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M A H L Z E I T
Im vergangenen Frühjahr aß ich zum zweiten Mal Pferd. Unterwegs in
Apulien, geriet ich in eine urige Trattoria, wo Pferdefleisch die Spezia-
lität des Hauses ist – als Salami, Bratwurst oder Steak. Meine einhei-
mischen Tischgenossen langten begeistert zu, doch ich schaffte nur
eine zaghafte Kostprobe. Da waren sie wieder, der Stahlgeschmack
und das schlechte Gewissen, die mich würgen ließen.
Nichts ist intimer als das, was wir in den Mund nehmen. Und doch
wissen viele von uns nicht, was wir eigentlich essen. Wer von uns
kennt die genaue Herkunft seiner letzten Mahlzeit oder auch nur
eines Bestandteils davon? Doch auch wenn wir oft ahnungslos sind,
gibt es kaum Menschen, die bereit sind, alles zu essen. Die meisten
von uns haben starke Abneigungen gegen bestimmte Speisen.
Hund, zum Beispiel. Einmal nahm ich an einem Leichenschmaus
auf der Südseeinsel Kosrae teil, einem Fest, bei dem sich Freunde
und Verwandte des Verstorbenen versammelten, um Erinnerungen
auszutauschen und sich an allerlei Köstlichkeiten zu laben. Es gab
auch Hund. Und ich begriff, warum. Kosrae ist arm an Ressourcen,
und so wären Kuscheltiere ein Luxus. Jede Spezies auf der Insel hat
eine Aufgabe. Und da es für Hunde keine Schafe zu hüten oder an-
deres Nützliches zu tun gibt, wären sie bloß lästig, wenn man sie
nicht essen würde.
Da Hunde nahrhaft und schmackhaft sind, stellt sich nicht die
Frage, wieso einige Menschen sie essen, sondern vielmehr, warum so
viele es nicht tun. In seinem Buch »Wohlgeschmack und Widerwillen:
Die Rätsel der Nahrungstabus« schreibt der Anthropologe Marvin
Harris: »Die Menschen im Westen verschmähen Hunde als Nahrung
nicht deshalb, weil sie ihre liebsten Haustiere sind, sondern weil
Hunde als Fleischfresser keine effizienten Fleischlieferanten sind.«
Dort, wo man Hunde isst, ist die Auswahl an Fleischsorten nicht so
groß, sodass, wie Harris bemerkt, »die Dienste, die Hunde lebend
leisten können, weniger wertvoll sind als die Produkte, die sie in
totem Zustand liefern«.
Anders als Hunde scheinen Schweine geradezu dafür geschaffen
zu sein, gegessen zu werden. Als unvergleichlich gute Nahrungsver-
werter verwandeln sie 35 Prozent ihres Futters in Fleisch, gegenüber
nur 6,5 Prozent bei Rindern. Eine Sau kann in vier Monaten acht oder
mehr Ferkel werfen, von denen jedes nach nur sechs Monaten
200 Kilo auf die Waage bringt. Schweine sind derar t effizient im
Es ist Jahrzehnte her, dass ich das erste Mal Pferd aß. Nach dem Studium packte ich meine Sachen in einen alten Minibus und
fuhr westwärts nach Seattle, um ein neues Leben zu beginnen. Ich war arm, und nach den Ausgaben für Miete und Sprit blieb
fürs Essen kaum etwas übrig. Pferdefleisch war das billigste tierische Eiweiß, das es gab, und so versuchte ich zu verdrängen,
was ich aß. Für eine Reiterin und Pferdeliebhaberin keine Kleinigkeit. So gut es ging, tarnte ich meine Rossburger mit viel
Ketchup und Gurkenscheiben und packte sie in dicke Brötchen. Doch der stahlige Geschmack von Pferd ließ sich nicht
verdecken und erinnerte mich daran, dass auch widrigste Umstände nicht den Verzehr von Pferdefleisch entschuldigen.
Verbotene Speisen
Von Ellen Rupel Shell
Ellen Rupel Shell, Mitarbeiterin des »Atlantic Magazine«, ist Professorin des Graduierten-
programms für Wissenschaftsjournalismus an der Boston University und schrieb die
Bücher »The High Cost of Discount Culture« und »The Hungry Gene«.
Essay