Level 4 (Grundtext)

Grundphänomene des Visuellen

 

Das Licht als Form und seine Dramatisierung. Die zweckfreie Beschäftigung mit dem Feuer. Spezialeffekte: Glanz und Durchsichtigkeit. Wasser und Glas.

Gesehenes umfasst sicher den größten und wichtigsten Teil der dem Menschen zugänglichen vorliegenden Information. Deshalb widmen wir das nächste Kapitel seinen sinnesspezifischen Grundphänomenen als Formen.

Dabei scheint es logisch, mit dem Licht zu beginnen, obwohl wir damit wieder einen Punkt berühren, wo sich allerlei inhaltliche Interessen ins Bild drängen und es verwischen. Doch zweifellos geht vom Licht auch eine starke formale Faszination aus, die sich konkret nur durch seine Homokumulativität erklären läßt. Licht, vor allem Sonnenlicht*, hat oft etwas äußerst Intensives* – bis an den Rand des physiologisch Unerträglichen – und Extensives* an sich (in der Art, wie es die ganze Welt förmlich überflutet*; man denke an einen Turner* oder Monet*) und kann außerdem auf verschiedene Weisen zusätzlich »dramatisiert« werden. Zu einer solchen Zuspitzung kommt es z.B., wenn sich eine verdeckte (= verborgene*) Lichtquelle durch einen zur Mitte hin scharf konturierten* Hof bemerkbar macht oder auch ihren »Wandschirm« einfach unaufhaltsam durchscheint* – daher die Gegenlichteffekte*. Weiter ist hier die heutige Möglichkeit einer ebenso scharfen zeitlichen Konturierung* durch Ein- und Ausschalten* zu nennen, einschließlich aller formalen Verspieltheiten, Rekurrenzen* und Rhythmen* einer ausgeklügelten Light-Show*. Die stärksten Wirkungen liefert aber nach wie vor der Kontrast* zwischen Licht und Finsternis*, sei es, daß sich ein einsamer Lichtstrahl* in eine dunkle Ecke, Höhle, ein Interieur usw. verirrt wie auf den Bildern von Rembrandt* oder bei expressiver Bühnenbeleuchtung*, sei es, daß es wider alle Erfahrung* gelingt, einen ringsum geschlossenen Raum in ein Lichtschiff* zu verwandeln (die berühmtesten Beispiele dafür sind selbstverständlich die großen gotischen Kathedralen*), sowie schließlich bei jedem Licht in der Nacht*, auch einem absolut gesehen schwachen, von allerlei natürlichen Quellen* – nicht zu vergessen den Mondschein* – bis zum Feuerwerk* oder der modernen Großstadtbeleuchtung*.

Ein paar Worte müssen in diesem Zusammenhang auch über das Feuer* selbst gesagt werden, dessen rätselhaft unwiderstehliche ästhetische,  d.h. durch kein Nützlichkeitserlebnis vermittelte Anziehungskraft ja schon oft registriert wurde; und gerade in unserer Zivilisation bedeutet praktisch jedes offene Feuer, nicht nur bei Kindern, sondern auch im Brauchtum* der Erwachsenen, die es dabei so gern aufs äußerste intensivieren und extensivieren, eine reine Formspielerei, genauso wie Kerzenbeleuchtung*. Die eigentliche Besonderheit ist dabei die Nähe des gefährlichen »Wesens« des Lichts, die verschiedenste Arten der Feuerbeherrschung* als einen schon an und für sich formal interessanten Wettkampf* mit dem Risiko* und der eigenen Angst* (als indirekten Intensitätsmaßstäben) erscheinen läßt – deshalb lechzen gewisse Feuerwehrleute so sehr nach Bränden*, daß sie gelegentlich gleich selber etwas nachhelfen, während wieder andere Menschen durch Flammen springen*, Feuer schlucken*, auf glühenden Kohlen wandeln* usw. Sogar vom Rauchen läßt sich behaupten, daß es ganz am Anfang durch keinen inhaltlichen Grund motiviert werden konnte; gab also vielleicht auch dazu den ersten Anstoß die Zähmung eines handlichen Feuerchens*, die unter anderem das frappierende Schauspiel der Rauchausatmung* ermöglichte?

Überwiegen dürfte das Formverhalten bei zwei speziellen Lichtphänomenen: erstens bei der Lichtreflexion*, die vielfach schon bei einem milchigen Schimmer*, d.h. gleichsam bei einem Licht aus dem Inneren der Materie nicht nur selten (= neu) ist, sondern auch einen deutlichen Erwartungskontrast* ergibt, günstigenfalls aber sogar bis zum Hochglanz* bzw. zu exakter Spiegelung* extremalisiert (nämlich intensiviert* und bereinigt*) werden kann – und dafür ist dem Menschen seit jeher keine Mühe zu groß, auch wenn sie funktional nichts einbringt, denken wir an das Schleifen*, Lackieren*, Glasieren*, Galvanisieren* usw. Am wirkungsvollsten sind wahrscheinlich zeitlich gestaltete Reflexe, z.B. Aufblitzen* als eine scharfe Doppelkontur* oder dicht* angehäuftes Glitzern* wie bei einem Sonnenuntergang über unruhigem Wasser* oder beim Flitterschmuck*. (»Glanz«, »Flitter«: wegen ihrer Anschaulichkeit dienen viele visuelle Homokumulate als Metaphern* für verschiedene andere formal auffällige Inhalte.) Und noch stärker ist der Widerspruch zur Hauptmasse der Erfahrung bei der Transparenz*, wo das Licht durch die Materie geht, als ob es sie überhaupt nicht gäbe*, zumindest tendenziell; die volle Entfaltung dieses Kontrastes impliziert freilich wie beim Glanz eine Minimalisierung der Trübung*. Das durchsichtigste – und zugleich reflexionsfreudigste* – Naturelement ist offenbar das Wasser*, das sich damit zu einem echten formalen Gegenspieler des Feuers aufschwingt. Und mit dem Glas* hat der Mensch sogar einen festen Stoff* hervorgebracht, der sich zum Licht ganz wie das Wasser verhält – übrigens obwohl es für das Produkt zunächst lange keinen zwingenden technologischen Grund gab. Das Paradoxe an der Transparenz dieses Stoffes klingt in abgeschwächter Form noch beim heutigen Großfenster* mit, auch wenn wir z.B. die Verwunderung der Naturvölker über die ersten gesehenen Glasperlen* nur noch schwer nacherleben können.

 

Wie versucht man das Geheimnis der Farbe zu lösen. Ihre auffallende Homokumulativität. Schwarzweißkontraste gegen raffinierte Kombinationen. Der Wirbel um Edelmetalle und -steine: ein Riesenbetrug? Zur Geschichte der Geldmittel.

Das grösste, immer wieder philosophisch verarbeitete Geheimnis im Bereich des Visuellen bleibt für den Menschen aber natürlich sein zweckfreies Erlebnis der Farbe – nach mehrheitlicher Auffassung überhaupt der stärkste Sinneseindruck, den es gibt – und die daraus resultierende generische Besessenheit mit farbigen Dingen, Farbstoffen und Farbtechniken, die sich bis weit hinein ins Paläolithikum zurückverfolgen läßt. Heute glaubt man zwar gern, daß man dieses Erlebnis entziffert hat, wenn man weiß, daß es meist auch mit irgendwelchen verschwommenen inhaltlichen Assoziationen verbunden ist, aber das ist wohl nur eine Verlegenheitslösung für alle diejenigen, die keinen Weg sehen, die Farbe als Form aufzufassen. Blickt man genauer hin, so erkennt man bald, daß der Mensch in einer konsummatorischen Stimmung nicht auf jede kleinste Spur von Farbe, und das heißt: auf die Farbe als solche reagiert, sondern erst auf verschiedene Arten ihrer Anhäufung. Ähnlich wie beim Licht führt uns also die Theorie des Homokumulats auch hier zu einer sehr plausiblen Erklärung des Phänomens.

Die ganze Welt besteht aus Farbflecken; deshalb ist der grundlegendste und allgemeinste Aspekt der Homokumulativität der Farbe die flächenmäßige Extensität* irgendeines sich selbst gleichbleibenden*, also nach eigenen Maßstäben reinen* Farbwertes. Richtig »heiß« wird es aber erst bei den sogenannten reinbunten Spektralfarben*, wo noch eine andere Reinheit, nämlich die einer einzigen Wellenlänge*, sowie eine markante Extremalisierungslinie weg vom Weiß/Grau/Schwarz in Richtung Sättigung* (= Bereinigung) hinzukommt, und eine solche Einengung sorgt automatisch für eine starke Intensivierung* der Buntkraft*, d.h. des »inneren Glühens« einer gesättigten Spektralfarbe, das in ihrem Erlebnis vielleicht die entscheidende Rolle spielt; vergleichsweise am größten ist es bekanntlich beim Rot* als der farbigsten* aller Farben. Außerdem können sich Farbflecke auch als Licht formal auszeichnen, nämlich indem  sie glänzen* (paradoxerweise* sogar das Schwarz) oder regelrecht leuchten* – und das Licht ist, wie man schon den dort aufgezählten Beispielen entnehmen kann, sehr oft gefärbt*. Selbst das heutige Theater*,  Kino* und Fernsehen* sind auf ihrer abstraktesten Ebene einfach Vorrichtungen zur Verwandlung der grauen Wirklichkeit in Feste aus Licht und Farbe (inmitten des Dunkels*), ähnlich wie einst die bemalten Fenstergläser*.

Eine homokumulative Beziehung zwischen verschiedenen Farben entsteht vor allem durch den Kontrast*, der sich hier grundsätzlich in allen innerhalb des Farbenkegels vorkommenden Richtungen denken läßt, obwohl er rein farblich zwischen Komplementärfarben* am größten ist. Noch bekannter ist allerdings der Kontrast zwischen Schwarz und Weiß* (als achromatischen Farben, die ebendeswegen noch immer viel besser sind als das formal »trostlose« Grau); diese Kombination ist der klassische Prototyp der Verdichtung einer Übergangsreihe mit überaus reicher Anwendung z.B. im Ornament, in der Graphik, in der Skulptur und Architektur – wo sie dem Spiel von Licht und Schatten* entspringt – oder als moralisches Ästhetikum*.

Soweit die elementare Homokumulativität der Farbe, die bei Kindern und anderen einfachen Gemütern zugleich auch die einzige bleibt. Gerade in unserer europäischen Tradition läßt sich jedoch ein Abrücken von solchen vordergründigen Extremen beobachten oder sogar eine normative Verbannung jeder zu grellen Farbe bzw. Farbkombination. Diese Entwicklung darf man nicht mit einem generellen Homokumulationsverbot verwechseln, denn das Ergebnis ist nicht unbedingt koloristische »Formlosigkeit«, sondern vielfach nur eine andere, freilich sekundäre, raffiniertere und weniger universale Art der diesbezüglichen Anhäufung, nämlich ein typisches Homokumulat in der Komposition, das eine große Vielfalt* von Farbnuancen – die aber dennoch auf überraschendste Weisen rekurrieren* – mit starker Einheitlichkeit* (bekannt als Farbenharmonie*) vereinigt, d.h. verschiedene ganz schön auffällige, obwohl in der Regel nicht leicht zu identifizierende Parameter der Farbengebung konstant hält, darunter vor allem einen nicht zu hohen Sättigungsgrad*. Eine solche Abgestimmtheit und gedämpfte Pracht ist in der alltäglichen Wirklichkeit keineswegs selbstverständlich, und in dem Sinne stellt auch ein Großteil unserer klassischen Malerei* eine ausgewählte Farbenweide dar.

An dieser Stelle ist wenigstens noch ein kurzer Exkurs über Edelmetalle und -steine fällig (auch stellvertretend für viele andere kostbare Materialien). Heute lassen sich für ihre Wertschätzung natürlich einleuchtende reale Gründe anführen (Geldanlage/Statussymbol), doch die Frage ist, wie es dazu kommen konnte, denn in einem hypothetischen ersten Moment gab es solche Gründe sicherlich nicht, und ebensowenig hatten diese Stoffe irgendeinen unmittelbaren Gebrauchswert. Beschränkt man sich also auf inhaltliche Motive, dann kann man die Ingangsetzung des ganzen Karussells tatsächlich nur auf einen Betrug oder Selbstbetrug zurückführen. Wir hingegen sind auch hier in der glücklichen Lage, daß wir »edel« als »formal – in unserem Sinne des Wortes – besonders privilegiert« übersetzen können; und dabei ist die Seltenheit dieser Stoffe zwar wieder ein Ableger der Neuheit, obwohl sich sogar sie erst mit der Menge* bzw. Größe des Einzelstücks* richtig zuspitzt, im übrigen aber geht es bei ihnen vor allem um den Reiz des Lichtes und der Farbe, also um leicht zu erklärende Homokumulativität.

Im einzelnen sind da zu nennen: der äußerste Glanz* der Edelmetalle (bei diesen soll er möglichst beständig* sein) und -steine (»Feuer«*), spezielle Lichterscheinungen* wie Sternbildung*, Katzenaugen* usw., glasklare Durchsichtigkeit* ohne Einschlüsse und Trübungen*, ungewöhnliche Schönheit der Farbe(n)* sowie schließlich der Lichtbrechungseffekt*. Die beiden Nummern eins in der »Gesamtwertung« sind logischerweise das Gold* – fast sicher das erste Metall, auf das der Mensch aufmerksam wurde – und der Diamant*. Und was wir vor solchen Materialien empfinden, ist noch heute kaum jemals ausschließlich kalte Berechnung, sondern praktisch immer auch eine intrinsische Bewunderung der extremen Anhäufung von Gleichem, die sich nicht erst vergegenwärtigen muß, wozu diese Anhäufung gut ist. Sekundär mag sich der Formbegeisterung zwar manche inhaltliche Überlegung zugesellen, doch die ganze Traube von Motiven hängt offenbar nicht nur kulturogenetisch, sondern auch ontogenetisch am Stengel der Homokumulativitätsgier.

Es geht aber noch weiter: warum waren Edelmetalle sozusagen prädestiniert zu Geldmitteln? Das ideale Geldmittel (zumindest früherer Zeiten) mußte abgesehen von seiner Funktion nutzlos sein, zugleich aber trotzdem einen äußerst konzentrierten und dauerhaften Wert enthalten, auf dessen spontane, möglichst von keiner Konvention abhängige Anerkennung durch den Handelspartner man sich verlassen konnte; und anscheinend die einzige, die eine so verzwickt paradoxe Anforderung grundsätzlich erfüllbar machte, war die Empfänglichkeit des Partners für den Lockruf des Homokumulats – eine Schwäche, die nach unserer Hypothese auf ein universales und im Prinzip unausrottbares primäres Bedürfnis hinausläuft. Die Schaffung dieser Vertrauensbasis ist demnach ein neues Paradebeispiel für die Funktionalität der von uns postulierten Motivation.

 

Das Prinzip der Grenzlinie. Die Verdichtung der Veränderung in einem einzigen Punkt. Aufgeräumte Informationsklumpen. Linien, die sich hinziehen. Objekte, insbesondere negative. Der Grenzverlauf im einzelnen. Spitz oder Glatt. Geometrische Regelmäßigkeit und ihre Produkte. Subjektive und objektive Geometrizität.

Die erste abgeleitete visuelle Information ergibt sich aus einer deutlichen Veränderung des Licht- und/oder Farbwertes in einem bestimmten Punkt der kritischen Dimension, den wir hier den »Grenzpunkt« nennen wollen. In aller Regel reihen sich solche Punkte in den übrigen Dimensionen aneinander und bilden Grenzlinien in der Fläche bzw. Grenzflächen im Raum; uns werden hier vor allem die ersteren interessieren, weil sich grundsätzlich auch Flächen auf Linien zurückführen lassen. Die Information ist biologisch so wichtig, daß wir bekanntlich programmiert sind, selbst dort eine Grenzlinie zu sehen, wo es in Wirklichkeit gar keine gibt: so werden z.B. längliche Objekte leicht eindimensional aufgefaßt oder diskrete durch dazugedachte Überbrückungen verbunden, das Röntgenauge des Malereikenners erblickt unter der gewissenhaft nachahmenden Oberfläche eines mimetischen Bildes ein Grundgerüst aus ein paar ganz einfachen Kompositionslinien, und oft werden Dinge sogar vornehmlich oder ausschließlich zu dem Zwecke gruppiert, damit sie alle zusammen ähnliche Linien ergeben (Arrangierkunst, naturalistisches Ornament).

Die erste Möglichkeit der Homokumulation ist dabei schon die Verdichtung* der Veränderung in einem einzigen Punkt, die zu einer »idealen« Grenzlinie zwischen zwei mono-tonen Flächen führt. Die Folge ist, neben dem Kontrast*, jene scharfe Kontur*, die allen anderen ähnlichen Verdichtungen ihren Namen gegeben hat. (Man denke nur an den Silhouetteneffekt*.) Als Sonderfälle sind zu verzeichnen erstens die Strichspur*, auch noch bei der Umrißzeichnung*, als eine neue Variante der Doppelkontur* und zweitens eine Form des Kontaktes zwischen anliegenden Objekten, bei der sich Kontur und Gegenkontur so exakt* und lückenlos* decken, daß sie ebenfalls zu einer Grenzlinie* verschmelzen, vom Puzzlespiel* bis zu den Steinbauten* der Inkas. Geht es dabei um gleiche* und gerade deshalb für eine solche Zusammensetzung scheinbar ungeeignete Objekte, dann ruft die Verschmelzung zugleich einen Erwartungskontrast* hervor – so schon beim Wabenmuster*, noch stärker aber natürlich bei einem komplizierten Ornament, dessen Figur und Grund sich bei näherer Betrachtung als identisch* entpuppen.

Ganz allgemein entsteht durch die Konzentration der Veränderung in einzelnen Punkten ein sehr charakteristischer Typ des Informationsklumpens, dessen ereignislose, eintönige Zwischenflächen sorgfältig aufgeräumt* wirken und die straffe Ordnung der tonhaften Komposition in den visuellen Bereich übertragen. Kein Wunder also, daß dieses Verfahren fast die gesamte Abstraktion und Stilisierung beherrscht. Doch gibt es zu ihm anhäufungsmäßig trotzdem eine – jüngere und verspieltere, aber im Prinzip gleichwertige – Alternative, nämlich den fließenden Übergang* zwischen zwei Licht- und/oder Farbwerten (auch zeitlich als schillerndes Farbenspiel*). Allerdings wird bei einer solchen Zerdehnung die Grenze äußerst diffus und unbestimmbar.

Die zweite, ähnlich einfache Quelle ihrer formalen Auszeichnung ist ihre Länge*, besonders bekannt von Ornamenten, die die »endlose Linie«* thematisieren, oder von Aufgaben, bei denen es etwas Kompliziertes in einem Zug* nachzuzeichnen gilt (= minimale* Anzahl der Einheiten der Bewirkungshandlung, Lückenlosigkeit* der reproduktiven Wirkung, Erwartungskontrast*). Dabei muß sich die Linie meist winden und drehen, und aus dieser Rotation ergeben sich zusätzliche Aspekte der Anhäufung von Gleichem: bei einer beharrlich einseitigen Richtungsänderung die Extensivierung des Drehwinkels*, oft auf mehrere volle Kreise, die eine Teilwiederholung* der Linie nach sich ziehen (Spiralen*, Ranken* usw.), bei lebhaftem Links-und-rechts-Schlängeln der Rotationskontrast* aller S-Formen* bzw. seine alternierende Wiederholung* in irgendeinem Mäander*.

Kehrt aber die Grenzlinie zu ihrem Ausgangspunkt zurück, dann sind wir praktisch gezwungen, in dem Ergebnis eine Objektform zu erblicken. (Selbstverständlich muß dieser speziellere Formbegriff von unserem streng unterschieden werden. Außerdem interessiert uns hier nur seine abstrakte oder abstrahierte Informationssubstanz und nicht sein inhaltliches Motivationspotential.) Eine neuerliche Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang vor allem der umschlossene Raum als »negatives« Objekt, umgeben und gebildet von einem oder mehreren positiven Objekten: eine tiefe Konkavität, ein durchgehendes Loch usw. Was einen solchen Raum formal hervorhebt, ist offenbar die Umstülpung, durch die die übliche Anordnung »Objekt innen/Raum außen« in ihr Gegenteil verkehrt wird, mit Richtungs-* und Erwartungskontrast*. In der Architektur wird die Wunderlichkeit des eingefangenen Raumes freilich nur noch selten spürbar; wer sie in voller Schärfe erleben will, der muß sich in unterirdische Gänge* begeben und dort mit der eigenen Beklemmung* kämpfen, aber auch die Lust an einem hohlen Versteck* bis zur Neige auskosten – und was tun die Höhlenkletterer* als »Gegenalpinisten« eigentlich anderes? Zusätzlich interessant ist es natürlich auch in diesem Fall, wenn das positive Objekt auf eine Doppelkontur* zwischen zwei Räumen zusammenschrumpft, so bei Gefäßen mit dünnen* – und womöglich sogar durchsichtigen* – Wänden, Netzen*, die aus lauter Löchern* bestehen, Ballonen* usw. Und zu einer noch aufregenderen Verdopplung kommt es, wenn in das negative Objekt ein genau identisches* positives Gegenstück* eingeführt wird; das Kleinkind mit seinen Steckspielen* scheint das gut zu verstehen.

Wenn wir uns nun dem Verlauf der Grenzlinie im Detail zuwenden, stoßen wir zunächst wieder auf zwei alternative Möglichkeiten der Anhäufung von Gleichem. Die erste ist ein markanter Knick*, d.h. ein Richtungssprung, der sich einem bestimmten Punkt der Linie zuordnen läßt und als Teilwiederholung* mit Kontrast* plus scharfe Kontur zweiter Ordnung* interpretiert werden kann. Seinen Extremwert erreicht dieser Sprung bei schlanken Spitzen* und Schneiden*, also beim »Rückprall« der Grenzlinie in eine nahezu absolute Gegenrichtung*. Und am anderen Ende der Skala findet man da glatte* Linien mit (höchstens) ganz sanfter Krümmung, bei denen das Kokettieren der Veränderung mit einer reinen Wiederholung* der Richtung deutlich sichtbar wird, a la longue aber dennoch zumindest  sehr oft zu der typischen Figur der Rundung* als einem klassischen fließenden Übergang* zwischen zwei mehr oder weniger kontrastierenden* Richtungen führt. Glatte Flächen werden in vielen Situationen selbst den schönsten Spitzen vorgezogen, doch geschieht das nicht nur wegen ihrer – an sich zwar unbestreitbaren – formalen Eleganz, weil sich hier der Tastsinn mit seinen leicht zu erratenden inhaltlichen Präferenzen einmischt. Andererseits werden Spitz und Glatt im Verlauf der Grenzlinie aber auch gern kombiniert* (denn schließlich kommt ein Knick nur in glatter Umgebung richtig zum Ausdruck), wobei diese zwei Varianten einer homokumulativen Veränderung untereinander eine eigene Art des Kontrastes* herstellen.

Das nächste Stockwerk der Homokumulativität der Grenzlinie ist dann jene Regelmäßigkeit*, zu der es kommt, wenn eine örtliche Eigentümlichkeit ihrer Krümmung oder eine Gruppe solcher Eigentümlichkeiten für ihren weiteren Verlauf gleichsam verbindlich wird, so daß sich die »einmal gewählte« Krümmungsfigur entlang eines ausgedehnteren* Abschnitts oder noch besser entlang der ganzen* Linie wiederholt. Unter diesen Bedingungen kann eine gleichbleibende* Krümmung letzten Endes nichts anderes ergeben als einen Kreis* oder eine Kugel*, und das sind bekanntlich die beiden »vollkommensten« geometrischen Gebilde, die es gibt, nämlich reine Anhäufungen von Gleichem ohne jede Spur von eingebauter Diversität. Nicht viel weniger homokumulativ sind allerdings andere Kurven, deren Krümmung sich zwar allmählich verändert (= fließender Übergang zweiter Ordnung*), aber so, daß sie einander imitierende* Abschnitte produziert (Ellipsen*, Parabeln*, Sinuskurven* usw.). Ein Sonderfall ist hier natürlich die Gerade*: eine krümmungsfreie Grenzlinie, die die einmal eingeschlagene Richtung beliebig lang* genau* einhalten kann. Und was wiederholt sich bei geknickten Grenzen? Entweder ist es die Winkelgröße* des Knicks oder der Abstand* zwischen den einzelnen Knickstellen – wobei sich die Verbindungsstrecken am besten nach irgendeiner Glätteregel richten und einander gleichen* – oder beides*, man vergleiche z.B. die Gruppe Rechteck*/Rhombus*/Quadrat*. Das Ergebnis ist bisweilen eine tendenzielle Gerade (Zickzack*, Schuppenlinie*), meistens aber eine kreisartig geschlossene Form wie bei regelmäßigen Vielecken*, Sternen*, Auswärts- und Einwärtsrosetten* und ähnlichen Gebilden.

»Geometrische« Linien haben es den meisten Kulturen des Menschen ganz besonders angetan, und diese – in vielen Fällen inhaltlich gegenstandslose – Vorliebe, die bis in die graue Vorzeit zurückreicht, ist offenbar wieder einmal nichts anderes als ein Ausdruck der menschlichen Homokumulativitätsgier. Freilich geht es dabei zunächst nur um den subjektiven Eindruck von Regelmäßigkeit, der oft sehr viel Approximativität und Sorglosigkeit im Detail zuläßt. Zu der letzten historisch denkbaren Steigerung der Homokumulativität des Grenzverlaufs bringt uns demzufolge die objektive Perfektionierung* seiner Geometrizität, d.h. die peinlich exakte*, reine* und lückenlose* Einhaltung jeder einmal in Kraft getretenen Gestaltungsregel, verbunden mit einer strengen Kontrolle, die auch nicht die geringste Abweichung durchgehen läßt und damit die Aufgabe selbst bei den modernen Hilfsmitteln ganz schön schwierig*, aber vielleicht gerade deswegen formal noch interessanter macht (obwohl unser heutiges Erlebnis der Geometrie vorwiegend von technologischen Zwängen geprägt wird). Durch die objektive Geometrizität werden fast alle Einzelheiten eines Informationsklumpens restlos determiniert*, und das ist sicher die Krönung jener straffen Ordnung, die mit monotonen, scharf abgegrenzten Flächen einsetzt; von der Komplexität der Komposition bleibt dabei eher wenig übrig.

 

Die Form aus der Begegnung der Grenzlinien. Berührung und Äquidistanz. Symmetrie als Halbierung. Multiple Halbierung: Mittelpunkt oder Schwerpunkt. Anordnung der Ereignisse in gleichmäßig gegliederten Linien. Homokumulative Raumgitter, auch als Ereignisschablonen. Konvergenzpunkte und Strahlensterne.

Wie verhalten sich aber nun mehrere solche Grenzen – oder auch Abschnitte einer einzigen komplexeren Grenze – zueinander? Wenn wir mit zwei Linien als dem einfachsten Fall beginnen, ist die erste Spur von Homokumulation ihre räumliche Annäherung*, die von einem wachsamen Auge leicht als Intensivierung, nämlich Verdichtung*, erlebt wird (besonders in der Mehrzahl: Bündelungen*, Geflechte*, Spiralen in ihrer Einwärtsbewegung*). Das logische Extrem dieser Annäherung ist die vereinende Berührung*, und jeder Knick, aber auch jede Überschneidung läßt sich als eine solche Berührung zweier Linien auffassen. Formal privilegierte Sonderausführungen sind dabei 1. ein möglichst rechtwinkliger* Kontakt, zumal von Geraden, als die weitestgehende Bereinigung* jenes Dimensionskontrastes*, der unsere Raumperzeption charakterisiert (und nicht mit absolutem Richtungskontrast verwechselt werden darf); 2. eine extrem spitzwinklige* Berührung, auch von ähnlich gebogenen Kurven, bei der die langsame Distanzveränderung zwischen den beteiligten Grenzlinien für einen sehr anschaulichen fließenden Übergang* sorgt; daneben gibt es aber auch 3. vom Anfang bis zum Ende äquidistante* Linien verschiedensten Verlaufs (geknickte, spiralförmige usw.), die sich sozusagen jede Annäherung streng verbieten. Äquidistante Linien sind wohlgemerkt nicht einfach einander gleich – mit der berühmten Ausnahme von parallelen* Geraden.

Von drei Grenzen liegt meistens eine zwischen den beiden anderen, und das genügt für die einfachste Art einer wohldefinierten Raumteilung. Die homokumulative Version dieser Teilung ist offenbar eine möglichst genaue Halbierung* der Entfernung zwischen zwei Punkten, Linien oder Flächen durch eine dritte. Oft liegt es nahe, die Hälften nochmals zu halbieren usw.; das Prinzip neigt also dazu, sich in mehreren Stockwerken zu wiederholen*. Eine Variante der Halbierung ist im Grunde genommen auch die Symmetrie* (die wir hier restriktiv als »Spiegelung« auslegen wollen), obwohl dabei das Verhältnis zwischen den Hälften als solchen in den Vordergrund rückt und die Symmetrieachse als Halbierungslinie real auch fehlen kann. Jede von den Hälften soll bekanntlich möglichst viele verschiedene (naturalistische oder abstrakte) Einzelheiten enthalten, weil sich dadurch die Menge* ihrer – möglichst reinen* und lückenlosen* – Korrespondenzen auf der anderen Seite und mithin die Exaktheit* der Wiederholung entsprechend erhöht, während die »Drehung« um die Symmetrieachse zu einem Links-rechts-Kontrast* bei allen jenen Einzelheiten führt, denen ein solcher überhaupt anzumerken ist, so daß man insgesamt von einer geradezu vorbildlich homokumulativen Teilwiederholung* sprechen darf.

Im visuellen Bereich bzw. im Raum fühlt sich die Symmetrie besonders wohl und entwickelt eine reiche Morphologie. Neben der Grundform sind noch zu erwähnen: Symmetrie »übers Eck«* (um zwei Achsen herum im gegenüberliegenden Quadrant), gekreuzt* (= in allen vier Quadranten), in mehreren Etagen* sowie schließlich mit verschobenen Hälften* (kopfstehende Paare*, alternierend* identische Links- und Rechtsabzweigungen* usw.). Doch in allen ihren Erscheinungsformen bleibt die Spiegelung eine ausgesprochene Angelegenheit der Anhäufung von Gleichem.

Ein eigenartiger Typ der Zweiteilung ist derjenige, der sich um zwei oder drei Dimensionen ärmerer Mittel bedient – Paradigma: ein Punkt innerhalb einer umgrenzten Fläche. Dabei muß man sich den Prozeß als in allen Richtungen gleichzeitig verlaufend vorstellen und den Punkt selbst als den Schnittpunkt der in dieser Operation zusammengefaßten linearen Teilungsverfahren. Schon das impliziert eine unsichtbare Verdichtung*, und noch homokumulativer wird ein derartiger Schnittpunkt natürlich bei Gebilden, die dank ihrer Regelmäßigkeit eine einleuchtend genaue Simultanhalbierung* zulassen, d.h. als geometrischer Mittelpunkt*. Eine Sonderstellung nimmt auch hier der Mittelpunkt des Kreises* ein, der als einziger Punkt zugleich die Äquidistanzbedingung* erfüllt; in allen anderen Fällen müssen wir uns mit irgendeinem Wiederholungsmuster* in den Schwankungen des Halbmessers begnügen. Geradezu zwingend dazugedacht wird ein solches Zentrum, obwohl meist nicht real mitgegeben, bei konzentrischen* Grenzlinien (darunter auch negativen), wo es als Ort der Deckung* mehrerer Mittelpunkte fungiert. Konzentrizität ist zwischen beliebig verschiedenen Gebilden denkbar, wird aber wieder durch die Kombination mit einem äquidistanten* Linienverlauf besonders effektvoll. Und eine Nebenform zu alledem ist die inhaltlich oder formal gewichtende  Simultanhalbierung, auch von komplexesten Ganzen, die diese ins »Gleichgewicht«* in einem – möglicherweise vom geometrischen Zentrum weit entfernten – Schwerpunkt* bringen soll. Die Übereinstimmung von Schwerpunkt und Mittelpunkt bzw. die «Spannung« zwischen den beiden ergibt unter anderem ein weiteres wichtiges abstraktes Kompositionsprinzip der scheinbar rein mimetischen Kunst.

Nun nehmen wir aber das Thema vom anderen Ende her in Angriff und stellen uns vor, daß wir eine unbeschränkte Anzahl von gleichrangigen visuellen Ereignissen analytisch bewältigen sollen (wobei vom einfachsten Punkt bis zur größten Ansammlung von Objektformen alles als Ereigniseinheit gelten kann). Homokumulativ ist selbstverständlich auch ein völlig regelloses Streumuster derartiger Einheiten – wenn sie sich nämlich selber wiederholen*; doch uns interessiert hier speziell die Anhäufung von Gleichem in den räumlichen Relationen als solchen ohne Rücksicht auf die Elemente, denen dadurch ihr jeweiliger Platz zugewiesen wird, mögen die Elemente in der Praxis noch so oft ebenfalls gleich sein. In diesem engeren Rahmen ist die erste Möglichkeit ein zunächst im Detail nach wie vor ungeregelter Zusammenschluß – real oder dazugedacht – von mehreren oder sogar sehr vielen* Elementen zu einer einzigen langen* oder noch besser geometrisch regelmäßigen* Linie, also die Anordnung der Ereignisse z.B. in einer geraden Reihe*, im Kreis* usw., und die zweite ist die schon erörterte Wiederholung des Abstandes zwischen den Ereignissen, also ein rekurrierendes Raumintervall* (gemessen entweder zwischen ihren Mittelpunkten/Schwerpunkten oder zwischen ihren äußeren Rändern). Gewöhnlich werden beide Prinzipien kombiniert, und deshalb bildet den Grundstock nahezu aller Homokumulation bei multipler Raumgliederung ein lineares Hintereinander (statt, wie bisher, Nebeneinander) von Äquidistanzen, das die Analogie zur Zeitgliederung unterstreicht. Eine Variante dazu ist vielleicht noch die allmähliche Veränderung des Intervalls auf die Art eines fließenden Übergangs*, insbesondere seine Verringerung als zunehmende Verdichtung* der visuellen Ereignisse – aber auch das kennen wir bereits vom accelerando.

Und wie kommen wir von einer solchen Zerteilung der Linie in Abschnitte durch Ereignisse als Grenzpunkte zu einer mehrdimensionalen Raumordnung? Wir wissen, daß eine größere Anzahl von Linien in der Fläche zu vielen gegenseitigen Überschneidungen führt. Geordnet wird diese »Gliederung hoch zwei« erstens einmal dadurch, daß man eine Reihe von äquidistanten* Grenzen nimmt – am besten und in aller Regel sind es gleich parallele Geraden* – und sie mehr oder weniger quer über eine andere ähnliche Reihe legt. Die meisten derartigen Gitter implizieren durchgehend identische* Kombinationen von Überschneidungswinkeln; die orthogonalen*, die darunter aus ebenso verständlichen Gründen weit überwiegen, sogar eine einzige Winkelgröße, die sich unablässig wiederholt*. Und für eine zusätzliche (also nicht obligatorische) formale Pointe sorgt die gleichmäßige Skalierung* beider Linienreihen, am besten wieder mit einem einzigen Maß* wie beim quadratischen Netz* als dem Non plus ultra des homokumulativen Raumgitters.

Oft dient auch ein solches Gitter als Metrum*, zu dem sich der räumliche Rhythmus z.B. eines komplizierten rechteckigen Grenzverlaufs in der Architektur oder im Ornament ähnlich verhält wie die musikalischen Ereignisfiguren zu ihren Schablonen. Eine Besonderheit des mehrdimensionalen Raummetrums ist höchstens, daß es neben dem genauen Ort, an dem ein visuelles Ereignis stattfinden soll, vielfach auch seine räumliche Ausrichtung oder sogar nur diese vorbestimmt, vor allem im Sinne einer Verpflichtung zur Parallelität*.

Daneben gibt es allerdings noch eine ganz andere Möglichkeit der homokumulativen Raumordnung, und zwar beginnt sie dort, wo sich mehrere Linien einander so nähern, daß sie sich schließlich alle im selben Punkt berühren* – oder sich wenigstens in der Verlängerung berühren müßten. Dieser zwangsläufig vereinzelte, dafür aber von Intensität strotzende* Konvergenzpunkt, der »alles in seiner Umgebung verschluckt«, illustriert wohl am eindrucksvollsten, was wir mit der Verdichtung der Linien gemeint haben. Doch wegen der starken Konnotation von Wachstum und generativer Kraft* wird er ebenso leicht in umgekehrter Richtung erlebt, nämlich als Ausgangspunkt einer Auffächerung bzw. Zerstückelung eines vollen Kreises. Auch hier kommt dann meistens noch eine Art von Äquidistanz hinzu, wobei wir in diesem Fall an die Wiederholung gleicher Berührungswinkel* denken, die beim Strahlenstern so etwas wie ein regelmäßiges »zentrifugales Vieleck«* ergibt. Besonders formal ausgezeichnet sind die geradzahligen Vertreter dieser Gattung (wegen der Überschneidung von Geraden*) und darunter ganz speziell das Kreuz* mit seinem Dimensionskontrast*. Bei einer engwinkligen Auffächerung schiebt sich hingegen der fließende Richtungsübergang* in den Vordergrund.

 

Verschiedene Facetten der Objektgröße. Megalithismus. Warum ist die Miniatur eine Anhäufung von Gleichem. Die Größenrelation. Kritische Bemerkungen zur Theorie des Ebenmaßes.

Solche und ähnliche Elemente lassen sich aus beliebig komplexen visuellen Informationsklumpen herausschälen – wenn man nämlich die letzteren als Zusammensetzungen auffaßt. Doch kann der Mensch ihre innere Gliederung auch einfach übersehen und sich auf jenes Verhältnis zwischen dem Klumpen als Ganzen und dem von ihm beanspruchten Raum konzentrieren, das durch den Parameter der Objektgröße beschrieben wird. (Vom Standpunkt der Form bedeutet das natürlich eine typische Entscheidung gegen die Homokumulativität aus der Komposition.) Größe gibt es in zwei Ausführungen, einerseits als wahllose Ausdehnung in allen Richtungen gleichzeitig, d.h. als Flächeninhalt*, Volumen*, Masse* oder auch vorgestellte Schwere*, und andererseits als lineare Erstreckung: Länge*, Breite*, Höhe*, Tiefe* usw. dort, wo die Anhäufung – denn es kann sich offensichtlich nur um diese handeln – in einer Richtung besonders herausragt. In erster Linie ist auffallende Größe selbstverständlich der Prototyp aller Extensität* (mit unzähligen metaphorischen Bedeutungsübertragungen: »Persönlichkeitsformat«*, »Geistesgröße«*, »grandios«*, »monumental«*…), manchmal drückt sie sich aber auch als Menge* von Maßeinheiten aus, vor allem wenn die Objekte unüberschaubar groß sind. Bei linearer Erstreckung fällt außerdem noch die schon irgendwo erwähnte Bereinigung* der kritischen Dimension (oder auch zweier Dimensionen bei möglichst verkümmerter dritter*) ins Gewicht.

Die formale oder formalisierte Bewunderung des Gigantismus* bei Artefakten und in der Natur stellt eine wohlbekannte menschliche Verhaltensreaktion dar; unter anderem ist die Größe der natürlichen Objekte ein klassisches Betätigungsfeld unserer Suche nach rein vorliegenden, also unbewirkten Rekorden*. Besonders charakteristisch ist in diesem Kontext vielleicht jener Megalithismus* (= Gigantismus der Bauelemente), auf den so viele alte Kulturen – im Prinzip unabhängig voneinander – gekommen sind, obwohl er ihnen die Aufgabe bei zweifelhaftem Funktionalitätsgewinn ganz außerordentlich erschwerte*. Überhaupt schaut es so aus, als wären unsere Vorfahren in einen megalophilen Rausch verfallen, sobald sie sich ihn technologisch leisten konnten, und daran hat sich bis heute wenig geändert.

Allerdings ist räumliche Ausdehnung ein Kontinuum mit zwei Extremen, und die Welt ist ebenso voll von Beispielen für die zweckfreie Faszination des extrem Kleinen, des Miniaturhaften. Auch in dieser Richtung werden viele Rekorde* geführt – aber Rekorde wovon, d.h. wie kann man in einer Schrumpfung eine Anhäufung von Gleichem erblicken? Anders als Größe ist Kleinheit nur unter einer ganz bestimmten Bedingung homokumulativ: ihr extensionsneutrales Komparat muß zahlreiche Einzelheiten enthalten, die für seine Identität unentbehrlich sind. Natürlich darf auch die Verkleinerung keinen solchen charakteristischen Zug auslassen – es wird großer Wert auf ihre Vollzähligkeit* (= Lückenlosigkeit*) gelegt –, und dadurch werden die Züge zwangsläufig auf engerem Raum zusammengedrängt, also verdichtet* und somit wieder »in der Anordnung intensiviert«. Ist die Miniatur eine gewollte Reproduktion, dann führt die von ihr geforderte originalgetreue Wiedergabe in winzigstem Maßstab außerdem oft zu einer extrem schwierigen* Bewirkungshandlung, die sich vorzüglich für Übertrumpfungswettkämpfe* eignet. Doch im Gegensatz dazu lassen sich später am fertigen Produkt manipulative Eingriffe vornehmen, die beim Original unmöglich wären, hier aber trotz minimaler* Bewirkungsanstrengung intensivste* Wirkungen zeitigen; daraus entwickelt das Kind eine symbolische und der naive Erwachsene eine magische Art der (inhaltlich und formal befriedigenden) Weltbeherrschung*.

Ein zusätzlicher Faktor, den man dabei berücksichtigen muß, ist freilich das auch beim Menschen postulierte angeborene Kindchenschema; aber wieviel kann man eigentlich mit ihm erklären? Schon bei Säuglingen bezieht sich unser stärkstes Winzigkeitserlebnis wahrscheinlich auf ihre Finger* und Zehen*, was im Kindchenschema kaum vorgesehen sein dürfte – von den Bonsai-Zwergbäumen* oder den vielen Sachminiaturen* ganz zu schweigen. Es muß also noch etwas anderes im Spiel sein.

Und schließlich gibt es in diesem Zusammenhang noch eine dritte Möglichkeit der formalen Prominenz, nämlich die Größenrelation, wobei die absolute Extension – außer vielleicht beim Kontrast* zwischen Groß und Klein – in den Hintergrund tritt. Zu nennen sind da unter anderem identische* Größe (und zwar nicht nur bei deckungsgleichen* Objekten, wo sie sich natürlich von selber versteht), ein mehr oder weniger fließender* Größenübergang (sagen wir bei Perlenketten*, dicht angereihten konzentrisch-äquidistanten Formen* oder den russischen Babuschkas*) sowie zwei ganz spezifische Teilwiederholungen: einerseits die Formgleichheit* des Ganzen und seiner Teile wie bei einem Kreis aus Kreisen* oder einer Dreiergruppe aus Dreiergruppen* und andererseits die Einhaltung des einmal gewählten Maßstabs* bei aller Verschiedenheit des Details. Mit der letzteren Variante sind wir bei dem vielleicht berühmtesten ästhetischen Prinzip überhaupt, nämlich dem der Proportionalität*, des Ebenmaßes oder der Symmetrie in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes angelangt. Meiner Meinung nach sind diese Etiketts sehr vorsichtig zu gebrauchen; Vorbedingung ist eine hieb- und stichfeste Begründung der bei den beobachteten Maßen angenommenen Konstante* sowie jener Transformationsregeln, nach denen die Konstante gerade diese Maße ergibt, und auf so etwas kann man erfahrungsgemäß nur bei einer Reproduktion hoffen. Traditionell werden zwar vielfach links und rechts allem, was gefällt, »harmonische Proportionen« bescheinigt, aber dabei wird die Behauptung entweder gar nicht oder höchstens wild subjektiv untermauert. Die Theorie der Proportion ist eben ein berüchtigter Tummelplatz unbekümmerter Dogmatiker – und Homokumulativitätsjäger: so wäre z.B. der goldene Schnitt*, wenn er in der Kunst tatsächlich eine Rolle spielen sollte, nichts anderes als eine (endlose*) Wiederholung der gleichen* Relation.

 

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