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M A H L Z E I T
Tagsüber schafften sie es nicht, schnell eine warme Mahlzeit zu zau-
bern, aßen bei der Jagd oft Fisch oder Rentierfleisch im rohen Zustand.
Doch abends war es Hausfrauenpflicht, der Familie eine warme Mahl-
zeit zu bereiten. Die Bräuche in der Arktis waren die gleichen wie überall
auf der Welt. Die Menschen machten sich die Mühe, warm zu kochen.
Warum wir kochen, ist eine faszinierende Frage. Claude Lévi-Strauss
vertrat die These, die Gründe dafür seien rein mental. Der einzige Vorteil
des Verzehrs gekochter Speisen bestehe darin, dass wir uns dadurch
als Menschen fühlen und uns von allen anderen Arten absetzen. Andere
argumentieren handfester, weisen darauf hin, dass Kochen schädliche
Keime abtötet, Giftstoffe zerstört, die Nahrung zart macht und leckere
Aromen produziert. Das alles ist richtig und wichtig, doch entscheidend
ist eine bislang wenig beachtete Tatsache: Kochen gibt uns Energie.
Zum Beispiel dadurch, dass es energiereiche Nahrungsmittel leich-
ter verdaulich macht. So ist das lebenswichtige Kohlehydrat Stärke im
Rohzustand kaum verdaulich. Wenn wir aber eine Mehlschwitze berei-
ten, werden lange Ketten von Glukosemolekülen freigesetzt, geben der
Sauce Fülle und Konsistenz, das Mehl wird bekömmlich. Ebenso löst
Hitze die dichte Struktur von Proteinen, schließt die Ketten der Amino-
säuren für die Enzyme unseres Verdauungstraktes auf.
Das Garen erleichtert unserem Körper die Verarbeitung der Nahrung.
Gekochte Speisen sind leichter zu kauen, etwa weil Hitze das Kollagen
des Bindegewebes im Fleisch in lösliche Gelatine verwandelt. Der Ma-
gen muss also weniger Muskelarbeit und weniger Verdauungssäfte ein-
setzen, um die Nährstoffe der aufgenommenen Speisen in eine für den
Körper verwertbare Form zu verwandeln. Da wundert es nicht, dass in
Mrs Beetons berühmtem, 1861 erschienenem englischen Standard-
werk der Haushaltsführung (»Mrs Beeton’s Book of Household Manage-
ment«) »Es erleichtert das Kauen« als erster von sechs Gründen fürs
Kochen genannt wird. Je weicher das Essen, umso mehr Kalorien kön-
nen wir daraus gewinnen.
Die meisten Haustiere bevorzugen gekochte Nahrung, wenn man
ihnen die Wahl gibt. Und so neigen Katzen und Hunde zu Überge-
wicht, wenn wir ihnen gekochte, verarbeitete Nahrung vorsetzen.
Masttiere werden mit gekochtem Brei gefüttert, um den Nutzungs-
grad der Futtermittel zu erhöhen. Und umgekehrt ist die Ernährung
mit Rohkost eine der besten Methoden abzunehmen. Die meisten
Rohköstler sind hager, obschon sie gezüchtete Früchte und andere
Schon Sir Edward Bennet Tylor, einer der ersten Kulturanthropologen, fragte, ob es Kulturen gab, in denen nur Rohes verzehrt wurde. Seine
Antwort war eindeutig: »Die Kochkunst«, schrieb er 1870, »ist in der Menschheit so universell wie das Feuer selbst.« Keine Kultur existiere
ohne das Garen von Lebensmitteln, auch nicht die der Inuit, denen das oft nachgesagt wurde. Zwar sei das Kochen für die Bewohner der
Arktis wegen des Mangels an pflanzlichem Brennstoff schwierig, auch weil die Verbrennung von tierischem Fett nur eine relativ schwache
Hitze erzeuge. Doch schon 1605 hatte der britische Forscher James Hall beobachtet, wie die Grönländer »ihr Essen über Tranlampen
kochten, in Gefäßen mit Steinboden und Wänden aus Walflossen«.
Warum wir kochen
Essay
Von Richard Wrangham
Richard Wrangham ist Professor für biologische Anthropologie an der
Harvard University und Autor des Buches: »Feuer fangen: Wie uns das Kochen
zum Menschen machte«.