Level 4 (Grundtext)
Leben mit Homokumulativitätsgier III
Die Adoption von fremden Erlebnissen mit oder ohne Einfühlung. Ist eine Neuigkeit wirklich nur neu? Die Verschärfung der Auswahl zwischen den Ereignissen und der unbändige Wille, berühmt zu werden. Ruhm als Anhäufung von Gleichem. Fiktive Erlebnisvorlagen. Die Zweckfreiheit der entsprechenden Kunst. Ihr bewirkungsspezifischer formaler Reiz. Ereignisdarstellung und Erregung von starken Gefühlen. Die Ausschmückung eines reflexiven Gedichts. Klassische und moderne Erwähnungssammlungen. Das Prinzip der Expression. Seine Fragwürdigkeit. Musik: effektvoller Ausdruck oder reine Mathematik? Nicht auszudrückende und absichtlich verborgene Gefühle.
Bisher sprachen wir nur von Ereignissen, die dem Verhaltenssubjekt persönlich widerfahren. Man kann aber auch Dinge, die anderen zustoßen, Begebenheiten, deren Zeuge man wird oder von denen man hört, zu eigenen Erlebnissen umfunktionieren – vor allem um eine Sammlung durch solche Elemente (Inhalte, Extremalitätsstufen oder auch einfach Erlebnisdichten) zu bereichern, die uns unser Leben vorenthält oder die wir uns von ihm nicht zu nehmen trauen. Mit anderen Worten, man kann von einem gemütlichen Lehnsessel aus seine Mitmenschen gleichsam in Vertretung alle Abgründe* der Leidenschaft durchwandern lassen, weil das Verhaltenssubjekt der Meta-Reaktion nicht mit dem Verhaltenssubjekt der Ortho-Reaktion identisch sein muß. Besonders nützlich sind derartige Strategien bei streng verbotenen Früchten: so werden seit jeher unter dem durchsichtigen Mäntelchen der moralischen Entrüstung genießerisch ausgemalte Berichte über irgendwo in der Nähe stattfindende »Orgien«* verbreitet und gierig verschlungen. Und die gleiche Alibi-Funktion hat oft das Etikett »komisch«.
Grundsätzlich kann ein fremdes Erlebnis auf verschiedene Arten und Weisen adoptiert werden. Sehr bekannt ist z.B. die Einfühlung in das Gefühl des anderen, das uns gewissermaßen ansteckt. Am leichtesten kommt es zu einer solchen Ansteckung natürlich bei einer starken Identifikation mit dem Mitmenschen (in der inneren Einstellung oder auch äußerlich, durch Kostüm und Maske), bei der sich die Grenze zwischen eigener und fremder Erfahrung weitgehend verwischt. Hier ist die Reaktion bei beiden Verhaltenssubjekten dieselbe; daneben kann der Nacherlebende aber auch emotional auf Distanz gehen und ein Gefühl eher ästhetisch auskosten oder mit einem anderen, am besten gleich konträr* entgegengesetzten Gefühl erwidern – bis hin zur völligen Teilnahmslosigkeit des eigentlich Betroffenen, bei der erst der Beobachter überhaupt etwas erlebt.
Selbstverständlich gibt es für das Interesse an anderen Schicksalen allerlei inhaltliche (z.B. soziale) Gründe, doch begegnet man auch hier Verkündigungen der inhaltlichen Neutralität (»es möge irgendetwas geschehen«) oder konsummatorischen Wahlakten, die der sozialen Vernunft töricht vorkommen und deshalb oft heftig kritisiert werden. Die Form ist also sicher mit im Spiel; das eigentliche Problem liegt darin, daß bei adoptierten Erlebnissen anderer Menschen traditionell besonders stark die Neuheit einer sogenannten Neuigkeit im Vordergrund steht. Doch die Trennschärfe dieses Begriffs genügt uns nicht, denn wir wählen in einer CIF-Stimmung auch zwischen Neuigkeiten aus und sind nicht einfach mit jeder zufrieden. Es muß sich schon um ein »wirklich aufregendes«* Ereignis handeln, d.h. als letztlich entscheidendes Kriterium erweist sich dabei die Gesamtintensität* unseres Erlebnisses, und die hängt nicht nur von der Neuheit des Ereignisses ab. Darum kehren wir oft lieber noch einmal zu demselben Ereignis zurück, anstatt uns einem neuen zuzuwenden, oder wenden uns einem zu, dessen Neuheit sich darauf beschränkt, daß etwas in der Substanz Uraltes einem neuen Menschen widerfährt (in diese Klasse fallen wahrscheinlich die meisten konsummierten Neuigkeiten). Kurzum, die Homokumulativität der Information fällt bei solchen Wahlakten mindestens ebenso schwer ins Gewicht, denn formal gesehen erwarten wir von fremden Schicksalen offenbar vor allem, daß sie uns mit starken Gefühlen versorgen werden. Und sie können uns bekanntlich unter Umständen ähnlich extrem motivieren wie unser eigenes. Heute ist es besonders die Boulevardpresse*, die diesen Zweig unserer Homokumulativitätsgier durch eine reißerische Aufmachung ihrer Ereignisberichte hemmungslos ausschlachtet, aber der Trend zur Sensation* ist generisch universal.
Dabei ist es wichtig zu beachten, daß sich durch Adoptionsphänomene das Angebot an erlebnisträchtigen Ereignissen um ein vielfaches vergrößert und die Auswahl zwischen ihnen entsprechend verschärft: je breiter der Gesichtskreis, desto kleiner ist im allgemeinen die Chance, daß eine bestimmte individuelle Erfahrung von anderen nacherlebt werden wird. Schon innerhalb einer Primärgruppe, in der das Interesse für den Mitmenschen stets vorhanden sein sollte, macht sich diese Gesetzmäßigkeit bemerkbar; noch um einiges strenger sind die formalen Auflagen, unter denen wir z.B. bereit sind, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ihre privaten Memoiren abzukaufen; und am schwersten fällt es einem anonymen einzelnen, die Aufmerksamkeit der Masse wenigstens für einen Augenblick auf seine Existenz zu lenken – geschweige denn, sich auf längere Zeit dem kollektiven Gedächtnis seiner Kultur einzuprägen.
Daraus werden nun zwei grundverschiedene Schlußfolgerungen gezogen. Einerseits kann die Erfahrung der formalen Unansehnlichkeit des eigenen Lebens so weit internalisiert werden, daß der Mensch es auch selber zu verachten beginnt und seine Homokumulativitätsgier nur noch mit fremden Begebenheiten stillt. Andererseits gibt es aber auch Unerschrockene, die sich der Konkurrenz stellen und alles daransetzen, Ereignisse herbeizuführen, die den Beobachtern einfach eine intensive Erlebnisreaktion abzwingen werden, mit dem Endziel, sich damit in eine möglichst enge Selektion durchzuschlagen. Im bescheidensten Fall bedeutet das z.B., wenigstens einmal in die Zeitung zu kommen*, und weiter oben beginnen dann die paradiesischen Gefilde der sogenannten Berühmtheit*. Ähnlich wie die Auswahl der Ereignisse kann auch das Bestreben, ausgewählt zu werden, im Prinzip ohne weiteres formal motiviert sein. Die beobachtete Aufregung* der Beobachter ist nämlich eine tief befriedigende Belohnung in sich selbst wie jede andere bewirkte* Anhäufung von Gleichem und damit ein ausreichender Grund, sich der Produktion von möglichst unwiderstehlichen »Erlebnisvorlagen« zu verschreiben. Viele Menschen sind heute bereit, fast jeden Blödsinn anzustellen, nur um Aufsehen zu erregen, und die Ruhmsucht der Herrscher früherer(?) Zeiten war wohl schlicht und einfach infantil.
Als ein zusätzlicher Anreiz wirkt dabei sicherlich die ausgesprochen quantitative, ja meßbare Natur des Ruhms, die ihrerseits weitere Homokumulativitätsaspekte in die Waagschale wirft. Dazu gehören: die Anzahl* der Leute, die sich für ein Ereignis interessieren; die räumliche Ausdehnung* der Nachricht, die unter Umständen den ganzen Erdball* umkreisen kann; sowie die Dauer* der Erinnerung, die im Extremfall Jahrtausende* überbrückt und dadurch eine Art von Unsterblichkeit* oder zumindest Unvergeßlichkeit* in Aussicht stellt.
Allerdings dürfen wir trotz dieser starken Konnotation von Verspieltheit nicht übersehen, daß für die Ruhmsucht auch zahlreiche inhaltliche bzw. sekundär entformalisierende Gründe in Frage kommen, denn schließlich wird ein berühmter Mensch erfahrungsgemäß auf Schritt und Tritt begünstigt. (Allgemein verbreitet ist übrigens die Gewohnheit, einzelne Erlebnisse oder ganze Sammlungen als Statuszeichen ins Feld zu führen.)
Es kann aber auch sein, daß wir als Erlebnisjäger nicht einmal bei den Mitmenschen finden, was wir suchen, und der Grund für diese Hochnäsigkeit sind unsere Erfahrungen mit der nächsten und letzten Quelle von Erlebnisvorlagen, nämlich mit der reinen Fiktion. Bezeichnend ist schon die unaufhaltsame Aufblähung von wirklichen Ereigniskernen, die man praktisch jedem Bericht über sie vorwerfen kann; dagegen wirken glatte Lügen fast erfrischend. Zu nennen sind aber wenigstens noch Träumereien, Simulationsspiele – bis hin zum Schach – und nicht zuletzt ein Großteil der Kunst, in der diese Art der Erlebnisbeschaffung ihre höchste Kultivation erfährt. Natürlich ist Kunst als Fiktion nicht »abstrakt«, und es wäre auch hier falsch, die vielen möglichen inhaltlichen Motive für ihre Erfindungen zu unterschätzen, doch zumindest der Standpunkt der emanzipierten Ästhetik ist klar: das einzige Ziel solcher Kunst sei, so insistiert sie mit oft polemischen Untertönen, ein zweckfreies Spiel* mit dem Ereignispotential der Welt, bei dem das Was keine Rolle spielt und nur das Wie zählt, oder in unserer Terminologie die Konsummation der Information als Form. Das ermöglicht es dieser Ästhetik, sich von jedem Wunschdenken und jeder Ersatzbefriedigung (außer einer formalen) zu distanzieren – aber dem sogenannten gesunden Hausverstand bleibt auch ihre Nutzlosigkeit nicht verborgen.
Es leuchtet ein, daß man fiktive Ereignisse besonders frei gestalten kann, unter anderem also auch so, daß sie eine äußerst intensive Erlebnisreaktion auslösen werden, was uns ihren Vorteil vor realen (und realistisch gehaltenen) Ereignisberichten erklärt. Noch wichtiger ist jedoch eine andere Beobachtung: sowohl verschiedene Berichte über dasselbe Ereignis als auch inhaltlich weitgehend identische Erfindungen sind konkret sehr unterschiedlich erfolgreich in ihrem Bemühen, uns zum Nacherleben anzuregen. Eine rein benachrichtigende Vermittlung von Erlebnissen ist demzufolge nicht so selbstverständlich, wie man im ersten Augenblick denkt, weil die entsprechende Manipulation unserer Vorstellung neben schlagkräftigen Fakten – und erst recht in ihrer Abwesenheit – offenbar auch eine gewisse Geschicklichkeit verlangt. Sie ist eben eine Kunst, d.h. eine Bewirkung ohne automatische Erfolgsgarantie, deren bewirkungsspezifischen formalen Reiz wir ja zum Teil schon kennen. Dabei muß man in der Fähigkeit, unter vergleichbaren Bedingungen eine besonders starke Erlebnisreaktion des Adressaten hervorzurufen*, ein typisches personimmanentes Homokumulat erblicken, und zwar eines, das wenigstens bei der Grundform der hier geschilderten Bewirkung, nämlich bei der mündlichen Erzählung*, von jedem erwartet wird. (Überhaupt ist Erlebnisvermittlung ein neuer, ungemein wichtiger Punkt, in dem die allgemeine Unterhaltsamkeit vor allem auf Anhäufung von Gleichem hinausläuft.) Ungewöhnlich große Kompetenz in dieser Kunst wird aber seit jeher sekundär instrumentalisiert als Beruf.
Gerade die Tätigkeit der professionellen Künstler hat eine Situation geschaffen, in der die Probleme einer solchen Bewirkung recht klar zutage treten. Man teilt sie am besten in zwei Gruppen ein. Erstens ist die Vermittlung des Erlebnisses gewöhnlich verbunden mit einer ganzen Menge Ereignisdarstellung. Ereignisdarstellung ist eine Art von Reproduktion – Abdruck, Nachahmung und/oder Beschreibung –, die sich grundsätzlich in allen Kunstgattungen denken läßt, wenn auch in stark variierender Feinheit. Sicher gibt es ein spezialisiertes Publikum, das gerade an sie große Anforderungen stellt, doch die Mehrheit samt vielen Kennern ist mit ihr auffallend rasch zufrieden oder kommt ihr sogar eifrig entgegen; der beste Beweis dafür ist jener Zustand der Illusion*, in dem wir unsere imaginäre Rekonstruktion der geschilderten Ereignisse, solange die Schilderung andauert, mit der Realität verwechseln. (Die Illusion ist ein schönes Beispiel für die Intensivierung des Erlebnisses durch seine Bereinigung* und wird ungeachtet aller Entrüstung des Wirklichkeitssinns formal sehr geschätzt.) Deshalb fällt die Rolle des eigentlichen Filters meist einer anderen Bedingung zu. Noch viel deutlicher als die soziale Umwelt hat die Kunst als Erlebnislieferant vor allem eine Aufgabe: sie soll in uns starke Gefühle erwecken (in der romantischen Tradition wird sie ja sogar als ein geeignetes Mittel zur Erreichung der Ekstase verstanden). Jede Schwäche in der rationalen Erfassung der Welt und des Lebens wird ihr von Homokumulativitätsjägern früher oder später verziehen, wenn sie ihnen nur formal beachtenswerte Erregungen verschafft; gelingt ihr das jedoch nicht, dann helfen ihr auch alle anderen Verdienste einschließlich einer exakten Ereignisdarstellung wenig. Und wie bewerkstelligt man so etwas? Wie sichert man seinem Fiktionsangebot den Zugang zu einer fremden Motivationszentrale?
Die Tricks, mit denen da gearbeitet wird, sind freilich so verschieden, daß wir keine einheitliche Regel aufstellen können: alles, was Erfolg verspricht, gilt. Selbst die Ereignisdarstellung ist manchmal entbehrlich – so schon bei einem reflexiven Gedicht, das sich über seinen empirischen Hintergrund ausschweigt. Gemessen an ihrer inhaltlichen Substanz erweist sich die allgemeine Lebensweisheit, die übrigbleibt, zwar in aller Regel als ein recht rudimentäres und fragwürdiges Philosophem, so daß man sich über den Reiz, den sie offenbar auch auf anspruchsvollere Geister ausübt, wundern müßte. Aber sie tritt ja nicht wirklich »nackt« auf, denn der Dichter unterwirft sie allerlei rhetorischen* Transformationen, umgibt sie mit einer reichen Metaphorik* und kleidet sie zu guter Letzt noch in eine versifizierte* äußere Form, mit dem überraschenden Ergebnis, daß sie nun auf einmal unglaublich feierlich und gefühlsschwanger* klingt. Was ist hier eigentlich geschehen? Wir würden sagen, daß die Lebensweisheit mit zahlreichen Ortho-Konsummationen von homokumulativer Information gekoppelt wurde, die unsere Erlebnisbereitschaft stark erhöhen. Oder anders ausgedrückt, der Spruch setzt sich gleichsam in ein vorgewärmtes Nest.
Gewiß sind derartige Mittel der Dichtkunst zunächst nur angehängte Verzierungen, die manchmal sehr an visuelle Ornamente erinnern, doch ihre Rückwirkungen reichen offenbar bis in die Kernschichten des Gedichts. Eine weitere merkwürdige Folge der Stimmung, die sie erzeugen, ist z.B., daß wir auf jedes einzelne Wort voll ansprechen; schon eine flüchtige Erwähnung im Vorbeigehen, also das absolute Minimum der »Reproduktion«, kann unter diesen Umständen in uns starke gefühlsmäßige Assoziationen auslösen und uns damit ein angedeutetes Erlebnis bescheren. Und das wird von der Lyrik gern für eine dichte* Anhäufung von solchen Wörtern ausgenutzt, in denen ein besonders großes* motivatives Potential auf seine Aktualisierung wartet. (Darunter findet man meistens auch viele Namen von schönen Dingen*, also wieder Ortho-Konsummationen der Anhäufung von Gleichem.) Das Endprodukt ist ein emotionales Feuerwerk, dessen Elemente sich zu einem verblüffend intensiven* Gesamterlebnis summieren. Deshalb muß man auf der lexikalischen Ebene wahrscheinlich die meisten Gedichte als »Erwähnungssammlungen« auffassen. Am leichtesten hat es dabei zweifellos jene moderne Poesie, die sich nicht an die Behandlung eines Themas nach den Regeln des logischen Diskurses gebunden fühlt und daher, wenn sie will, ganz nach Belieben irgendwelche »Gefühlsdetonatoren« sozusagen im telegraphischen Stil* aneinanderreihen darf. (Eine solche kunterbunte Mischung ergibt offenbar keinen inhaltlichen Sinn, also kann sie nur formal motiviert sein – aber das impliziert viel mehr als plumpe Neuheit.) Doch hat es auch die klassische Dichtkunst gelernt, in ihren Diskurs recht erstaunliche Erwähnungssammlungen hineinzupferchen.
Ein naheliegender Gedanke ist es natürlich, Gefühle, von denen man berichtet, gerade als solche ausgiebig zu reproduzieren und sie dadurch dem Adressaten ans Herz zu legen. Die effektvollste Form ihrer Wiedergabe ist möglicherweise der Ausdruck oder die Expression, also die Veranschaulichung einer seelischen Regung durch äußere, gut sichtbare oder hörbare Verhaltensmerkmale, die der Erlebende selbst aus sich »herauspreßt« (z.B. auf der Bühne) in der Hoffnung, daß er damit die Zuschauer mitreißen wird.
Bei der Expression wird die Extremalregelung besonders deutlich sichtbar; ausgedrückt werden nämlich fast ausschließlich ungestüme Affekte, so häßlich sie auch sein mögen. Psychologisierend könnte man darin einen Sonderfall des ungehemmten und daher reinen und intensiven Auslebens* erblicken, aber eine genauere Analyse fördert anderes zutage. In Wirklichkeit bringt der Erlebnisvermittler dabei nur mit eindeutig verselbständigter Lust ziemlich elementare Homokumulate hervor: Lautstärke der Schreie* oder Drastik der Wortwahl* = Intensität*, sogenannte große Gesten* und Gesichtsverzerrungen* = Extensität* (denn bei der Grimasse ist eben schon eine Verschiebung der Haut um ein paar Millimeter extrem), obsessive Wiederholung der Aussage* = Menge*, hastiges Tempo der Bewegungen* und des Redeflusses* = Dichte* usw. – und verläßt sich im übrigen recht unbekümmert auf eine stillschweigende Übereinkunft, nach der eine Art lineare Proportionalität zwischen solchen Anhäufungen und dem Format des »dahinterliegenden« Gefühls angenommen werden soll. Doch wirkt die expressionistische Manier in ihrem blinden Extremalitätsstreben oft pathetisch forciert und übersteigert und deshalb unfreiwillig lächerlich oder einfach dumm. Auch sie ist also kein Patentrezept für den künstlerischen Erfolg.
Weitgehend ausgenommen bleibt dabei interessanterweise jene quasi abstrakte Variante der Expression, die uns bei Kunstmitteln begegnet, deren Reproduktionskraft so begrenzt ist, daß sie uns über den konkreten Anlaß der Reaktion (falls es überhaupt einen gibt) nichts sagen können und sich mit einer mehr oder weniger vagen Wiedergabe der Reaktion selbst begnügen müssen – Paradigma: Instrumentalmusik. Das dabei vermittelte Gefühl, eigentlich kaum mehr als eine motorische Grundstimmung, ist von so allgemeiner Natur und inhaltlich so wenig festgelegt, daß es ganz offensichtlich nur als Form konsummiert werden kann; und doch führt es manchmal zu einem intensiveren* Erlebnis als alle Erläuterungen. Vielleicht läßt sich dieses oft bestaunte Paradox dadurch erklären, daß konkrete Erfahrungen meist weit auseinandergehende Interpretationen zulassen und nahelegen, von denen einige zwangsläufig die jeweils vorgeschlagene Reaktion schwächen. Das musikalische Gefühl hingegen ist in seiner Abstraktheit sozusagen unanfechtbar und gefeit gegen jegliche Skepsis, worin man wieder einen Fall von Intensivierung durch Bereinigung* sehen darf. Ereignisdarstellung kann demzufolge sogar schaden! Aber auch wenn die abstrakte Expression mit einem ganz bestimmten Inhalt kombiniert wird wie z.B. beim Lied* oder bei einer musikalischen Untermalung*, behält sie ihre charakteristische Kraft – Liedertexte sind manchmal entsetzlich banal und erreichen durch Vertonung trotzdem große emotionale »Tiefe«*.
Allerdings dürfen wir dabei eines nicht vergessen: Musik ist nicht nur Expression. Unter ihren Elementen findet man nämlich viele »einfache« abstrakte Informationen, die gar nichts ausdrücken, obwohl sie sicher mit zum Wesen der Musik gehören. Die unangenehme Folge: je genauer man hinsieht, desto weniger klar ist es in aller Regel, inwiefern sich unsere formale Begeisterung auf die Suggestivität des reproduzierten Gefühls bezieht und inwiefern auf Ortho-Konsummation von homokumulativer Information, d.h. auf Musik als reine Mathematik. Deshalb können wir auch bei einem vertonten Text nicht immer erkennen, ob die musikalische Begleitung seine Stimmung tatsächlich »verdoppelt« oder ihn vielleicht nur – noch viel erfolgreicher als die Versifikation – mit schönem Schmuck behängt.
Doch sind aufdringliche Gefühlsäußerungen überhaupt notwendig? Mit ein wenig Phantasie kann man sich den emotionalen Zustand des Helden einer Geschichte sehr gut auch selber rekonstruieren aus dem Verlauf der Handlung; Experimente mit dem Filmschnitt haben gezeigt, daß dasselbe ausdruckslose Gesicht je nach dem Kontext fröhlich oder traurig wirkt. Und durch die Vergegenwärtigung in der Expression wird ein Gefühl ja nicht immer verschärft, sondern ebensooft abgeschüttelt – in solchen Fällen ist das Verhältnis zwischen seelischem Gehalt und Ausdruck offenbar eher umgekehrt proportional. All das sind Argumente, die für eine möglichst kühle Ereignisdarstellung sprechen und dem Erlebnisvermittler und seinen Helden äußerste Enthaltsamkeit im Kommentar auferlegen. Daher unter anderem auch die Beliebtheit von Reaktionen wie Gestammel*, Sprachlosigkeit* oder gestische Erstarrung*, bei denen sich die Intensität des Erlebnisses sehr anschaulich gerade aus dem Grad der Reaktionsverhinderung* ablesen läßt. Expressionistisch unterwandert erscheint dasselbe Muster bei einer wortreichen Beteuerung der Unbeschreiblichkeit* des Gefühls (wie in den meisten Berichten über Ekstasen). Besonders willkommen sind aber in diesem Zusammenhang natürlich Situationen, in denen jemand aus irgendeinem Grund gezwungen ist, überhaupt jede Reaktion zu unterdrücken, wodurch sich sein Inneres in unserer Vorstellung leicht in einen brodelnden Vulkankessel* verwandelt.
Im Grunde klingt in allen zuletzt aufgezählten Fällen mit der formale Reiz des Verborgenen*, der manchmal zu einem regelrechten Versteckspiel führen kann zwischen einem Helden, der den Mitmenschen irgendeine emotionale Information vorenthält, und seinen Gegenspielern bzw. Zuschauern, die diese Information unbedingt herausfinden* wollen. Der Held setzt z.B. ein möglichst undurchdringliches* Gesicht auf, und die anderen müssen erraten, was er empfindet. Oder: er bestreitet hartnäckig, gefühlsmäßig involviert zu sein, und die anderen lauern darauf, ob er sich durch einen unwillkürlichen Reflex verraten* wird. Oder genau umgekehrt: er entwickelt alle Symptome eines heftigen Gefühls, während die anderen feststellen müssen, ob dieses Gefühl echt ist oder eine bloße Desinformation* (denn der expressionistische Glaube an das äußere Erscheinungsbild ist selbstverständlich ziemlich naiv).
Kurzum, der rastlose Erfindungsgeist der Künstler entdeckt früher oder später den richtigen Schlüssel zu jedem Gemüt. Er spielt mit unserer Erlebnisbereitschaft, wie es ihm beliebt, und wir lassen uns als ewig hungrige Homokumulativitätsjäger gern von ihm verwöhnen.