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M A H L Z E I T
Und auch nicht halb so viel Zeit wie die Länge einer Folge der Koch-
sendungen »Top Chef« oder »Chopped«. Heute bilden nicht mehr Leute,
die gerne kochen, die Mehrheit des Zielpublikums der Kochsendungen,
sondern die wesentlich größere Gruppe derer, die gern essen. Und,
wichtig für die Programmmacher, eine Gruppe mit deutlich höherem
Männeranteil. Also laufen zur Primetime des Food Network Sendungen
wie »Iron Chef«, in der sich Köche im ritterlichen Kampf gegenüber-
stehen. Es gewinnt der, der aus einer erst zum Start enthüllten Zutat
das spektakulärste Gericht zaubert. Wir können einiges aus solchem
Wettstreit lernen. Aber nicht, wie man kocht.
Die Tatsache, dass das Fernsehen Kochen zur Zuschauersportart
gemacht hat, wirft die Frage auf, wieso überhaupt jemand Lust hat, an-
deren beim Kochen zuzuschauen. Dies ist kein neues Phänomen. Die
magische Wandlung, in der aus einem Gericht mehr wird als die Summe
seiner Zutaten, fasziniert seit eh und je die Topfgucker. Kochsendungen
profitieren auch davon, dass Nahrung seit Urzeiten den Menschen an-
zieht. Ich vermute, dass auch die Abläufe und Rituale der Küchenarbeit
die Zuschauer anziehen, weil diese so viel handfester und reeller sind
als die abstrakten und virtuellen Aufgaben, mit denen die meisten von
uns bei der Arbeit zu tun haben.
Wenn Kochen so befriedigend ist, warum tun wir es nicht öfter? Nun,
die meisten von uns verdienen kein Geld damit, und wir glauben,
vor lauter Job keine Zeit mehr dafür zu haben. Seit Jahren schon arbei-
ten die Amerikaner immer länger, und genießen dafür weniger Muße-
stunden im trauten Heim. Da überrascht es nicht, dass dort, wo die
Menschen das Kochen noch mit Ernst betreiben, sie auch mehr Zeit
dafür haben.
Allgemein wird angenommen, dass der Drang der Frauen in die Arbeits-
welt für den Niedergang der häuslichen Kochkunst verantwortlich ist,
doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die Zeit, die die Amerikanerin mit
der Zubereitung von Mahlzeiten verbringt, ist unter nicht erwerbstätigen
Frauen ebenso drastisch zurückgegangen wie unter denen, die an der
Jobfront stehen, nämlich um 40 Prozent seit 1965. Viele Amerikaner
überlassen heute der Lebensmittelindustrie die Zubereitung ihrer Nah-
rung – und beugen sich damit dem Druck der Konzerne, der schon ein-
setzte, lange bevor die Mehrzahl unserer Frauen arbeiten ging.
Den TV-Kanal Food Network können fast 100 Millionen US-Haushalte empfangen, fast jeden Abend erreicht er bessere
Quoten als jeder Nachrichtensender. Und noch Monate nach dem Finale von »Top Chef« erinnern sich Millionen Amerikaner
an den Sieger der letzten Staffel. Ich aber verstehe einfach nicht, wieso wir so leidenschaftlich anderen beim Kochen
zuschauen, anstatt selbst etwas zuzubereiten. Paradoxerweise geht der wachsende Kult um Köche einher mit dem
Niedergang der häuslichen Kochkunst in den Familien. Der Durchschnittsamerikaner verbringt 27 Minuten pro Tag mit der
Zubereitung von Mahlzeiten – nicht einmal mehr halb so viel Zeit wie in den 1960er Jahren.
Der Untergang der Kochkultur
Essay
Von Michael Pollan
Michael Pollan ist freier Autor und Knight-Professor für Journalismus an
der University of California in Berkeley. Sein neuestes Buch heißt: »Lebens-Mittel:
Eine Verteidigung gegen die industrielle Nahrung und den Diätenwahn«.