, selbst noch im Traum; alles andere ist mir gleichgültig« usw. Es leuchtet ein, daß bei einer solchen Fixierung die Intensität der Motivation, die Tiefe* des Gefühls und die Leidenschaftlichkeit des Engagements* absolute Spitzenwerte erreichen. Entscheidend für den formalen Reiz eines deutlich hervortretenden Themas ist jedoch in den meisten Fällen der Umstand, daß grundsätzlich jede Instrumentalhandlung einen gewissen Konsummationsverzicht und eine Minderung des Komforts nach sich zieht: man muß einem Ziel zuliebe manchen primären Genuß fahrenlassen und sich statt dessen mancher Unannehmlichkeit aussetzen. Und der Monomane ist typischerweise bereit, für seine Obsession fast jedes derartige Opfer in Kauf zu nehmen. Hier triumphiert also das thematische Motiv über alle anderen, erfahrungsgemäß mindestens ebenso starken, deren Vernachlässigung demzufolge ein sehr anschauliches indirektes Maß* für die Intensität des Themas liefert (zumal aus der Perspektive des Betrachters; dem Monomanen selbst kommen die versäumten Konsummationen, wie gesagt, so unwichtig vor, daß er vielfach überhaupt kein Manko verspürt, weil ein erwarteter Erfolg im wesentlichen Punkt nach den Gesetzen der sogenannten Kompensation enorm viel aufwiegen kann).

Diese Anschaulichkeit macht jedes noch so befremdende Lebensthema verständlich und nacherlebbar – nicht im Sinne einer Identifikation mit dem Inhalt, wohl aber als Form. Deshalb verliert es sogar bei offenkundiger Sinnlosigkeit nichts von seiner Faszination, eher umgekehrt. Der schönste Beweis dafür ist unsere unwillkürliche Bewunderung einer zerstörerischen Leidenschaft*, die alles um sich herum verwüstet* und schließlich in einer letzten, besonders beliebten paradoxen* Steigerung ihrem Träger selbst* zum Verhängnis wird.

An sich verschiedene, aber thematisch zusammenhängende Instrumentalhandlungen ergeben nun in der Reproduktion eine viel straffer komponierte Geschichte als einfache Erlebnissammlungen, weil alle Schritte, die zu einem Ziel führen, zwangsläufig einen stark vereinheitlichenden* »gemeinsamen Nenner« aufweisen. Die interessantesten Folgen hat diese Art der Straffung wohl in jenem berühmten Sonderfall, in dem die Erfüllung irgendeines Wunsches durch den Widerstand eines anderen Akteurs aufgeschoben wird, der in der Lage ist, die angestrebte Konsummation zu verhindern, und sich nicht durch Bitten erweichen läßt, so daß man ihm das Gewünschte in einem offenen Konflikt abtrotzen muß.

Die beste Bezeichnung für eine solche Situation, die selbstverständlich zu den fundamentalsten Situationen des menschlichen Lebens gehört, ist vielleicht agon. Unter anderem sind wir ihr schon beim Wettkampfspiel und beim Sport begegnet, die uns ja gleichfalls formale Erlebnisse aus einem strenggenommen instrumentalen Ortho-Verhalten, nämlich aus Bewirkungshandlungen liefern – und ein Phänomen wie z.B. der Reiz der Suche wird erst durch diese Erlebniskomponente vollends klar. Nach den Kriterien unserer Typologie der Wettkämpfe gibt es sicher auch den parallelen Agon, bei dem sich mehrere Konkurrenten um etwas bewerben, was nur einer bekommen kann, obwohl sich die agonale Stimmung erst bei einer gegenseitigen (= symmetrischen) Behinderung so richtig verdichtet; die meisten Konflikte im Leben sind aber wahrscheinlich asymmetrisch und sehen zwei deutlich spezialisierte Rollen vor (»etwas erreichen« / »etwas vereiteln«). Auch von den möglichen Paarungen haben wir einige schon bei der Analyse der Bewirkung behandelt, so den Streit mit sich selbst, der z.B. bei einer halbherzigen Thematisierung der Existenz eine große Rolle spielen dürfte, oder jenen Kampf mit einer objektiven Schwierigkeit, der nahezu jeder Instrumentalhandlung einen agonalen Anflug verleiht, weil Hindernisse so leicht personalisiert werden. Der weitaus typischste Gegner ist jedoch ein anderes Wesen, höchstens sekundär verbündet mit verräterischen Agenturen im Inneren des »Helden«: nur bei dieser Paarung lassen sich nämlich die formalen Möglichkeiten des Agons wirklich voll ausschöpfen.

Ein wichtiges Charakteristikum von Konflikten besteht freilich darin, daß sie auch den unbeteiligten Beobachter aus seiner Reserve hervorlocken und ihn zwingen, Partei zu ergreifen, sich mit einer Seite zu identifizieren und ihr von da an den Daumen zu halten; und das geschieht meist mit einer moralischen Begründung, die man auf irgendein inhaltliches Motiv zurückführen kann. Darum müssen wir selbst bei einer prononciert ästhetischen Einstellung zum Agon in der Regel mit einer Mischmotivation rechnen. Aber ebenso außer Zweifel steht, daß bei diesem Typ der Ereignisverkettung auch der kompositionelle Artismus unserer Fiktion seinen Höhepunkt erreicht (obwohl die Dramaturgie des Zufalls beim sportlichen Wettkampf bzw. ganz allgemein im wirklichen Leben manchmal nicht weniger zufriedenstellende Ergebnisse zeitigt). Dabei bleibt die Grundstruktur des Agons immer gleich – es handelt sich fast schon um eine mechanische Formel (die also besonders wenig Neuheit enthält), und doch ist gerade diese Formel die Ursache des nie ermüdenden Appetits auf agonale Geschichten, denn ohne sie bleibt von einem Märchen oder einem Action-Film kaum etwas Merk-Würdiges übrig, während sie, mit ein wenig Geschick angewandt, jedes thematische Desinteresse überwinden kann. Entscheidend ist demgemäß wieder der Weg zum Ziel, das Wie, also die formale Komponente; selbst die plumpste Schwarzweißmalerei in der Darstellung von agonalen Ereignissen ist allem Anschein nach oft nur ein Vorwand für CIF-Konsummation.

An sich ist die Kompositionsformel, von der wir sprechen, nicht unbekannt. Wir wollen lediglich ihr Homokumulationspotential ausloten, und auch dabei wird uns nicht mehr das allgemeine Zusammenspiel der Fakten innerhalb einer Komposition interessieren, sondern nur noch jene Besonderheiten ihrer Auswahl und Anordnung, die gerade den Agon in ein einzigartiges formales Erlebnis verwandeln.

Vielleicht beginnen wir am besten mit einer Wiederholung: alle im folgenden geschilderten Kunstgriffe werden erst durch den Aufeinanderprall von zwei intensiven* bzw. intensivierbaren Motivationen möglich, deren Stärke sich unter agonalen Umständen als ein unbeugsamer, manchmal geradezu fanatischer Siegeswille* manifestiert. Daß diese Bedingung  oft genug erfüllt wird, dafür sorgen sehr verschiedene Faktoren, so die schon irgendwo erwähnte Provokationskraft des Widerstandes, wegen der sich die beiden Bestrebungen gegenseitig aufschaukeln, der thematische Stellenwert des Zieles oder die Größe der Bedrohung, die eine intensive Gegenwehr einfach erzwingt. Die wichtigste unmittelbare Folge ist die Gefährlichkeit des Agons, in dem jede Menge Haß und Rachsucht* erweckt werden kann, was vielfach zu rücksichtslos aggressiven Kampfhandlungen führt. Besonders typisch ist in diesem Zusammenhang eine körperliche Mißhandlung des Gegners, dem man auf irgendeine Weise Schmerz zuzufügen versucht, oder sogar die Gefährdung  seiner physischen Existenz: beim klassischen Agon geht es immer auf Leben oder Tod. Wer ein solches Risiko* unerschrocken auf sich nimmt, der ist sicher ein Held* – und es kommt nicht von ungefähr, daß dieser Ehrentitel traditionell der Hauptperson jeder Geschichte zuerkannt wird. Geht es um den Sieg einer Gruppe oder des einzelnen als Träger eines moralischen Prinzips, dann darf der Held sein Leben sogar tatsächlich opfern*! Das ist wohl der höchste Preis, der für ein Thema gezahlt werden kann, und das beeindruckendste, zu Recht auch formal bewunderte indirekte Maß für die Intensität des dahinterliegenden Siegeswillens.

Ein ähnliches Maß ist übrigens die Entschlossenheit des Widersachers*, denn als Form ist ein Agon unter anderem auch ein Vergleich zwischen zwei Motivationsanhäufungen, von denen sich eine als »noch größer«* erweisen soll als die andere, schon an sich imposante; daher das inhaltlich zweckwidrige Interesse an einem möglichst harten* Gegner.

Die nächste Besonderheit, die wir erwähnen müssen, ist die konkrete Natur der agonalen Maßnahmen. Die einzelnen Schritte auf dem Wege zum Ziel sind nämlich bei einem Konflikt im Durchschnitt formal viel ergiebiger als beim übrigen Instrumentalverhalten. (Vielleicht gilt die Kampfhandlung gerade deshalb als die höchste Erscheinungsform der Handlung und läßt friedfertige Arbeit irgendwie unzulänglich erscheinen.) Hier kehren viele Themen wieder, mit denen wir uns schon im Rahmen der Bewirkung auseinandergesetzt haben, so unter anderem das Verstecken-und-Suchen*, die Flucht* und die Verfolgung* und insbesondere alle Arten der Destruktion* in Wort und Tat, vom Raufhandel bis zu jener Kriegsführung, die von naiven Chronisten so gern mit der »Geschichte« verwechselt wird. (Sicher ist eine Schlacht*, wenn man sie überlebt, eine großartige und unvergeßliche Erlebnisbeute.) Und dasselbe gilt für »zivilisiertere«, indirekte Kampfformen, bei denen man ja nach Möglichkeit heimlich* agieren bzw. solche Aktionen aufdecken* soll; damit lassen sich so berühmte Motive wie List*, Intrige* oder Situationsfalle* umschreiben.

Soviel über die Elemente, aus denen sich agonale Geschichten zusammensetzen. Und wie greifen diese Elemente ineinander? Im Grunde besteht ein (einfacher) asymmetrischer Wettkampf aus zwei Strängen von Instrumentalhandlungen, oder er wird, logisch gesprochen, von zwei durchlaufenden Prämissen beherrscht. Daraus ergeben sich gleich ein paar weitere Homokumulationseffekte: zum einen beziehen sich beide Stränge auf dasselbe* Ziel, nur in umgekehrter* Richtung als sogenanntes »Spiel und Gegenspiel« (= Teilwiederholung* mit Kontrast*), und zum anderen bilden sie zwei eng verflochtene Rekurrenzreihen* – ja oft nähert sich die gleichmäßige Alternation* von Maßnahmen und Gegenmaßnahmen einem regelrechten Ornamentmuster, man denke nur an die Stichomythie*. Damit aber diese Verflechtung wirklich schön zum Ausdruck kommt, darf der Konflikt nicht zu schnell zu Ende sein; die Gegner müssen sich als annähernd gleich stark erweisen und zunächst eine Zeitlang jeden Schlag wirksam erwidern, so daß sich die Waage hin und her neigt, bzw. wenn die ersten partiellen Erfolge ungleich verteilt sind, dann darf auf jeden Fall noch nichts endgültig und irreparabel entschieden sein. Das führt nun zu einer länger anhaltenden Ungewißheit über den Ausgang des Agons, in der die Akteure und die Beobachter gleichermaßen zwischen brennender Hoffnung und Besorgnis schwanken, und damit zu einer wachsenden Spannung* als dem emotionalen Mittelpunkt der hier beschriebenen Ereignisstruktur.

Die Spannung ist ein weiteres erlebnisträchtiges Produkt unserer instrumentalen Bemühungen, gleichsam eine noch aufregendere* Schwester der Absorption, und wird sicher oft als Form gesucht und genossen. Zumindest als Spurenelement ist sie wohl bei jeder aufgeschobenen Konsummation bzw. bei jedem Appetenzverhalten vorhanden; auch wir haben sie schon öfters erwähnt. Besonders »dramatisch« (sic) wird sie aber anscheinend dort, wo irgendeine Gefahr besteht, und daran herrscht beim Agon wirklich kein Mangel. Außerdem ist die Höhe der Spannung, wie gesagt, eine Funktion der Dauer der Ungewißheit: man kann sie also durch geschickte Verlängerung steigern*, und das ist der Grund, warum die Erfinder von agonalen Geschichten so gern retardierende Momente* benutzen, die eine zu frühe Lösung des Knotens verhindern sollen. Ein anderes Gestaltungsmittel mit ähnlicher Wirkung sind übrigens eingestreute Entspannungspausen*, von denen sich eine neuerliche Zuspitzung dank dem Kontrast* besonders deutlich abhebt. (Überdies können Kampfszenen und idyllische Einlagen wieder als zwei ineinanderverzahnte  Rekurrenzreihen* aufgefaßt werden, die die Geschichte auf ihre Art rhythmisieren*.)

Ein Teil des Spannungszuwachses geht aber zweifellos auf das Konto der neu dazukommenden Entwicklungen in späteren Phasen eines Agons. So wird die Abfolge der Kampfhandlungen meist mit der Zeit immer dichter*, und ähnlich verbreitet ist das Bestreben, es dem Gegner »doppelt heimzuzahlen«*; der typische Agon erinnert oft an einen Übertrumpfungswettkampf. Die Positionen erstarren zusehends und ein Kompromiß wird bald definitiv unmöglich: lieber als nachzugeben sind die Kontrahenten bereit, »bis zum Ende«* zu gehen und nach den äußersten* Mitteln zu greifen, wobei nicht nur eine kulturelle Hemmung nach der anderen wegfällt, sondern auch die eigene Sicherheit immer weniger beachtet wird – man setzt alles aufs Spiel*, ohne sich viel um die Folgen zu kümmern, und die Spätphase des Agons erweist sich als eine klassische Fundstätte des zügellosen, ja beinahe rauschhaften Auslebens*. Durch all das wird die Spannung für den Beobachter manchmal geradezu unerträglich und auf der Ortho-Ebene sicher alles andere als angenehm, und doch sieht er in ihr weiterhin die lustvolle Hauptattraktion einer agonalen Geschichte und schreit noch immer nach mehr. Darin kann man bestimmt keinen inhaltlichen Sinn und auch keine Tendenz zur mittleren Aktivation entdecken.

Aber früher oder später kommt es in den meisten Konflikten dennoch zu einer eindeutigen »Entscheidung« in dem Sinne, daß einer von den Gegnern nicht mehr parieren kann, und wir wissen das: die Erwartung einer solchen Entscheidung ist die eigentliche Quelle unserer Erregung. Bei einer agonalen Geschichte können wir uns sogar darauf verlassen, daß der Konflikt innerhalb einer für uns übersehbaren Erzählzeit entschieden sein wird, und erleben besonders eindringlich, wie der Zeitpunkt der »Krise«, der »endgültigen Abrechnung« usw. von Minute zu Minute unerbittlich näher rückt*. Unmittelbar vor der Entscheidung erreicht die Spannung in einer gut durchgeformten agonalen Geschichte eine markante Kulmination*, die vielleicht bei dem bekannten Motiv der Rettung im letzten Augenblick* (bzw. einen Augenblick zu spät*) besonders deutlich spürbar wird. Die Entscheidung selbst ist dann ihrer ganzen Natur nach plötzlich* und bringt, wie wir es ja bereits in einem anderen Zusammenhang festgestellt haben, einen scharf konturierten Spannungsabfall und eine mit allem Vorangehenden intensiv kontrastierende Beruhigung*, die man wieder als Extremalisierung eines im Ansatz bei jeder aufgeschobenen Konsummation zu beobachtenden Phänomens verstehen soll. Doch interessanterweise glätten sich die Wogen immer erst ganz am Ende einer agonalen Geschichte; die mit Einsatz aller Kräfte erkämpfte Wunscherfüllung ist offenbar an und für sich kaum der Rede wert, d.h. die Geschichte lebt wirklich nur von ihrer – inhaltlich neutralen – Kompositionsformel.

Besonders effektvoll sind bestimmte Sonderformen der Entscheidung. So wissen wir schon, daß uns ein Sieg der eindeutig schwächeren* Seite die tiefe formale Genugtuung eines Erwartungskontrastes* verschafft (deshalb schlägt unser Herz grundsätzlich für Außenseiter). Dramatisch pointiert wird nun ein derartiger Sieg durch die sogenannte Peripetie. Die Peripetie ist hier gemeint als eine allgemeine Figur des Schicksalsverlaufs, bei der der Erfolg zunächst beharrlich einer Seite zuwinkt, so daß die andere trotz ihrem verzweifelten Strampeln als Verlierer festzustehen scheint, und dann werden die Rollen vertauscht*, was zu einer symmetrischen Spiegelung* führt. Liebhaber des Raffinements sehen es manchmal gern, wenn sich eine solche Wende langsam und fast unmerklich fließend* anbahnt; meist werden jedoch die beiden Übergangsreihen dieser zweifachen Veränderung in einem einzigen Augenblick – am besten gleich dem der Entscheidung – zusammengedrängt*, erstens wegen der scharfen Kontur* und zweitens, damit der vorhin genannte Erwartungskontrast nicht verblaßt. Eine wichtige Implikation für jene Seite, die zu früh gejubelt hat, ist dabei ein Anagnorismus*, d.h. das abrupte Ende einer Verblendung* (um die sich beim Agon auch sonst recht häufig alles dreht): jemand erfährt, daß sich das Schicksal gleichsam einer ironischen* Ankündigungssprache bedient und in Wirklichkeit genau das Gegenteil* gemeint hat.

Außerdem kommen bei einer Peripetie am besten zur Geltung die formalen Vorteile jenes extremen Kontrastes* zwischen den Folgen des Sieges und der Niederlage, der sich mehr oder weniger von selbst aus der Erstarrung der Positionen ergibt. Als mögliche Ausgänge des Agons kommen nur der totale Triumph* und die totale Katastrophe* in Betracht, darin sind sich meist beide Gegner einig – oder wie es das Märchen so schön auf die Formel bringt, der Sieger bekommt die Königstochter und das halbe Königreich, und der Verlierer verliert Kopf und Kragen*. Ist nun in den Agon eine Wende eingebaut, dann können beide Kontrahenten beide Ausgänge hintereinander auskosten; der Kontrast, von dem wir sprechen, taucht auch in ihren individuellen Schicksalslinien auf als ein (unvermittelter) Absturz vom höchsten Gipfel des Glücks in den tiefsten Abgrund* bzw. umgekehrt*.

Natürlich beschreibt der Formschatz, den wir hier zusammengetragen haben, gewissermaßen einen Idealtypus des Agons, von dem konkrete Existenzfälle nur eine variierende, aber fast immer unvollständige Anzahl von Elementen realisieren. So sind wahrscheinlich die meisten längeren Erzähltexte der Menschheit wirkliche oder fiktive Abenteuergeschichten und enthalten viele agonale Episoden, denen aber der für eine gründliche Ausnutzung all dieser Möglichkeiten notwendige »lange Atem« fehlt: die Komposition ist typisch sammlerisch sorglos und im Vordergrund stehen ganz andere Homokumulativitätsaspekte, darunter vor allem die Menge* und Dichte* der Peripetien, der Aufs und Abs, die eine ungeheuer »bewegte«, ja stürmische* Linie ergeben und außerdem zwangsläufig alternieren*. Begreiflicherweise darf dabei dem Helden nichts wirklich Verhängnisvolles zustoßen, doch bleiben seine Geschicke trotzdem bunt genug; bald ist er ganz oben, bald ganz unten*, d.h. er erlebt alle Extreme* des Erfolgs und des Mißerfolgs sowie den Kontrast zwischen ihnen am eigenen Leib. Gegen einen solchen Existenzverlauf hat eintöniges Glück keine formale Chance.

 

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