Level 4 (Grundtext)
Zur Funktionalitätsfrage
Zwei Fälle von Zusatzbekräftigung: die Geometrizität der Geräte und die formale Pracht der Symbole. Eine Abgrenzung gegen den Pansemiotismus. Nachträge zu den bisher erörterten formal- homokumulierenden Erfindungen.
Auch die Nützlichkeit des vorliegenden Homokumulats ist ein vielschichtiges Sonderproblem, das wir von allen Seiten sorgfältig beleuchten müssen.
Auf niedrigeren Ebenen bereitet der entsprechende Funktionalitätsbeweis freilich keine Schwierigkeiten. Versuchen wir das kurz mit zwei Beispielen zu illustrieren. Erstens ist die äußere Form unserer Geräte bzw. ihrer arbeitenden Teile in aller Regel mehr oder weniger exakt geometrisch*; das ist wohl der bekannteste Fall der Identität zwischen optimaler Zweckmäßigkeit und ästhetischer Vollkommenheit. Aus dieser Übereinstimmung ergibt sich ganz automatisch eine Zusatzbekräftigung, vielleicht aber sogar eine genetische Doppelabsicherung – und in der Tat sieht man oft, daß die Präzision der Gestaltung die technologischen Anforderungen überholt und die Homokumulativitätsgier gewissermaßen in Führung bringt: schon aus dem jüngeren Paläolithikum sind Schneiden und Spitzen bekannt, die zu fein gearbeitet waren, um wirklich Gebrauchszwecken zu dienen, und dasselbe gilt sinngemäß noch für die »Elemente« von Euklid.
Ähnlich breit ist das Feld in unserem zweiten Fall, nämlich bei abstrakten Zeichen (Symbolen) und Zeichenkomponenten (Stilisierungen). Solche Gebilde sind rein konventionell und deshalb die größte bekannte Spielwiese der arbiträren Funktionalität, und sie zeichnen sich oft aus durch eine unglaubliche Pracht* der Homokumulation. Nun liegt ein gewisses Maß von Redundanz bei ihnen sicher im Interesse der fehlerfreien Übermittlung des bezeichneten Inhalts, doch kann man bei verschiedensten Symbolen, vom Schriftzeichen bis zur Kathedrale, immer wieder beobachten, daß sie dieses Maß weit überschreiten und die Kanalkapazität eindeutig »vergeuden«. Daraus folgt wie oben, (a) daß die Homokumulativitätsgier bei ihrer Entstehung eine Rolle gespielt haben dürfte und (b) daß sie auch jetzt von ihnen mobilisiert werden kann; ihre Zeichenkörper (Bezeichnenden) tragen nämlich nicht nur die Nachricht, sondern strahlen daneben noch einen anderen, vom semiotischen Kontext unabhängigen Reiz aus, der stark genug ist, um mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit eine Konsummation der Information als Form auszulösen, ähnlich wie schon ein homokumulatives magisches Mittel oder eine Goldmünze. Deshalb fühlt man sich, selbst wenn man von der Existenz der Nachricht nichts weiß oder ihren Inhalt von vornherein ablehnt, noch von solchen Zeichen angezogen, und das ist wieder eine für den Mitteilenden sehr nützliche Spielart der Zusatzbekräftigung, die extrem homokumulativen Zeichenkörpern einen natürlichen Vorteil bei der Auswahl sichert.
An dieser Stelle ist übrigens eine Abgrenzung gegen jenen Pansemiotismus fällig, der voraussichtlich versuchen wird, alle Erscheinungsformen der Homokumulativitätsgier mit dem Motivationspotential irgendwelcher bezeichneten Inhalte zu erklären. Gewiß findet man, wenn man sich nur mit genügend schwachen Konnotationen zufrieden gibt, in jeder Information Spuren von Bedeutung (und für alles Zeichenhafte bleibt selbstverständlich weiterhin die Semiotik zuständig), das gesamte Phänomen der Information läßt sich aber nur mit höchst problematischen Argumenten darauf zurückführen. Da hört man dann von Zeichen, die »etwas Unbestimmtes und Unbestimmbares ausdrücken« oder sogar »überhaupt nichts Konkretes bezeichnen wollen«, die schlicht und einfach »sich selbst bedeuten« und »nur die syntaktische, nicht aber die semantische Dimension besitzen« (= abstrakte Komposition) usw. Nun kennen die, die so argumentieren, sicher die moderne Informationstheorie und wissen, daß Zeichen nur eine Art der Gattung Information darstellen, neben der es noch andere, eben nicht bezeichnende Informationsarten gibt. Woher also ihr merkwürdig überschwappender Kompetenzanspruch? Vielleicht enthält gerade die Theorie des Homokumulats die Lösung des Rätsels: solche Semiotiker sehen nicht nur, wie eine Anhäufung von Gleichem andere Menschen anzieht, sie spüren ihre Aufforderung auch gleichsam am eigenen Leib; da sie aber mit dem Redundanzbegriff der Informationstheorie kaum etwas anfangen können, sind sie gezwungen, nach einer anderen Erklärung zu suchen, und die einzige Möglichkeit – zumal für Zeichenforscher – ist irgendeine geheimnisvolle »Botschaft«, die die ganze Erregung letztlich dennoch sinnvoll erscheinen läßt.
Am liebsten wären uns jedoch auch hier ein paar formal-homokumulierende Erfindungen mit ihren dramatischen Pointen. In dem Zusammenhang müssen wir zunächst zu unserer Darstellung der bisher erörterten Fälle zurückkehren, um festzuhalten, daß sie mehr oder weniger einseitig war und daß wir sie nun nicht unwesentlich ergänzen können: schon bei diesen Erfindungen ist die Faszination der Bewirkung, wie es scheint, unlösbar verflochten mit der meist ebenso beteiligten motivativen Kraft des vorliegenden Homokumulats.
So dürften auf der langen Reise zum Wagen die Rotation* des stationären Rads und sein Rollen* als Fortbewegungsmuster, ferner die nötige Deckungsgleichheit* zweier möglichst vollkommener* Kreise bzw. Zylinder und zuletzt (bei den Tierpuppen auf Rädern) sogar die gelungene Imitation der Bewegung* mit zu den intrinsischen Belohnungen gezählt haben. Beim Schießbogen war vor allem der Ausgangspunkt rein ästhetisch – die Freude am Vibrieren* des gespannten Seils als einem unglaublich dichten* und regelmäßigen* Hin und Her* und an der darin enthaltenen Versprechung des Tons* (man könnte behaupten, daß der Schießbogen vom Ur-Chordophon abzweigt). Umgekehrt wurde echtes Gewölbe gerade gegen das Ende seiner Entwicklung als vorliegende Information immer interessanter wegen der wachsenden geometrischen Perfektion* seiner Krümmung und der ausgesprochen »ornamentalen« Effekte, die sich aus der Radialanordnung* der standardisierten* Steine ergaben. Doch am größten war der Anteil solcher Elemente wahrscheinlich bei der Metallurgie, deren Entstehung sich ohne den Reiz des vorliegenden Homokumulats fast nicht denken läßt. Über die Farbe und den Glanz der gediegenen Metalle* haben wir inzwischen bereits einiges gesagt; die Möglichkeit ihrer Verformung durch Schmieden wurde anscheinend wieder in erster Linie für dekorative Geometrizität* ausgenutzt; sobald sie genügend erhitzt wurden, begannen sie immer intensiver* zu glühen*; und beim Schmelzen des Kupfers kam dann noch der zeitlos überwältigende Anblick der feurigen grüngelben* Flüssigkeit hinzu. Ja selbst die ersten verarbeiteten Erze wie Malachit* (oder Bleiglanz*?) waren schon an und für sich formal auffällige Steine. Und schließlich ist auch Gießen noch heute ein Renommierstück der exakten Reproduktion* durch den Abdruck*.
Wenn aber das Problem weiter eingeengt wird auf die Frage, ob ich neue, zusätzliche Beispiele von formal-homokumulierenden Erfindungen nennen kann, bei denen die zuletzt analysierte Art der Anhäufung noch eindeutiger den Ausschlag gegeben haben dürfte als in der Metallurgie, dann lautet die Antwort mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit »nein«. Im Bereich der Technologie kommt dem damit postulierten Sachverhalt am nächsten etwa das Zahnrad- oder Schneckengetriebe, das von den antiken Mechanikern sicher nur sehr schwer auf instrumentalem Wege entdeckt werden konnte, aber eine solche Erfindung wäre uns im Kaliber doch etwas zu klein. Und die schon erwähnte Funktionalität des Metallgeldes ist lediglich ein spätes Nebenprodukt der Beschäftigung mit den Metallen, also keine wirkliche Neuheit.
Die Nutzlosigkeit der abstrakten Komposition. Lohnt es, ganze Informationsklumpen zu speichern? Die Unterwanderungsgefahr. Sprache als Zusammensetzung. Rhetorische Figuren. Locker komponierte Geschichten und wie man sie straffen kann. Strukturelle Pointen auf der Grundlage des Kontrastes und der exakten Wiederholung. Was für ein Zufall ist die Koinzidenz.
Besonders gravierend ist für diese Diskussion der Umstand, daß wir bei abstrakten Kompositionen als Kompositionen unsere Nützlichkeitsannahme sehr vorsichtig präzisieren müssen. Zusammensetzung setzt Verschiedenheit, d.h. Veränderungen im Inneren des Informationsklumpens voraus, und grundsätzlich steht man bei jeder Veränderung vor der Aufgabe, sich für eine von vielen Möglichkeiten zu entscheiden. Bei einer abstrakten Komposition sind nun alle derartigen Entscheidungen rein zufällig. Wird der Aufbau des Informationsklumpens im einzelnen nicht durch seine Funktion vorbestimmt (= ist er arbiträr), dann bleibt diese Zufälligkeit natürlich ohne Folgen: so sind unter anderem die meisten Symbole zusammengesetzt. Praktisch ausgeschlossen ist jedoch die Möglichkeit, daß eine blind aleatorische Ansammlung von ungleichen Elementen z.B. eine technologisch sinnvolle Schrittreihe ergeben könnte. In dem Sinne ist also die abstrakte Komposition nutzlos, und solange sie unter den Objekten der Homokumulativitätsgier im Vordergrund stand wie in der traditionellen Ästhetik, war an eine funktionalistische Interpretation des Phänomens nicht zu denken. (Zugleich ist es aber gar nicht so unlogisch, daß sie als erste von der Theorie bemerkt wurde.)
Mit anderen Worten, die Nützlichkeit, von der wir sprechen, bleibt beschränkt auf bestimmte Elemente einer solchen Komposition, nämlich auf einzelne Homokumulate. Im Lichte dieser Tatsache erscheint der Umstand, daß wir die Klumpen als Ganze wahrnehmen und speichern, auf den ersten Blick sicher nicht übermäßig rationell. Radikale Holisten werden sogar sagen, daß die Elemente völlig in der Struktur aufgehen und aufhören zu existieren; deshalb müssen wir hier noch einmal betonen, daß sie unbewußt dennoch identifiziert und aus dem Zusammenhang herausgeschält werden können. Der beste Beweis dafür, daß wir sie »als solche« erfahren haben, ist wohl ihr Transfer in andere Strukturen, ein Vorgang, dem die meisten Zusammensetzungen die meisten von ihren Bestandteilen verdanken. Weiter müssen wir uns vergegenwärtigen, daß man in einer Komposition oft viele verschiedene Homokumulate als mögliche Systemausgaben kennenlernt, also wird der Speicherraum doch nicht so sinnlos verschwendet. Und schließlich dürfen wir nicht vergessen, daß es zahlreiche Anhäufungen von Gleichem gibt, die ohne die Komposition gar nicht möglich wären. Homokumulate können demzufolge ruhig als Einschlüsse in größeren Informationsklumpen auftreten und die Klumpen als Klumpen nutzlos sein – der Funktionalität der Homokumulativitätsgier tut das an sich keinen nennenswerten Abbruch. Wichtig ist nur, daß die Bausteine von instrumental determinierten Strukturen streng nach den entsprechenden inhaltlichen Kriterien aneinandergefügt werden und nicht etwa nach formalen.
Doch gerade da liegt der entscheidende Haken. In Wirklichkeit sind nämlich auch solche Strukturen einer unablässigen »Unterwanderung« durch das Formverhalten ausgesetzt, und diese Unterwanderung beschränkt sich nicht nur auf eine unbedenkliche Formalisierung jener Elemente oder Relationen, die sich zufälligerweise schon beim funktionalen Optimum formal auszeichnen, sie biegt sich die Struktur sehr gern auch »subjektiv« zurecht, ohne sich viel um das funktionale Optimum zu kümmern. Am besten verdeutlichen läßt sich das wahrscheinlich am Beispiel der Sprache als Komposition. Ihre Gebilde sind ein klassischer Fall der Zusammensetzung im Dienste des Inhalts, und doch wird ihnen trotz ihrer Abstraktheit von alters her ästhetisches Potential zuerkannt, weil es schwer zu übersehen ist, wie stark ihr innerer Aufbau zugleich auch unser CIF-Interesse erregt. Deshalb leisten wir uns an dieser Stelle zunächst einen längeren Exkurs über die Form in sprachlichen Aussagen.
Auf der Ebene der Sätze sind ihre Glanzlichter leicht zu erkennen; sie wurden schon sehr früh von der Rhetorik inventarisiert, und es ist auch ohne ein detailliertes Beweisverfahren klar, daß die meisten rhetorischen Figuren Homokumulativitätsphänomene bezeichnen. Einerseits handelt es sich um verschiedenste Varianten der Iteration*, um intermittierende Rekurrenz* und Teilwiederholung*, aber auch chaotische Häufung* und Steigerung*, und andererseits um eine ebenso reiche Palette von Kontrasten* – von denen wir die komischen bereits genannt haben –, bis hin zu echter Symmetrie* (z.B. beim Chiasmus*).
Ungleich diffuser und weniger gut erforscht ist die Verlockung bei längeren Texten. Besonders offenkundig wird dieses Problem vielleicht bei einer erzählten Geschichte, d.h. bei der Beschreibung eines Existenzverlaufs. Versucht man eine auf gut Glück aufgegabelte Geschichte als ein Mosaik von Aussagen aufzufassen, so entdeckt man in den Beziehungen zwischen den Steinchen gewöhnlich eher wenig Homokumulativität. Erzählen besteht darin, daß eine Reihe von Ereignissen mehr oder weniger analytisch geschildert wird, und das bedeutet im Grunde genommen, daß der Erzähler über sie eine Art Theorie aufstellt: es gäbe eine bestimmte Anzahl von Prämissen, deren Zusammenspiel sie hinlänglich erklärte. Vergleicht man nun die Prämissen untereinander, so erweisen sich in aller Regel die meisten von ihnen als von Ereignis zu Ereignis verschieden und akzidentell. Natürlich muß wenigstens ein Minimum von Konstanz eingehalten werden, damit die Ereignisse eine Geschichte ergeben; in dem Maße werden »thematische« Prämissen, nachdem sie einmal frei gewählt worden sind, für den Erzähler obligatorisch. Aber die durchschnittliche Geschichte bleibt ziemlich locker zusammengesetzt, weil sie nur einfache Konstanten (z.B. recht schematisch konzipierte »Helden«) enthält, die im einzelnen wenig determinieren und den sorglosen Fluß der Erzählung praktisch kaum einengen. Diese Freiheit kann formal höchstens dazu ausgenutzt werden, um eine möglichst bunte* Folge von Ereignissen aneinanderzureihen, oder anders gesagt, die Anhäufung von Gleichem beschränkt sich dabei auf das paradoxe Homokumulat*. Mehr hätte auf den ersten Blick auch nicht viel Sinn.
Und doch macht sich selbst bei Geschichten manchmal ein Trend zu strafferer Komposition bemerkbar, dem es nicht so sehr um den instrumentalen Nutzen zu gehen scheint als um spielerischen Genuß. Erstens gibt es anspruchsvollere Einzelkonstanten (ein differenzierter Charakter, die Logik der Folgen einer Tat usw.), die nach ihrem Inkrafttreten nur noch eine ganz bestimmte Klasse von Begebenheiten zulassen. Damit wird die Kongruenz mit dem Ausgangspunkt, die aristotelische »Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit« der Ereignisse oder, formaler gesprochen, die Einheitlichkeit* der Erzählung – bei erhaltener Diversität des Erzählten – zu einem Problem*, dessen Meisterung* auch unabhängig vom Inhalt Bewunderung auslöst. Und zweitens kann der Gesamtanteil der konstanten Prämissen und mit ihm die Menge* und Dichte* ihrer Begegnungen in den Ereignissen erhöht werden (die traditionelle Metapher spricht sogar von »Verwicklungen« oder »Knoten« – die korrekteste Bezeichnung wäre wohl Simultanrekurrenz*). Ein solches vielfach determiniertes Netz zu knüpfen ist natürlich noch schwieriger* und die Komposition einer verwickelten Geschichte gilt zu Recht als ausgesprochen kunst-voll. In ihrer Extremform versucht die geschilderte Straffung den externen Zufall ganz zurückzudrängen und die Erzählung in eine geschlossene Welt zu verwandeln, in der ein kleines Repertoire von Konstanten in immer neuen Konfigurationen alle* wesentlichen Ereignisse unter sich aushandeln wird (= Lückenlosigkeit* der Determination). Am deutlichsten ist der Unterschied bei der Lösung des Knotens; während diese in einer naiven Geschichte einfach durch die hundertste oder tausendste Akzidenz erfolgt, wird bei straffer Komposition jeder Eingriff eines deus ex machina als ein schwerwiegender Kunstfehler bewertet.
Neben solchen systematischen Bestrebungen gehören zur Form der Geschichte aber auch einzelne Pointen, auf die ihre Struktur hinausläuft. Ganz allgemein erfreuen sich, wie wir noch sehen werden, konträre* Prämissen einer besonderen Beliebtheit. Formal zuspitzen kann man diesen Kontrast unter anderem, indem man ihn mit Identität* kombiniert (Musterbeispiel: Liebe zwischen Todfeinden* oder der von Aristoteles so warm empfohlene Mord zwischen nächsten Verwandten*). Beim sogenannten tragischen Dilemma* wird die Situation sogar exakt symmetrisch*: jemand kann von zwei lebenswichtigen Dingen bestenfalls eines erreichen und auch dieses nur dadurch, daß er auf das jeweils andere, genauso unverzichtbare, bewußt verzichtet oder es – noch besser – eigenhändig* zerstört. Am liebsten wird jedoch eine einzige Prämisse »gegen sich selbst zurückgebogen«, d.h. die Erzählung führt zur Aufdeckung einer in dieser Prämisse verborgenen Implikation, die den vermeintlichen Erfolg in sein Gegenteil verkehrt (Erlöschen eines erfüllten Wunsches*, Überspannen des Bogens*, Pyrrhus*, Ödipus*, Shylock* usw.; auch dazu gibt es wieder viele komische Varianten). Das Ergebnis ist ein markanter Erwartungskontrast*, bei dem wir aber der Prämisse dennoch absolut treu* bleiben, und damit die logisch überzeugendste Form der Peripetie.
Die nächste Quelle derartiger Pointen ist die exakte* strukturelle Übereinstimmung zwischen größeren, schon in sich zusammengesetzten Teilen der Geschichte. Die für das Volksmärchen typische Immediatwiederholung* eines Motivs wirkt zwar heute schon ziemlich naiv; wohl aber kehrt gerade der moderne Erzähler am Ende gern zur Anfangssituation zurück*, was ohne Rücksicht auf den Inhalt der Botschaft als homokumulatives Skelett* viel formales Aufsehen erregt. Das gleiche gilt übrigens für ausgeprägte Analogien* in der »Tiefenstruktur« von solchen Ereignissen, die uns auf den ersten Blick gar nicht verwandt vorkommen, ein Umstand, der auch hier einen zusätzlichen Erwartungskontrast* in die Waagschale wirft (denken wir an die vielgliedrige metaphorische Komparation*, das volkstümliche Rätsel*, die Allegorie* oder das Gleichnis*). Daneben gibt es aber auch Vorfälle, die einander gleichsam den Spiegel vorhalten* und durch ihre perfekte Symmetrie* beeindrucken: vertauschte Rollen*, jemanden mit seiner eigenen Waffe schlagen* usw. Und schließlich können über dasselbe* Ereignis gleich mehrere Theorien aufgestellt werden, von denen jede alle* bekannten Daten in einen – jeweils ganz anderen, aber gleichermaßen sinnvollen – Zusammenhang bringt (= Permutation* als besonders komplexe Art der Teilwiederholung). Dieser Kunstgriff ist uns heutzutage vor allem von der Detektivgeschichte* her vertraut, doch ist sie darin nicht ohne Vorgänger, denn der falsche Verdacht war schon immer scheinbar begründet.
Eine viel einfachere, aber nicht weniger effektvolle strukturelle Figur ist im Vergleich zu alledem die Koinzidenz*: ein Zufall besonderer Art, bei dem zwei völlig verschiedene Ereignisketten ein überraschend identisches Ergebnis, also ein typisches verlorenes Homokumulat* in die Welt setzen. An sich ist die Koinzidenz freilich vor allem selten und damit neu; was uns berechtigt, sie trotzdem hier zu erwähnen, ist der Umstand, daß ihre Seltenheit mit der Wiederholung des Gleichen steht und fällt.
Die Schönheit der Theorie als Anhäufung von Gleichem. Der logische Baum, seine Krone und sein Stamm. Unser Hang zur abstrakten Stilisierung dieses Baumes. Welche Redundanz wird hier vor uns ausgebreitet. Erkenntnis und formales Wunschdenken: schön, also wahr. Die Schädlichkeit dieser Einstellung. Der theoretische Text muß offen bleiben. Ist meine eigene Theorie der Versuchung entgangen?
Nachdem wir uns so in die Materie eingearbeitet haben, können wir uns nun jenem Typ des Textes zuwenden, der uns in diesem Zusammenhang am meisten interessiert, und das ist die eigentliche, nichterzählende Theorie. Darunter verstehen wir hier nicht die bloße Formulierung einer extrahierten Gesetzmäßigkeit, sondern eine lehrhafte Beschreibung des Verhältnisses zwischen dem Universalsatz und seinen Fällen. Bei Kleinsttheorien kann es sich dabei nur um Existenzfälle handeln, bei größeren auch um Gesetzmäßigkeiten geringerer Breite. Die prägnanteste und daher am leichtesten zu begreifende Spielart eines theoretischen Textes in unserem Sinne des Wortes ist offenbar ein taxonomisches System, und das allgemeine Strukturmodell für solche Texte liefert uns der logische Baum.
Daß eine bestimmte Theorie schön sei, hört man zwar immer wieder, aber selten mit irgendeiner analytischen Begründung. Versuchen wir also auch diese Art der sprachlichen Komposition nach Anhäufungen von Gleichem abzuklopfen. Das bezeichnendste Grundelement ihrer Struktur ist eine Verästelung und das Homokumulative daran zunächst die Menge* der aus demselben Punkt sprießenden Äste, d.h. Gültigkeitsfälle. Für mehrere derartige Verzweigungen brauchen wir eine Theorie mit mindestens einer hierarchischen Zwischenebene. Haben wir die, dann kann die Anzahl der Ebenen* und der Verzweigungspunkte selbst* extremalisiert werden, so daß der logische Baum eine mächtige, reich gegliederte Krone* treibt. Ähnlich wie bei Geschichten spielt natürlich auch bei solchen »großen« Theorien die Mannigfaltigkeit* des durch sie Erklärten und damit das paradoxe Homokumulat* eine wichtige Rolle. Im einzelnen soll die Gliederung oberhalb der Grundebene der Existenzfälle schon aus inhaltlichen Gründen eine problemlose Einreihung der Fälle gewährleisten; das erfordert deutliche Sprünge* im Kontinuum zwischen den »Schubfächern«, also scharfe Trennungskonturen* (an fließenden Übergängen* innerhalb einer Theorie findet noch heute höchstens eine kleine Minderheit Geschmack). Am meisten formal privilegiert ist, wie üblich, die Aufspaltung in polare Gegensätze*, also ein dualistisches Kontrastdenken*. Diese für den Menschen so typische und gleichsam instinktive Erklärungsform hat demzufolge sicher einiges mit der Homokumulativitätsgier zu tun.
Nun aber zu den Universalsätzen. Im Prinzip ist das Verhältnis zwischen ihren Fällen das einer Teilwiederholung*, und die große Besonderheit der Theorie besteht darin, daß sie das Gleiche, das Konstante* an dieser Teilwiederholung jeweils in einem solchen Satz als reinem »Homokumulativitätsextrakt« expliziert. Auf mittleren Hierarchiestufen begegnet man Sätzen, die gleichzeitig als Varianten von übergeordneten und Konstanten von untergeordneten Sätzen fungieren; deshalb kann man an großen theoretischen Systemen auch einen Stich ins Meta-Homokumulative* beobachten. Entscheidend bleibt jedoch der nach inhaltlichen und formalen Maßstäben äußerst erwünschte monistische Zusammenhang, also die Einheitlichkeit* der Theorie, die letzten Endes einen einzigen logischen Baum bilden soll, dessen Stamm, die oberste Idee*, das ganze Durcheinander der Äste souverän beherrschen wird. Durch dieses Bild wird auch das schon im ersten Teil des Buches angeschnittene Phänomen der Erklärungsintensität* eines Universalsatzes leichter verständlich, weil uns das von ihm ausgehende Geäst vor Augen führt, welcher Reichtum* an Implikation sich in einem solchen Konvergenzpunkt* verstecken kann. (Übrigens erscheint es fragwürdig, ob sich eine formulierte Gesetzmäßigkeit überhaupt ohne diesen konnotativen Hintergrund denken läßt.) Und noch etwas: die Theorie soll möglichst für alle* wie immer gearteten Existenzfälle innerhalb des beanspruchten (wenn auch kleinen) Kompetenzbereichs eine Erklärung bieten, d.h. ohne Übergriffe von anderen, fremden Gesetzmäßigkeiten und daraus resultierende Ausnahmen rein* bzw. lückenlos* gültig sein.
Vollends ins Verspielte geraten wir dann bei verschiedenen Regelmäßigkeiten der Verzweigung, von einzelnen gleichen Zweigen* in gleichen relativen Positionen* bis zu Gliederungsmustern, die den ganzen Baum schematisieren*; Theorien können stark an geometrische Ornamente erinnern. Der beste Beweis für diese Behauptung – wie schon für die meisten vorherigen – ist wohl der vorliegende theoretische Text. Erstens möchte ich auf die Konsequenz* seiner Fünfteilung aufmerksam machen (zwei analytische Hauptblöcke je 5 Kapitel plus zwei Eckkapitel je 5 Abschnitte) und zweitens auf die manchmal bis ins einzelne symmetrische* Anordnung der Kapitel um die Mittelachse (1+ 5 / 5 +1, Grundfiguren der Bewirkung/visuelle vorliegende Information, »Ortsveränderung«/»Bewegung«, »Objektveränderung«/»Artefakte…« usw.). Weder das eine noch das andere hat irgendetwas mit der adaequatio ad rem, also mit der Reproduktion der Wirklichkeit zu tun – es handelt sich um eine unverkennbare abstrakte Stilisierung im Sinne jener rekreativen Mathematik*, die so gern irgendwie geordnete* Reihen von Zahlen zu einer weiteren Abart von Ornamenten arrangiert, oder vielleicht sogar im Sinne der Zahlenmystik*. Und doch erfüllt mich gerade diese Stilisierung mit einem intensiven Glücksgefühl! Wieder erweist sich die Theorie des Homokumulats als Erklärung und Erklärtes zugleich.
Natürlich könnte man das ganze auch als eine harmlose Marotte abtun, aber sie versinnbildlicht alles, was wir über die Unterwanderung unserer Texte durch das Formverhalten gesagt haben, und sie tut das auf einem besonders heiklen Gebiet. Die Homokumulativität, von der auf den letzten Seiten die Rede war, also die Homokumulativität einer Theorie als Komposition, hat nämlich etwas Einzigartiges an sich: sie ist identisch mit jener Redundanz, die einst von den Universalsätzen der Theorie absorbiert wurde und nun durch die systematische Exemplifikation dieser Sätze vor uns ausgebreitet wird, aber nicht mehr im ursprünglichen Zustand der unzusammenhängenden Wiederkehr, sondern als eine künstliche (didaktische) Vereinigung aller Fälle an einem Ort, d.h. als Homokumulativitätsgier erweckende Anhäufung von Gleichem. Oder mit anderen Worten, über Theorien erhält die hier untersuchte Motivation den Zugang zu Phänomenen, denen wir den Begriff des Homokumulats geradezu polemisch entgegengesetzt haben.
Die Redundanz, so haben wir gesagt, ist ein Ding mit zwei verschiedenen Aspekten, zu denen sich das Lebewesen entsprechend verschieden verhalten soll. Eine unzusammenhängende Wiederkehr soll es lediglich »erkennen« – und Erkenntnis besteht einerseits in der Aufstellung oder Anwendung einer Gesetzmäßigkeit, durch die die wiederkehrende Information gleichsam wegrationalisiert wird, andererseits aber wohlgemerkt auch darin, daß man sich von keinem falschen Anschein der Wiederkehr täuschen läßt. Unter den zusammenhängenden Anhäufungen soll sich das Lebewesen hingegen die gewaltigsten aussuchen bzw. selber erzeugen und sie als potentiell besonders wirksame Systemausgaben sorgfältig speichern; das Wesen der Homokumulativitätsgier ist die generalisierte Hoffnung auf die ganz große Reaktionskeule. Was geschieht also, wenn sich diese zwei Einstellungen auf dieselbe Redundanz beziehen? Solange die real existierende Menge der letzteren unser Bedürfnis nach Form zu stillen vermag, bleibt eine solche Vermischung ohne problematische Folgen, und der Verlauf der Welt enthält erfahrungsgemäß so viel Wiederholung, daß zumindest einige Theorien über ihn wahr und schön zugleich ausfallen können, d.h. die gesuchte Keule als ein automatisches Nebenprodukt abwerfen. Doch im Prinzip ist der Widerspruch zwischen den beiden Einstellungen unaufhebbar und birgt eine ständige Gefahr in sich. In seiner Homokumulativitätsgier neigt nämlich der Mensch ganz allgemein dazu, mehr Redundanz anzunehmen, als es sie tatsächlich gibt, was zwangsläufig auch auf seine Erkenntnis abfärbt: er entwickelt eine unbewußte Vorliebe für theoretische Texte, die ihm möglichst viel »Ordnung« im oben beschriebenen Sinne des Wortes vorgaukeln, und ist bereit, solchen Lösungen einen beträchtlichen Teil seines Realismus zu opfern, mit der logischen Konsequenz, daß er immer wieder von seinem formalen Wunschdenken überrumpelt wird.
Die Gefahr, von der wir sprechen, hat viele Gesichter. Sie beginnt schon beim Abwägen der versuchsweise generierten Behauptungen während der Entstehung der Theorie; zwar sagen nur die Ästhetiker »schön, also wahr«, aber in der Praxis richten wir uns wohl alle zuweilen nach diesem Spruch. Aus ähnlichen Gründen kommt es auch bei der Anwendung einer an sich richtigen Theorie leicht zu einer krassen Überschätzung ihres Geltungsbereichs oder ihres Anteils an einem multifaktoriellen Erklärungsgefüge. Am größten werden jedoch die Schwierigkeiten, wenn eine schöne und formal tief befriedigende, aber falsche Erklärung zugunsten einer richtigeren, aber weniger schönen aufgegeben werden soll, was sich vielfach nicht vermeiden läßt. In solchen Fällen schlägt sich unser Formverhalten eindeutig auf die Seite der konservativen Kräfte im Prozeß der Erkenntnis. Die Theorie als Komposition ist also ein Kontext, in dem die Homokumulativitätsgier nicht nur nichts nützt, sondern sogar schadet, weil sie den Abstand zwischen Erkenntnis und Wirklichkeit vergrößert.
Zugegebenermaßen ist das nicht mehr als eine prinzipielle Schlußfolgerung. Eine konkrete Deformation der Erkenntnis mit Sicherheit gerade unserem Motiv zuzuschreiben bleibt beinahe unmöglich, weil es noch viele andere Faktoren gibt, die auch ohne jede Konsummation der Information als Form zu dem gleichen Ergebnis führen. Grundsätzlich wäre es aber zweifellos besser, wenn sich die beiden möglichen Arten des Verhältnisses zur Redundanz nicht bei derselben Redundanz begegneten, oder anders gesagt, wenn sich die Homokumulativitätsgier nicht in die Komposition der Theorie einmischte (und nach diesem Kriterium sind sogar einige schon in dem Kapitel über das Verborgene erörterte Aspekte der Erkenntnis wie z.B. ihre Breite, Tiefe oder Globalität ziemlich bedenklich). Hier können wir also nicht wie bei den oben ergänzten formal-homokumulierenden Erfindungen mit einem problemlosen Einklang aller beobachteten Erscheinungsformen der Anhäufung von Gleichem rechnen; garantiert positiv ist im Prozeß der Erkenntnis nur der Einfluß jener Formphänomene, die den inneren Aufbau des theoretischen Textes völlig offenlassen, weil sie neben der von der Theorie absorbierten Redundanz und von ihr unabhängig eine neue, zusätzliche Art der Homokumulativität (= Redundanz) ins Leben rufen wie die Intensität der Suche oder die Exaktheit der Übereinstimmung mit dem Vorwissen. Interessanterweise wird selbst eine formal überzüchtete Geschichte, sagen wir eine piece bien faite der klassischen Dramaturgie, gern als gekünstelt und wirklichkeitsfern abgelehnt, obwohl sie wenig mit seriöser Erkenntnis zu tun hat. Sehr berechtigt ist hingegen nach demselben Maßstab der schlechte Ruf der Rhetorik. Aber wie sollen wir unsere Texte jedem Zugriff unserer Homokumulativitätsgier entziehen?
Und dabei ist auch jene Theorie, die da so streng mit anderen Theorien ins Gericht geht, keine Ausnahme. Natürlich bin ich überzeugt, daß ich mit ihr auf eine ergiebige Ader der real existierenden Redundanz gestoßen bin und daß sie ihre Schönheit allein diesem Umstand verdankt, doch die vorhin erwähnten Spielereien, von denen ich zwar glaube, daß sie nicht den Kern meines Konstruktes berühren, sondern nur die äußere Anordnung des analytischen Materials, unterstreichen die ständige Anwesenheit der formalen Versuchung. Vielleicht könnte man darauf erwidern, daß sich das Konstrukt keinen besseren Beweis für seine Richtigkeit wünschen kann als gerade diese Fallgrube. Andererseits gibt es aber selber einen Grund an, aus dem sich auch richtige Theorien oft ein viel zu großes Stück vom Erklärungskuchen abschneiden, also müßte es ehrlichkeitshalber jedem Benutzer entgegenrufen: »Achtung, wenn ich stimme, bin ich gefährlich!«
Sprache als formalisierter Klang. Schallnachahmung, Wohlklang und natürlicher Rhythmus. Verschiedene sprachmetrische Systeme. Rekurrenz der Phoneme – der Reim und seine Verwandtschaft. Die Rolle der Homokumulativitätsgier bei der Entstehung der zweiten Artikulation.
Damit sind wir allerdings mit der Sprache noch lange nicht fertig. Ein weiterer sehr bekannter Ausgangspunkt der Form ist z.B. ihr Klang. Ich denke hier nicht an gesungene Texte, die verständlicherweise oft (und keineswegs nur beim Lautsalat-Singen) als ein bloßer Vorwand für Musik herhalten müssen, sondern an ein spielerisches Verhalten zur sogenannten zweiten Artikulation, wie es kulturell vor allem in der literarischen Dichtkunst zum Ausdruck kommt, im Ansatz aber schon bei Kleinkindern beobachtet werden kann. Formalistisch eingestellte Literaturideologen träumen sogar von einer gänzlichen Aufhebung der Zeichenhaftigkeit (= Instrumentalität) des Sprachzeichens und von reiner* Lautmusik, doch kann sich eine solche »absolute« Poesie offenbar nicht auf die Sprache, die wir tatsächlich sprechen, beziehen; deren Bedeutungsinhalte lassen sich nämlich höchstens zeitweilig hintanstellen – die Wiederentdeckung des sprachlichen Zeichenkörpers als solchen zählt übrigens gerade wegen seiner funktionalen Bürde oft zu den überraschendsten und eindrucksvollsten Formalisierungserlebnissen –, so daß normalerweise eher mit einer Mischmotivation zu rechnen ist.
Auf jeden Fall läßt sich auch die sinnliche Schönheit der Sprache anstandslos als Homokumulativität interpretieren. Die Möglichkeiten einer phonematisch gebundenen auditiven Nachahmung* (durch spezielle onomatopoetische* Wortschöpfungen oder Ad-hoc-Syntagmen*) sind dabei wieder ziemlich begrenzt, obwohl sie gerade deswegen einen sehr reizvollen Erwartungskontrast* hervorrufen kann; aber die meisten Lautphänomene sind dennoch »abstrakt« im Sinne von nichtreproduktiv. Ganz der Musik nachempfunden ist das Kriterium des Wohlklangs*, der angenehmen Sonorität gewisser Phoneme (Vokale, m, l)* oder individueller Stimmfarben*, deren Frequenzbild am stärksten an den Ton erinnert*. Hier und auch sonst schießt die Bühnenaussprache* oft weit über das Ziel der optimalen Kommunikation in ihrem Bemühen, jeden Laut, jede Intonation usw. zur äußersten Prachtentfaltung* zu bringen. Doch vor allem enthält die Sprache als Silbenfluß ein beträchtliches rhythmisches* Potential: schon eine angedeutete Periodisierung der Wortbetonungen* oder der Phrasenanfänge* etabliert in einem ganz gewöhnlichen Prosastück eine auffällige »natürliche« Ordnung. Ausschlaggebend sind dabei die Pausen zwischen den Phrasen, und weil sie bei einer gebrochenen Schreibweise schon aus physiologischen Gründen stark hervortreten, ist auch der freieste Vers* unweigerlich rhythmisch markant.
Noch viel homokumulativer sind aber natürlich verschiedene sprachmetrische Systeme* mit ihrer mathematisch exakten* subjektiven Zeitgliederung. Das einfachste Prinzip ist dabei das syllabische* (Wiederholung der Gesamtzahl* aller Silben in einem Vers oder Versteil). Eine andere Möglichkeit bietet das Zählen von irgendwie ausgezeichneten Silben*, insbesondere von stark betonten* (= auditiv und kinästhetisch intensiven*), in seiner Reinform kennzeichnend z.B. für die altdeutsche Versifikation*. Die pingeligste Maßeinheit ist aber wohl die mora* (= Dauer einer kurzen Silbe) des klassischen quantitativen Systems*. Eine »lange« Silbe wird auf zwei solche Einheiten veranschlagt, was schon einen deutlichen Kontrast* zwischen kurz und lang ergibt. Doch eine mindestens ebenso künstliche Stilisierung ist die Reduktion des komplexen sprachlichen Betonungsgefüges auf zwei nivellierte* und noch stärker konträre* Stufen (betont/ unbetont) in den neueren Systemen. In beiden Fällen formieren sich übrigens die Silben im Endeffekt zu ineinanderverzahnten Rekurrenzreihen*. Und schließlich erfassen die Ordnungsprinzipien meistens auch das Detailverhältnis zwischen Hebungen und Senkungen. Im syllabischen System geschieht das durch Fixierung der Betonung auf einer bestimmten Silbe*, im syllabotonischen und im quantitativen durch vorgeschriebene Versfüße – entweder gleiche* oder auch ungleiche, wobei erst der ganze Vers* oder sogar die Strophe* als Einheit der Gruppenwiederholung* fungiert. Allerdings ist das metrische Schema, zumal im syllabotonischen System, eher eine ideale Vorstellung, über die sich der tatsächliche Rhythmus der sprachlichen Aussage gern hinwegsetzt, ähnlich wie in anderen Künsten.
Das zweite große Bündel von formal relevanten Lauterscheinungen bezieht sich auf die Rekurrenz der Phoneme selbst* einzeln oder in Gruppen. So gibt es, analog zur rekreativen Mathematik, eine Art rekreative Phonematik*, die sich z.B. für Wörter, in denen ein Laut besonders oft* vorkommt, für Palindrome* (= Symmetrie*) oder für reduplikative Wortbildungen* (= Gruppenwiederholung*) interessiert. Auch der sogenannte Lautsymbolismus* läuft vor allem auf eine überdurchschnittlich dichte* Rekurrenz hinaus, weil seine bezeichnende Komponente meist eher vage bleibt. Und von da ist es nicht mehr sehr weit bis zum Stabreim* – hinzu kommt nur die Auszeichnung durch die anschließende Betonung. Die Assonanz* hingegen wirkt wie eine verarmte Verwandte der wohl berühmtesten aller phonematischen Spielereien, nämlich eines möglichst »reinen«, d.h. exakten*, und »reichen«, d.h. eine lange* Lautgruppe wiederholenden Vollreims*, der gewöhnlich noch durch die ihm folgende Pause am Versende unterstrichen wird und deren periodisierende Wirkung verstärkt. Erwünscht ist dabei eine möglichst radikale Verschiedenheit der Bedeutung und jener sich daraus ergebende Erwartungskontrast* angesichts des Gleichklangs, der außerhalb der Poesie vom Wortspiel* als rhetorischer Figur thematisiert wird. Und zu weiteren Homokumulationsphänomenen führt eine auf einfache Paare verzichtende Art der Reimanordnung: intermittierende Rekurrenz* (xaya), Alternation* (abab), Symmetrie* (abba) usw., bis hin zu den kompliziertesten Verflechtungen*.
Selbstverständlich machen Metrum und Reim aus der Poesie eine ziemlich schwierige* Kunst, und diese Linie wird gern dadurch extremalisiert, daß das Gedicht auch abgesehen von seiner verpflichtenden Stanzform dicht* übersät wird mit allen möglichen Körnchen und Äderchen der Anhäufung von Gleichem*. Leider gerät die Sprache dabei sehr leicht auf das Prokrustesbett; sicher ist Verseschmieden nichts für Freunde des Natürlichen. Aber gerade solche Verunstaltungen bekunden sehr anschaulich die Macht der Form.
Der allgemeine Eindruck ist wie schon so oft, daß unser CIF-Interesse am Sprachklang nicht so sehr dem Normalfall dieser Reaktionsmöglichkeit, sondern vor allem verschiedenen verspielten Besonderheiten gilt. Doch fühlt man sich bei der Betrachtung der Poesie trotzdem veranlaßt, noch einmal die Funktionalitätsfrage aufzurollen: ist es nicht denkbar, daß die Homokumulativitätsgier auch bei der Entstehung der zweiten Artikulation mit im Spiel war?
Freilich können wir nicht ausschließen, daß sich die Phoneme einfach ganz spontan herauskristallisierten. Die meisten Lautzeichen waren objektiv schon immer aus mehreren verschiedenen Segmenten zusammengesetzt und die Segmente silbenartig angeordnet. Je mehr Lautzeichen es also gab, desto öfter mußten sich bei völlig unverwandter Bedeutung sehr ähnliche Segmente in derselben »Silbenlage« wiederholen, und das dürfte vom menschlichen Gehirn früher oder später irgendwo tief unter der Ebene des Bewußtseins als Gleichheit interpretiert und die Differenzierungsfunktion auf den Rest des Zeichens beschränkt worden sein. Was hätte demnach das Formverhalten zu dieser Entwicklung zumindest beitragen können? Nun, vorstellbar ist z.B., daß die jeweils »fortschrittlichsten« Lautfolgen (zunächst solche mit einem, später dann jene mit zwei oder auch mehreren eingeschlossenen Phonemen) im Rahmen des damaligen recht bescheidenen lautlichen Informationsangebots ähnlich extrem homokumulativ und damit aufregend wirkten wie heute etwa der Reim – es wäre dies ja nur ein Sonderfall unserer allgemeinen Feststellung vom autonomen Reiz des Zeichenkörpers. Natürlich konnte der Mensch die Phoneme nicht unmittelbar identifizieren; er spürte nur undeutlich, daß die ganze Lautmasse in irgendeiner Hinsicht bzw. gleich in mehreren Hinsichten an andere bezeichnende Lautmassen erinnerte*, d.h. er erlebte das Phänomen als eine mehr oder weniger verschwommene und rätselhafte Teilwiederholung* innerhalb seines Zeichenrepertoires. Aber schon das dürfte für ihn eine formale Sensation gewesen sein, die wir heute wegen unserer Verwöhntheit durch allerlei lautliche Raffinessen gar nicht mehr verstehen können, und aus ihr hätte sich wenigstens eine klare Beschleunigung des so überaus wichtigen Phonematisierungsprozesses ergeben.
Wie hoch man allerdings den Anteil der Homokumulativitätsgier an diesem Prozeß veranschlagen soll, bleibt völlig ungewiß; und überhaupt ist der ganze Gedankengang rein spekulativ.