Page 79 - [Peter_Menzel,_Faith_D’Aluisio]_Mahlzeit_Auf_80(BookFi.org)

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Von links nach rechts: Pilger schenken in einem
buddhistischen Kloster in Lhasa, Tibet, Buttertee
ein. Eine Himba-Frau rührt Maisbrei in Opuwo,
Namibia. Sumoringer hacken Gemüse in Nagoya,
Japan. Dorfbewohner bereiten ein Mittagessen
in der Provinz Szechuan, China. Ein Rikscha-Fahrer
bei der Teepause in Dhaka, Bangladesch. Eine
Hausfrau beim Kochen in ihrem Küchenhaus in
Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten
Nahrungsmittel verzehren, die einen wesentlich höheren Nährwert
haben als die wilden Urformen der Pflanzen.
Unser Körper ist schlicht und einfach für die Ernährung mit Rohkost
nicht geeignet, und wir müssen fragen: Warum sind allein wir Men-
schen physiologisch darauf angewiesen, Gekochtes in unseren Speise-
plan aufzunehmen? Der unmittelbare Grund ist klar: Im Vergleich zu
unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen, ist unser Darmtrakt
zu kurz – zu kurz, um die zähen Pflanzenfasern zu verdauen, von denen
sich Schimpansen und Gorillas vornehmlich ernähren. Versuche haben
gezeigt, dass auch Affen gegarte Kost vorziehen, sodass der Schluss
nahe liegt, unsere äffischen Vorfahren hätten warm gegessen, sobald
sie den Umgang mit Feuer erlernt hatten.
Doch das Datum dieser Errungenschaft lässt sich kaum bestim-
men. Die Archäologie vermag keine Zeitenwende zu benennen, an
der sich der Gebrauch des Feuers durchgesetzt hat. Fest steht je-
doch, dass die Zahl der Fundstätten mit Spuren von Lagerfeuern mit
zunehmendem Alter der Fundstätten abnimmt. Ab einem Alter von
einer halben Million Jahren nimmt der Anteil der Fundstellen mit
Ascheresten deutlich ab, andererseits fand man schon Spuren von
Lagerfeuern, deren Alter mit über einer Million Jahren bestimmt
wurde. Knochenfunde sind da aufschlussreicher: Schon vor zwei
Millionen Jahren, als
Homo erectus
, die erste dem heutigen
Homo
sapiens
ähnliche Spezies, die Bühne betrat, wurden Mund, Zähne
und Verdauungstrakt der Hominiden kleiner.
Wir dürfen also annehmen, dass
Homo erectus
die erste Art war,
die ihre Nahrung am Feuer garte. Es war ohne Zweifel eine rudimentäre
Kochkunst. Doch schon das simple Rösten am Feuer verwandelte
faserige Wurzeln, bittere Samenkörner und zähes Fleisch in Speisen
von bis dato unbekannter Köstlichkeit. Und weil diese Mahlzeiten
mehr Nährwerte und Energie lieferten, errangen die Köche einen Vor-
sprung auf der Bahn der Evolution, weil sie weiter und ausdauernder
als je zuvor sammeln und jagen konnten. Gegarte Nahrung stärkte
zudem ihr Immunsystem, verbesserte die Überlebenschancen des
Nachwuchses und bescherte den Erwachsenen eine längere Lebens-
erwartung. Vor allem aber verbesserte sie die Fruchtbarkeit und stei-
gerte die Geburtenrate. Und sie förderte das Wachstum des Gehirns.
Was immer auch unsere Vorfahren gekocht haben: Die Wirkung der
Innovation war gewaltig und reichte weit über den Verdauungstrakt
hinaus. Der Verzehr gegarter Nahrung verringerte die fürs Kauen nötige
Zeit um mehrere Stunden täglich. Stunden, die anderweitig weit besser
genutzt werden konnten. Unter Sammlern und Jägern wie den Inuit
hatte dies zur Folge, dass die Frauen die gewonnene Zeit hauptsächlich
für die Zubereitung von Mahlzeiten für die Familie nutzten. Die Männer
machten den größeren Gewinn. Mit dem Wissen, dass es zu Hause
eine warme Mahlzeit gab, konnten sie mehr Zeit mit Tätigkeiten wie der
Jagd verbringen. Und wenn sie Hunger bekamen, gingen sie einfach
nach Hause. Und noch mehr änderte sich. Weil gegarte Nahrung zarter
ist als rohe, konnten die Kinder früher abgestillt werden. So entstand
eine Schar von Kindern, die auf gegarte Speisen angewiesen war, die in
der Regel von den Müttern zubereitet wurden. Summa summarum darf
man die Erfindung des Kochens als den bedeutendsten Fortschritt in
der menschlichen Ernährung bezeichnen, als den entscheidenden
Schritt vom Vormenschen zum Menschen.
Als Ende des 19. Jahrhunderts heftig über die Zahl der mensch-
lichen Spezies gestritten wurde, behauptete Tylor, dass alle heute
lebenden Menschen derselben Spezies angehörten. Hätte er die
Bedeutung seiner anderen wichtigen Beobachtung erkannt, nämlich,
dass wir alle auf gegarte Nahrung angewiesen sind, hätte er viel-
leicht den Schluss gezogen, dass diese Einheit dem uralten Brauch
des Kochens viel verdankt – sie ist eine kulturelle Errungenschaft,
die unsere Physiologie geformt hat und noch heute unseren Körper
und unser gesellschaftliches Leben bestimmt.