Level 4 (Grundtext)

Leben mit Homokumulativitätsgier II

 

Erlebnisse und Gefühle als formalisierbare Informationen. Konsummatorische Ereignisse. Wann ist ihr Inhalt unwichtig. Die Ideologie der äußersten Intensität des Erlebnisses und ihre Folgen. Die Ausschaltung von warnenden Gegenstimmen als Intensivierung durch Bereinigung. Nur keinen kühlen Kopf behalten! Was hat die Ekstase mit ihrem konkreten Anlaß zu tun. Die Provozierung eines solchen Zustandes – auch mit Rauschgiften? Bunt gemischte Erlebnissammlungen. Die Homokumulativität der Sammlung macht die Homokumulativität der Elemente entbehrlich. Langeweile als Ausdruck des formalen Erfolges. Der scheinbare Nonsens der Feier. Das Leben als Erlebnisjagd. Extremalregelung schließt freie Wunscherfüllung aus. Die Aussichtslosigkeit einer Maßhalteethik.

 

Um aber die Veränderungen, die die Homokumulativitätsgier in unserem Leben hervorruft, wirklich ganz zu erfassen, müssen wir uns einer speziellen Gruppe von Informationen zuwenden, von der bisher kaum die Rede war und die unter allen bei weitem den unmittelbarsten existentiellen Bezug aufweist, nämlich unseren Erlebnissen.

Ihr Ausgangspunkt sind Ereignisse bzw. Zustände, in die wir geraten oder die wir selber herbeiführen und deren erkannte existentielle Relevanz in uns irgendeine Motivation aktualisiert. Zu den Fähigkeiten des Menschen gehört es bekanntlich, daß er auch solche Sachverhalte zu reflektieren vermag. Dadurch wird das Ereignis zum Erlebnis und die motivative Reaktion darauf zum Gefühl. Er-leben ist gleichsam ein Meta-Verhalten (zum Ortho-Verhalten des »Lebens«), also müssen wir dafür auch ein eigenes Meta-Motiv postulieren, das sich mit dem Ortho-Motiv decken oder von ihm abweichen kann. Strenggenommen wäre es sogar angebracht, von einer besonderen Art der Mischmotivation zu sprechen, weil das Ortho-Motiv im Erlebnis irgendwie aktuell bleiben muß, obwohl es eigentlich nur als Zündstoff für das Meta-Motiv fungiert. Am leichtesten ist die Reflexion natürlich hinterher, in der Erinnerung, doch können Erlebnisse durchaus auch vorausgeplant werden – ja selbst im Herzschlag der Ortho-Reaktion kann sich informationsverarbeitende Distanz einstellen: »in diesem Moment erlebe ich etwas«.

Nun sind existentiell relevante Situationen und durch solche Situationen bedingte Ausschläge des seelischen Pendels zweifellos Informationen wie alle anderen, also müssen sie auch wie alle anderen formalisiert werden können. Oder anders gesagt, die Konsummation der Information als Form und noch genauer die Homokumulativitätsgier muß schon aus deduktiven Gründen ein ganz normales Meta-Motiv der erlebenden Reflexion abgeben, so überflüssig in diesem konkreten Fall, in dem die Ortho-Motive ohnehin alles Nötige regeln, der Einsatz einer generellen Repertoirestrategie erscheinen mag. Das Prinzip der Generalität duldet eben definitionsgemäß keine Ausnahme, also auch nicht diese. Übrigens wird die Existenz eines formal motivierten Meta-Verhaltens von unserer kulturellen Tradition ziemlich eindeutig anerkannt – schon wenn Erlebnisse und Gefühle als ein primäres Bedürfnis, als Selbstzweck oder als ästhetisch schön bezeichnet werden. Das eigentliche Problem ist, wie üblich, eine halbwegs verläßliche Identifikation derartiger Beispiele.

Am deutlichsten kommt das zum Ausdruck bei konsummatorischen Ereignissen, in denen man aus leicht verständlichen Gründen die nächstliegenden Kandidaten für formal motivierte Erlebnisse sehen muß. (Wir denken hier an Konsummationen sehr verschiedener Art, von den einfachsten und »vulgärsten« Endhandlungen bis zu den esoterischsten und elitärsten Genüssen, darunter wohlgemerkt auch an Neuheit und Homokumulativität als Ortho-Belohnungen, die ja ebenfalls Gegenstand einer erlebenden Reflexion sein können.) Dabei werden nämlich sowohl auf der Ortho- als auch auf der Meta-Ebene Motivationen derselben grundsätzlichen Art aktuell, deren ausgesprochen positive Färbung (bzw. das aus ihr abgeleitete Glücksgefühl) sich als ein stark angleichendes gemeinsames Element erweist, und wegen dieser Ähnlichkeit ist es oft äußerst schwer zu unterscheiden, ob in einem bestimmten Einzelfall das Ortho-Motiv oder die es reflektierende Homokumulativitätsgier im Vordergrund steht: theoretisch könnten viele Orgasmen – oder viele Verliebtheiten – vor allem wegen der Form angestrebt werden, aber bei keinem ist das von vornherein gewiß. Wollen wir uns also bei formalisierten konsummatorischen Ereignissen nicht in vagen Vermutungen verlieren, dann brauchen wir ganz konkrete und unmißverständliche Anzeichen für ihre inhaltliche Indifferenz.

Der erste Sachverhalt, der diese Bedingung erfüllt, ist meines Erachtens eine sehr charakteristische und anscheinend ebenso alte, vor allem im Rahmen der Kunst kultivierte Ideologie (und Praxis), die in der extremen Stärke* des Erlebnisses den einzigen wirklich erstrebenswerten Sollwert erblickt. Eine solche Einstellung impliziert unter anderem, daß man versuchen soll, jedes einzelne Erlebnis bis zum Äußersten* zu intensivieren (und das Potential dieses Homokumulativitätsaspekts ist bei Motivationen und Gefühlen bekanntlich mehr als gewaltig – in dem Sinne sind sie sicher formal privilegierte Informationen par excellence), was in der weiteren Folge zu einem Intensitätsvergleich zwischen den bereits erlebten Erlebnissen – gleichen oder auch verschiedenen – und zu einer betont restriktiven Auswahl führen muß: was zählt und einer Erinnerung wert ist, sind eigentlich nur die großartigsten, die allerschönsten Augenblicke, »Sternstunden«, einsame Höhepunkte* des Lebens, die manchmal sehr an persönliche Rekorde* erinnern. Und wenn dieselbe Einstellung in die Zukunft projiziert wird, dann ist das Resultat eine merkwürdige Unzufriedenheit mit den vielen »nur« mittelprächtigen Befriedigungen, auf die man zusteuert; jedes weitere Erlebnis sollte die Intensität der bisherigen Höhepunkte zumindest wiedererreichen*, nach Möglichkeit aber sogar noch überbieten*.

Es ist leicht einzusehen, daß eine solche Steigerung von Erfolg zu Erfolg schwieriger wird und schließlich in eine Sackgasse mündet, zumal wenn man bedenkt, daß jene Komponente der Gesamtintensität des Erlebnisses, die sich aus der Erstmaligkeit* einer bestimmten Art des Ereignisses, d.h. aus seiner neugierstillenden Neuheit ergibt, schon in der Jugend des Menschen ihren durchschnittlichen Höchstwert erreicht und dann in der Tendenz allmählich schrumpft. Früher oder später muß jeder das oben geschilderte Erwartungsniveau aufgeben und sich mit der Erinnerung an vergangene Höhepunkte begnügen (daher der berühmte Wunsch, im Augenblick des intensivsten Glücksgefühls zu sterben*: »wen die Götter lieben…« usw.). Manchmal begegnet man aber auch einem Rückzug in die reine Idealität*: »kein tatsächliches Erlebnis hat, und keines wird je meiner Sehnsucht gerecht werden können, keine Befriedigung mich je wirklich befriedigen«. Da schreit ganz offensichtlich jemand nach dem Mond und stellt an seine Existenz eindeutig übertriebene formale Bedingungen. Überhaupt erhält durch diese eigentümliche Erlebnisideologie der »Sinn« des Lebens (bzw. »vollwertiges Sein«) eine stark homokumulative Prägung, mit der logischen Folge, daß der Mensch nur noch sehr schwer und selten restlos glücklich werden kann; alle weniger spektakulären Freuden sind für Anhänger einer solchen Ideologie vergiftet durch den Formstachel, und oft leiden sie deswegen Qualen, die ähnlich unnötig und ähnlich real sind wie die Qualen einer zu knapp bemessenen körperlichen Schönheit.

Aus praktischer Sicht ist eine derart verbissene Extremalisierung natürlich vollkommen sinnlos und der Funktionalität der von ihr erfaßten ortho-motivativen Regelkreise abträglich, und der Verdacht des Formverhaltens läge nahe, auch wenn die Extremalisierer nicht so oft ausdrücklich betonen würden, sie wüßten selber nicht, was sie erleben wollen, und es sei ihnen auch völlig egal, nur intensiv müsse es sein.

Vielleicht noch deutlicher wird ein spezialisierter Ableger dieser Ideologie, der von der Frage ausgeht, welcher einzelne Faktor wohl die Intensität der konsummatorischen Erlebnisse am stärksten beeinträchtigt, und als den eigentlichen Spielverderber eine besondere Gruppe von antagonistischen Motiven nennt, nämlich die ewig wachsamen Warner. Eine der wichtigsten Maßnahmen im Rahmen der Intensivierung des Erlebnisses besteht also darin, daß man ihre Stimmen zum Schweigen bringt*, d.h. seine Konsummationsakte von allen derartigen Störungen bereinigt* (wie schon so oft erweisen sich Reinheit und Intensität auch hier als eineiige Zwillinge). Zu diesem Zweck wird jede Hemmung, jede Vor- oder Rücksicht, jede Angst vor den eigenen Gelüsten kurzerhand für neurotisch erklärt und kompromißlos abgelehnt; man soll sich darüber hinwegsetzen und sich dem Sog der Befriedigung unbekümmert hingeben, sich »gehen lassen« und seine Neigungen »voll ausleben«*, wobei ein richtiger Homokumulativitätsjäger vor keiner Konsequenz, also vor keiner noch so stürmischen, zügellosen und brutalen Ausschweifung* zurückschrecken darf.

Der größte Feind des Erlebniskults ist aus dieser Perspektive ein nüchterner Verstand, der unermüdlich Bedenken und Vorbehalte produziert oder auch einfach »daneben« steht und schon allein dadurch jede Motivation zersetzt. Um das zu verhindern, soll ein Gefühl unsere ganze* Person ausfüllen – wir müssen in ihm gleichsam aufgehen und uns selbst völlig vergessen (wie z.B. bei einer schwärmerischen Begeisterung* für irgendetwas). Ein gutes Rezept gegen mögliche Einwände ist auch die ansatzlose Spontaneität der Reaktion (Paradigma: Liebe auf den ersten Blick*), die unter anderem zu einem plötzlichen, scharf konturierten* Intensitätssprung führt; wer intensiv erleben will, muß bekanntlich für den Augenblick leben und auf das Gestern und Morgen pfeifen. Der einfachste Weg zur Ausschaltung der Selbstkontrolle ist aber wahrscheinlich die Überwältigung unseres Willens durch eine kompulsive, traumartige Regung*, der wir nicht Herr werden können, die uns »packt und hinreißt« und uns in wilde Leidenschaften* stürzt (obwohl wir auch Situationen kennengelernt haben, in denen man gerade aus der Selbstbeherrschung sehr viel Form gewinnen kann).

All das zusammen ergibt ein weitverbreitetes und besonders heute ungemein modernes Lebensprogramm, das der Vernunft vehement abschwört und nur noch Emotionen gelten läßt; die zunehmende Rationalisierung unserer Existenz wird von ihm zutiefst bedauert und als Vorbilder werden Primitive, Kinder oder sogar Verbrecher und Geisteskranke mit ihrem – vielleicht auch nur angeblich – ungebrochenen Verhältnis zu den eigenen Impulsen verherrlicht bzw. um die »elementare« Wucht* ihrer Erlebnisse beneidet. Auch der Zweck dieser Übung bleibt ohne eine Erklärung nach unserer Art unerkennbar. Der Rationalismus hat sicherlich recht, wenn er behauptet, zuviel Gefühl behindere die Anpassung, oder wie man es heute auszudrücken pflegt, es sei ein mittleres Aktivationsniveau, auf dem die Lebewesen optimal funktionieren. Die Erlebnisbereinigung und -intensivierung hingegen stellt einen klaren Fall von Extremalregelung dar: sie verschmäht die goldene Mitte (d.h. diese ist kein universales Ziel des menschlichen Verhaltens) und sucht die höchsten, oft kaum noch physiologisch angenehmen Gipfel der emotionalen Erregung ohne Rücksicht auf ihren Anlaß – also wegen der Form.

Das Äußerste, was der Mensch in der damit eingeschlagenen Richtung erreichen kann, sind wahrscheinlich sogenannte ekstatische Erlebnisse. Die Ekstase ist ein rätselhafter Zustand unseres Bewußtseins, dessen Besonderheit, ja Exzeptionalität wir zwar deutlich spüren, aber nur sehr schwer in Worte fassen; der bekannteste Versuch einer erklärenden Beschreibung spricht von der Auflösung der eigenen Individualität und einer mystischen Vereinigung mit dem All (entweder im Aktivitätsrausch oder in regungsloser Versenkung und innerem Frieden). Das – erlernte – Auseinanderhalten der Welt und des Ichs scheint für den Menschen mit ständiger psychischer Anstrengung und seine Aufhebung mit einem orgasmusähnlichen Spannungsabfall verbunden zu sein, was uns berechtigen würde, Ekstasen unter konsummatorische Ereignisse einzureihen. Doch was für ein Motiv haben wir damit umrissen: ein inhaltliches?

Natürlich bezieht sich jede Ekstase auf irgendetwas Konkretes, und manchmal versucht man ihr sogar (vor allem wenn sie von einem religiösen Legitimitätsnachweis abhängt) Inhalte, so gut das eben geht, vorzuschreiben. Aber sie bleiben so zufällig und die Gemeinsamkeiten mit anderen Ekstasen so überwältigend, daß sich die Konkretisierung als ein beliebig austauschbarer, d.h. irrelevanter Ausgangspunkt oder höchstens als ein willkommenes Alibi entpuppt. Und viele Schulen der Ekstase tragen dem Rechnung, indem sie sie ausdrücklich von jeder thematischen Beschränkung ausnehmen, was offenbar ungleich besser dem Wesen dieser Rückkehr in die Ursuppe des Seins entspricht. Selbst der ontologische Modus des Anlasses ist ohne Bedeutung: manchmal dreht sich das ekstatische Erlebnis um ganz reale Dinge und nur die Reaktion darauf ist unverhältnismäßig, »irreal« euphorisch, manchmal aber auch um reine Halluzinationen. Außerdem ist das ganze mit unübertrefflicher Eindeutigkeit funktionswidrig – eine nutzlose und oft genug problematische Spielerei mit sich selbst. All das schließt nach meiner Überzeugung die Möglichkeit, daß es sich dabei um die Befriedigung eines inhaltsspezifischen Bedürfnisses handeln könnte, mit großer Wahrscheinlichkeit aus. Wohl aber läßt sich behaupten, daß Ekstasen durch die Bank extrem intensive* und reine* Erlebnisse liefern (die Bereinigung wird besonders anschaulich bei der Versenkung); ja die Betonung liegt so sehr auf der Form, daß einige Beobachter einfach von peak experiences* sprechen. Und damit sind wir wieder beim Meta-Motiv der Homokumulativitätsgier gelandet.

Es gibt Leute, die den ekstatischen Zustand manchmal mehr oder weniger spontan erreichen, aber verlassen kann sich darauf niemand, und weil für derartige Erlebnisse großes Interesse herrscht, kommt es typischerweise zu ihrer künstlichen Provozierung, die natürlich immer Kultivierung voraussetzt. In der Pflege der Ekstase haben sich viele Kulturen versucht – ihre Faszination ist sicher uralt und generisch universal – und dabei einen fast unendlichen Erfindungsreichtum an den Tag gelegt: zwischen stundenlangem Tanz und stundenlanger Meditation gibt es kaum ein Mittel und eine Technik, die nicht erprobt wurde. Am wichtigsten wäre es freilich zu wissen, ob man auch den Genuß von Rauschgiften einfach zu diesem Instrumentarium zählen darf. Allerdings ist bei einem so groben unmittelbaren Eingriff in die Neurophysiologie, der wohl unser ganzes natürliches Motivationsgefüge über den Haufen wirft, große Vorsicht geboten, obgleich die äußerste subjektive Folge des Drogenkonsums unleugbar in einem Erlebnis besteht, das mit anderen ekstatischen Erlebnissen konvergiert* (was gängige Erklärungen meiner Meinung nach nicht genügend ernst nehmen). Also ist die Ohnmacht unserer Kultur vor dieser Seuche letzten Endes doch wieder ein Teil ihrer Ohnmacht vor der Homokumulativitätsgier des Menschen? Auf jeden Fall müssen wir die Frage in den Raum stellen, auch wenn wir sie nicht eindeutig beantworten können.

Leider ist die erfreuliche Wirkung einer konsummatorischen Handlung nicht unbegrenzt, weil eine solche Handlung im Prinzip ein eher flüchtiges Ereignis darstellt und darstellen muß. Man kann sie also nicht nach Belieben verlängern*, so sehr man sich das auch manchmal wünscht; man darf höchstens auf eine Neuauflage hoffen – und zum Glück bringt das Leben in der Tat unzählige Konsummationsakte mit sich. Hier kann eine alternative Meta-Betrachtungsweise ansetzen, die sich nicht mehr auf einzelne isolierte motivative Ereignisse beschränkt, sondern viele gleichzeitig in ihrer Reflexion zusammenfaßt. Erlebnisse kann man nämlich sammeln, nicht anders als materielle Objekte, und mit ihnen wie mit einem immateriellen Besitz umgehen. (Besonders eng wird die Beziehung zwischen den beiden Erscheinungsformen des Besitzes übrigens bei jenen Erlebnissen, für die man bestimmte Gegenstände benötigt, die im Zuge der Konsummation vielleicht sogar »verbraucht«, d.h. unwiederbringlich annihiliert werden – das ist wohlgemerkt eine weitere wichtige Art, auf die der Reichtum der Form dienen kann.) Die meisten Erlebnissammlungen umspannen in der Rückschau eine ganze Existenz und legen kaum Wert auf inhaltliche Spezialisierung und Diskriminierung, im Gegenteil: sie sind für jedes nur erdenkliche motivative Ereignis in gleichem Maße offen und dankbar, und das Ergebnis ist ein Potpourri, für das wir umsonst ein passendes inhaltliches Motiv suchen (denn das »Ich« des Erlebnissubjekts ist dabei, wie wir schon irgendwo erwähnt haben, nicht mehr als ein völlig neutraler Rahmen). Oder mit anderen Worten, als Grund für solche Sammlungen kommt offenbar nur ihre Form in Betracht; das ist unser nächster eindeutig formaler Kontext.

Zunächst wollen wir unterstreichen, daß die Erlebnissammlung eine informationelle Entität sui generis darstellt und daß ihre Homokumulativität nicht mit der Homokumulativität ihrer einzelnen Elemente steht und fällt. Die Elemente müssen also, anders als bisher, nicht unbedingt durch ihre extreme Form auffallen. Selbstverständlich hat der Sammler meist nichts dagegen, wenn sie auch selber rein und intensiv sind, so daß sich ihre CIF-Anziehungskraft und die Anziehungskraft der Sammlung summieren, aber der Gegensatz zum Ekstatiker in der Grundhaltung bleibt trotzdem klar: dieser läßt höchstens einige wenige Spitzenerlebnisse gelten und verstößt den ganzen Rest (es kann ihm aber auch passieren, daß er sich inmitten der üppigsten Erlebnissammlung verzweifelt nach einer einzigen wirklich durch Mark und Bein gehenden Erschütterung* sehnt), während es dem Sammler doch vor allem auf die Quantität ankommt, und daher berücksichtigt er weniger exklusiv Ereignisse von sehr verschiedener motivativer Intensität, darunter auch ziemlich durchschnittliche, obwohl irgendeine Grenze nach unten vermutlich stets bestehenbleibt. Außerdem ist die Extremalisierung des Einzelerlebnisses fast immer etwas riskant und schon deshalb nicht jedermanns Sache, was für die Extremalisierung der Sammlung viel seltener gilt; erst diese öffnet also eine Tür zur Homokumulation jenen Heeren der Vorsichtigen, die in den meisten Kulturen zahlenmäßig überwiegen. Darum ist der Sammler der häufigste Typ des formal motivierten Erlebnisjägers, insbesondere unter den älteren Jahrgängen.

Eine Anhäufung von Gleichem ist natürlich beides, d.h. im Grunde wollen der Ekstatiker und der Sammler dasselbe, nur stehen für den letzteren eben ganz andere Aspekte der Homokumulativität im Vordergrund. In erster Linie versucht er eine möglichst große Menge* von Erlebnissen zusammenzuraffen, die ihm in möglichst kurzen Zeitabständen*, also dicht* hintereinander widerfahren sollen. Viel Gewicht wird auch auf ihre Diversifikation bzw. auf die »Erweiterung der Erfahrung«* gelegt. Diese Art des Reichtums ist besonders deutlich inhaltlich ungebunden; es geht ihr nur um Erlebnisintensität* aus der Neuheit und um Anhäufung von Verschiedenem als paradoxes Homokumulat*. Und wenn man glaubt, seine Sammlung komplettieren zu können, dann will man unbedingt alles*, was zu einem solchen Komplett gehört, erleben (Lückenlosigkeit*). Zudem sind Sammlungen viel besser intersubjektiv vergleichbar als Ekstasen – sie laden geradezu ein zu einem parallelen formalen Wettkampf*: wer kann den größten* Haufen von Erlebnissen vorweisen?

Am interessantesten sind die Auswirkungen des daraus resultierenden Formdrucks wohl bei der Langeweile. Diese stellt sich bekanntlich nach äußerst verschiedenen Zeitspannen der Ereignislosigkeit ein, also kann sie nicht nur der Ausdruck einer aktivationsphysiologischen Konstante sein; eine große Rolle spielt dabei auch die aus der bisherigen Erfahrung extrapolierte und zum gewohnheitsmäßigen Anspruch erhobene »mittlere Häufigkeit des Erlebnisses«, die bei erfolgreichen Sammlern so hohe Werte erreicht, daß sie fast keine Unterbrechung des Erlebnisflusses mehr ertragen – sobald ihre Glückskörner nicht in steter Folge aus dem Automaten fallen, schlagen sie Alarm. Überhaupt entwickelt der Sammler einen seltsamen horror vacui: er darf in seinem Leben um Gottes willen keine leeren Stellen zulassen, und deshalb ist er ständig auf der Suche nach motivierenden Ereignissen und in Sorge, er könnte irgendetwas versäumen, was ihm dann später bei der Bilanz fehlen wird. Bei welcher Bilanz? Kein Inhalt ist so streng und unerbittlich, also höchstens bei einer formalen.

Besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang noch die Mischform einer sogenannten Feier*, bei der sich viele Befriedigungen verschiedensten Inhalts (darunter typischerweise auch zahlreiche Ortho-Konsummationen von homokumulativer Information) mehr oder weniger synchron überlagern. Grundsätzlich handelt es sich dabei nach wie vor um eine dichte Erlebnisanhäufung*, nur mit dem Unterschied, daß ihre Elemente durch Gleichzeitigkeit und emotionale Ausstrahlung einander intensivieren* und tendenziell zu einem einzigen ekstatischen* Erlebnis zusammenfließen. Derartige Anhäufungen können sich auch die Ärmsten dann und wann einmal leisten, doch erweisen sich gerade ihre Feste als ein Musterbeispiel der funktionalen Sinnlosigkeit: erstens erschöpfen sie auf lange Zeit ihre Ressourcen, und zweitens werden speziell für solche Feste oft viele kulturelle Verbote aufgehoben, dann aber sofort wieder in Kraft gesetzt, was den Gegensatz zum trostlosen Alltag noch zusätzlich verschärft. Rein vernunftmäßig betrachtet würde man meinen, daß sich Entbehrung als Schicksal bei einer gleichmäßigeren Verteilung der wenigen möglichen Konsummationsakte viel leichter aushalten läßt; aber das wäre eine Rechnung ohne unsere Homokumulativitätsgier.

Durch solche und ähnliche Überlegungen wird allmählich etwas verständlich, was schon viele Beobachter in Staunen versetzt hat, nämlich unsere Vorstellung vom Leben als einer Zitrone, die man bis auf den letzten Tropfen auspressen*, bzw. einem Sack, den man bis zum Geht-nicht-mehr vollstopfen* soll. Die merkwürdigsten Verfechter dieser Idee sind vielleicht jene modernen Künstler, die jede Habgier verdammen, zugleich aber eine auch über Leichen gehende* Intensivierung des Erlebnisses predigen. Homokumulativ ist, wie gesagt, das eine wie das andere – so schlägt ihnen ihre Homokumulativitätsgier ein Schnippchen. Und wieder ist, ähnlich wie bei körperlicher Schönheit und bei materiellen  Objekten, dort, wo sich alle der Erlebnisjagd widmen können, das charakteristische Ergebnis, daß die durchschnittliche Existenz unvergleichlich mehr (bzw. extremere) Konsummationsakte enthält, als sie nach irgendwelchen inhaltlichen Kriterien für das Überleben und Gedeihen nötig wären.

Vielleicht kommt das Wesen der Extremalregelung nirgends so klar zum Ausdruck wie bei formal motivierten Erlebnissen. Eine solche Regelung enthält definitionsgemäß keinen Sättigungspunkt, an dem man »genug hätte« und aufhören könnte; sie impliziert eine radikale Entgrenzung des Bedürfnisses, das nur noch haltlos expandieren kann, bis es durch einen externen Faktor gestoppt wird. Der durch sie erweckte Hunger ist also im Grunde genommen unstillbar, und die Bezeichnung »Homokumulativitäts-Gier« bedeutet keine bloße Effekthascherei, weil unsere Vorstellung von der Gier gerade durch diese Entgrenzung entscheidend mitgeprägt wird. Auf jeden Fall kann ich schon aus rein formalen Gründen nicht an eine absolute Positivität des menschlichen Wunsches glauben, und die zur Zeit grassierende Ideologie der freien Wunscherfüllung finde ich ziemlich bedenklich. Noch viel bedenklicher wäre sie freilich, wenn sie nicht ein langes Verzeichnis von Ausnahmen enthielte, von »falschen« Gelüsten, die sich nicht nach den utopischen Erwartungen ihrer Befreier richten wollen, was in der Praxis doch wieder auf ein kulturelles Verbot hinausläuft.

Im Vergleich dazu wußten schon die Philosophen der Antike mehr: als sie sich nämlich anschickten, die Erfahrungen der frühen Zivilisationen zusammenzufassen, in denen sich der Mensch zum ersten Mal die Möglichkeiten für eine freiere Entfaltung erschuf, so daß man sein Potential schon etwas besser überblicken konnte, da bezog sich einer ihrer wichtigsten Befunde auf seine geradezu erschreckende Maßlosigkeit im Materiellen und im Immateriellen und auf die dringende Notwendigkeit einer Ethik der freiwilligen, also nicht durch die Umstände erzwungenen Mäßigung, Zügelung aller Leidenschaften und Selbstbeschränkung (ne quid nimis). Dabei wurde die Maßlosigkeit ausdrücklich generalisiert und somit dem Einfluß des einzelnen Inhalts entzogen, d.h. die Maßhalteethik ist eine ausgesprochen formale Ethik – in unserem Sinne des Wortes – und enthält schon zahlreiche Elemente einer bewußten Reflexion der Homokumulativitätsgier als solchen. Im Prinzip ist ihr Grundgedanke sicher noch heute aktuell, obwohl er gegen die menschliche Natur keine Chance hat und gemäß unserem Funktionalitätspostulat in dieser pauschalen Form auch gar keine haben darf. (Interessanterweise reagierte das Christentum in derselben Situation ganz anders: das Himmelsglück müssen wir uns als eine geradezu exemplarische, endlose* und auffallend inhaltsarme Ekstase* vorstellen, verschiedene mystische Strömungen versuchen dieser Ekstase schon zu Lebzeiten teilhaftig zu werden*, und die materiellen Objekte des Christentums sind schamlos homokumulative* Kopien der weltlichen Prunksucht. In alledem läßt sich beim besten Willen kein wirklicher Bruch mit der vorgefundenen Maßlosigkeit erblicken. Das ist einfach mainstream; gerade diese Religion blieb der Tradition der blinden Homokumulativitätsjagd in besonders hohem Maße verhaftet.)

 

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