Level 3 (Einleitung)

Homokumulativitäts-Gier

 

Die Hypothese

Das nächste, was im Grundtext nicht deutlich genug zum Ausdruck kommt, ist der Umstand, daß in dem durch den Begriff des Homokumulats abgesteckten Raum recht verschiedene Motivationsahnungen umherirren, als suchten sie vergeblich ihren richtigen Platz.

Da gibt es also zunächst einmal die formalistische Ästhetik und die Möglichkeit, das durch die Form ausgelöste Gefallen als einen uns bewegenden (motivierenden) Vorgang zu interpretieren. Hier sei nur noch vermerkt, daß man auch unter dem Etikett »Strukturalismus« ausgesprochen formalistischen Analysen unserer – nicht nur ästhetischen – Präferenzen begegnet, denen der modische Ausdruck eher als Alibi dient. In denselben Rahmen paßt die speziell zitierte Äquivalenz zwischen Schönheit, Ordnung und Redundanz: »Redundanz gefällt« kann offenbar soviel bedeuten wie »Redundanz ist ein Motiv«. Und wieder läßt sich ein interessanter Parallelfall dazu anführen, denn nach dem Auftauchen der Informationstheorie stellte sich ziemlich schnell heraus, daß sich auch der zentrale Begriff der sogenannten Gestaltpsychologie, nämlich jene »gute Figur«, die uns so sehr auffällt, konkret vor allem durch seine hohe Redundanz auszeichnet. Vielleicht merken wir uns derartige Gebilde einfach deswegen besonders gut, weil sie uns in einem mehr oder weniger ästhetischen Sinne motivieren?

Diese Gruppe von Beispielen setzt ein ziemlich spezialisiertes Wissen voraus. Daneben existiert aber seit jeher noch eine andere, viel weiter verbreitete Tradition, die meist in die Sparte der primären anthropologischen Empirie und der praktischen Ethik fällt, obwohl sie gelegentlich auch streng philosophisch verarbeitet wird. Zu ihr gehören Behauptungen über den Menschen, die z.B. seine Maßlosigkeit und Unersättlichkeit, seine ewige Unzufriedenheit und perfektionistische Wut oder seinen unverbesserlichen Hang zu Extremen beklagen. Der Grund für die Aufstellung solcher Thesen ist freilich nicht mehr die Lust an theoretischen Spielereien, sondern eine akute moralische Irritation; deshalb sind sie emotional ganz anders gefärbt.

Doch so sehr sich die genannten Denkansätze auch unterscheiden mögen, aus unserer Perspektive klopfen sie alle an dieselbe Tür – nur öffnen können sie sie nicht, weil sie nicht den Schlüssel besitzen, den wir im vorigen Kapitel eigens dafür angefertigt haben. Ich hingegen bin in der Lage, jenen Satz zu formulieren, der sie nicht nur zu einer einzigen Idee zusammenfassen, sondern noch bedeutend ausweiten wird.

Der Satz ist die Hypothese, die ich im vorliegenden Werk verfechte, und er lautet: was den Menschen in allen oben erwähnten, aber auch vielen anderen Fällen motiviert, ist die Anhäufung von Gleichem als solche (die wir natürlich als Homokumulativität auffassen müssen und nicht als Redundanz) in irgendeiner von ihren Erscheinungsformen, d.h. bei allen denkbaren steigerungsfähigen Eigenschaften – ihre Wirkung ist im Prinzip immer gleich. Das bedeutet mit anderen Worten, daß uns nicht diese oder jene konkrete Eigenschaft anzieht, wie es z.B. noch die formalistische Ästhetik glaubt, sondern es zählt nur das, worin sie sich ähneln; gerade  deshalb ist die Anhäufung für mich das einzig Wesentliche und alles übrige Akzidenz.

Was für ein Motiv habe ich damit eigentlich postuliert? Einige von seinen Merkmalen muten durchaus bekannt an und ordnen es bestimmten wohldefinierten Untergruppen zu. Erstens ist die ungehinderte Wahrnehmung eines Homokumulats für den Menschen ein Zweck in sich selbst oder anders gesagt eine intrinsische und typisch konsummatorische Belohnung. Sie bildet also zumindest subjektiv stets den Abschluß einer Aktionskette (»Endhandlung«), d.h. ihr kann manches vorangehen – denn das Motiv zieht ein ganz normales Appetenzverhalten nach sich –, aber höchstens eines folgen, nämlich der Beginn einer neuen Kette.

Zweitens ist es angesichts der Tatsache, daß ich den Begriff des Homokumulats überhaupt als erster klar definiert habe, offenkundig, daß diese Belohnung nichts zu tun haben kann mit bewußter Zielsetzung, sondern als Bestandteil eines mehr oder weniger elementaren Automatismus angesehen werden muß. Innerhalb meiner Hypothese wird also das Phänomen der Motivation nicht auf jene klassische Art beleuchtet, die es vor allem als eine Frage der Vernunft und des Willens interpretiert; eher ist eine gewisse Ähnlichkeit mit moderneren Konzepten (bis hin zur Psychoanalyse) zu erkennen.

Aber die große Abweichung von allen solchen Konzepten und die wichtigste Besonderheit des von mir angenommenen Beweggrundes besteht darin, daß ich seinen »Schlüsselreiz« ausgesprochen mathematisch modelliere. Gerade das macht meine Hypothese so ungewöhnlich und verschieden von allem, was es bisher in der Motivationspsychologie gegeben hat. Die Größe, die ich in die Diskussion einführe, ist also zu meinem Glück oder Unglück nicht nur ein neues Motiv, sondern gleich ein ganz neuer Typ des Motivs.

Gelungen ist mir dieser Durchbruch, indem ich die Idee des (ästhetischen) Formalismus konsequent zu Ende gedacht habe. Theoretisch impliziert sie zwar offenbar von allem Anfang an die Schlußfolgerung »die Form ist ein Motiv«, aber in der Praxis arbeitet sie stets mit anderen, engeren Charakteristiken, die die Dinge dann doch wieder inhaltlich präjudizieren und damit verwischen. Ich dagegen nehme den Formalismus gleichsam beim Wort und erkläre: was in Wirklichkeit motiviert, ist der streng formale Kern solcher Charakteristiken, den man nur mathematisch-logisch ausdrücken kann, also die Form in Reinkultur; gerade das ist der bedeutendste Fall jener Emanzipation der Form, die ich schon grundsätzlich angekündigt habe. Und als Folge stellt sich echte inhaltliche Indiskriminativität ein – etwas, was der formalistischen Ästhetik nach wie vor fehlt (deshalb muß ich mich bei meinen Analysen ständig mit ihren Vorurteilen herumschlagen).

Nachdem ich aber schon dabei war, unternahm ich noch einen anderen ähnlichen Vorstoß: ich riß auch der Neuheit ihre psychologisierende Maske ab und legte ihr Wesen frei, das sich als ebenso streng mathematisch-logisch erwies wie das der Homokumulativität – also ist die Neu-Gier gleichfalls ein formales Motiv (ein weiterer Umstand, der bisher keine Beachtung gefunden hat) und es gibt deren mindestens zwei, was es mir gestattet, eine ganze Klasse von solchen Motiven zu postulieren und der Klasse der »inhaltlichen« Beweggründe gegenüberzustellen. Die Analogie mit der Neugier ist für mich außerordentlich wichtig, erstens weil sie meine Hypothese etwas weniger isoliert dastehen läßt und sie damit wahrscheinlicher macht (das angenommene Motiv hätte immerhin einen älteren Verwandten), und zweitens als eine der seltenen Gelegenheiten, bei der näheren Beschreibung des Motivs an Bekanntes anzuknüpfen in der beruhigenden Gewißheit, daß es sich durch Parallelen und Gegensätze zur Neugier recht gut präzisieren läßt. Deshalb greife ich immer wieder zu diesem Darstellungsmittel, und das beginnt schon bei der Namensgebung, wo ich mich, von dem glücklichen Umstand ausgehend, daß das deutsche Wort »Neugier« viel mehr aussagt als z.B. der entsprechende englische Ausdruck »curiosity«, für die Bezeichnung Homokumulativitäts-Gier entschieden habe.

Allerdings darf man die vorgeschlagene Straffung des formalistischen Grundgedankens nicht falsch verstehen. Wenn alles seine Form hat, dann kann offensichtlich nicht jede beliebige Form motivieren; auch nach meiner Hypothese beschränkt sich der Effekt auf bestimmte Besonderheiten des Formphänomens und ich behaupte lediglich, daß ich imstande bin, diese Besonderheiten auf eine rein formale Art zu definieren. Im Falle der Homokumulativitätsgier sieht das so aus, daß ich eine uns anziehende Kraft der Gleichheit als solchen annehme, die sich jedoch nicht ebenmäßig auf alle denkbaren Mengen von Gleichem zwischen zwei und unendlich verteilt, sondern grundsätzlich dem jeweils größten Haufen vorbehalten bleibt, dessen man sich real oder symbolisch bemächtigen kann, obwohl von einem derartigen Punkt auch gewisse Streueffekte auszugehen pflegen. Gerade das schließt quantitative Neutralität aus und macht nicht nur den Ausdruck »Anhäufung« notwendig, sondern auch die auf den ersten Blick reichlich emphatische Bezeichnung »Gier«: zum Wesen dieser letzteren gehört nämlich etwas, was man betont trocken als Extremalregelung (»möglichst viel«) umschreiben könnte.

Der Vergleich mit der Neugier zeigt hier einerseits, daß auch sie auf einer Extremalregelung beruht, denn sie führt zum Streben nach möglichst exklusiver Verschiedenheit, oder man könnte auch sagen, nach möglichst kleinen Anhäufungen von Gleichem. Es motivieren also beide Extreme der Quantität, nur das, was dazwischen liegt, ist formal uninteressant. Auf der anderen Seite wird aber auch ein deutlicher Unterschied sichtbar, denn bei der Neuheit ist das angepeilte Extrem fix und klar (N = 1, d.h. eine Wahrnehmung ohne ihresgleichen), was die Orientierung natürlich ungemein erleichtert, während die Identifikation seines Gegenstücks mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein kann. Erstens setzt sie eine unablässige vergleichende Quantifikation von Anhäufungen voraus, die sich bei natürlicher Quantität freilich meist auf eine mehr oder weniger grobe Schätzung beschränken muß – ein Umstand, der manchmal zu falschen Rangierungen führt –, und zweitens ist eine Anhäufung von Gleichem, auch eine im Prinzip deutlich begrenzte, in der Mehrzahl der Fälle zumindest noch ein paar Schritte weit nach oben offen, was alle bisher ermittelten Extreme relativiert und durch neue, noch imposantere ersetzbar macht. Diesen Fragenkomplex hat übrigens schon der Grundtext ganz gut im Griff.

 

Zur Beweislage

Soweit also meine Hypothese, und nun stehe ich vor der entscheidenden Frage, wie ich eine solche Behauptung, der man alles vorwerfen kann, nur keinen Mangel an Erstaunlichkeit, glaubhaft zu machen gedenke.

Dafür bieten sich zwar verschiedene Wege an, aber die ideale Lösung wäre nach den heutigen Maßstäben zweifellos die Nennung eines neurophysiologischen Zustands, der das äußere Verhaltensbild der Gier nach Homokumulativität begleitet, und zwar immer, aber nur dieses. Ein derartiger Hinweis würde nämlich eine von der naiven Empirie absolut unabhängige Überprüfung der Hypothese ermöglichen, und das positive Ergebnis der Überprüfung wäre ein praktisch unwiderlegbarer Beweis, daß ich recht habe.

Natürlich kann ich das geforderte gehirninterne Korrelat nicht angeben. Aber vielleicht kann ich das Problem doch etwas genauer eingrenzen als im Grundtext und zugleich erklären, weshalb es brennender erscheint als bei anderen Motivationskonstrukten bzw. warum ich mit der Neurophysiologie wahrscheinlich für manchen Geschmack besonders respektlos umspringe.

Zu diesem Zweck muß ich die Aufgabe zunächst in zwei Teile zerlegen. Zum einen sollte ich auf eine neurale Entsprechung für das rein energetische, aktivierende Moment der angenommenen Gier hinzeigen können. Ich bin auch dazu nicht in der Lage, aber hier fällt meine Unwissenheit nicht so sehr auf, weil wir sie in ähnlicher Form von vielen Konstrukten her kennen und sie irgendwie akzeptieren. Meine ganz spezifischen Schwierigkeiten beginnen erst beim anderen Teil, nämlich bei der Identifikation einer ähnlich handfesten Basis für die dazugehörige Richtungsvorgabe, also für das Homokumulat selbst, denn mit ihr postuliere ich offenbar eine völlig neue und ungewohnte Art von neurophysiologischer Entität.

Selbstverständlich ist unser Gehirn imstande, verschiedenste Einzelformen der Anhäufung von Gleichem bzw. einer auffallenden natürlichen Quantität als solche zu erfassen, weil diese Fähigkeit seit jeher in vielen Kontexten für das Überleben wichtig ist; aber ich behaupte, daß sie weitab von jeder Reflexion im gesamten Geltungsbereich des von mir erfundenen Homokumulativitätsbegriffs zu einem einheitlichen Abbildungsergebnis führt, was bedeuten würde, daß das Gehirn auf einer mehr oder weniger primitiven Stufe der Informationsverarbeitung jene Denkoperation vorwegnimmt, die ich durch das vorliegende Buch überhaupt erst begründen möchte. Ist eine solche Annahme nicht unrealistisch? Sicherlich gibt es für alle Fälle der Anhäufung einen gemeinsamen Nenner auf der Ebene der mathematisch-logischen Analyse und des abstrakten Modells, aber das ist noch keine Garantie dafür, daß sich auch die angesprochene Tiefenschicht unseres Gehirns nach diesem Modell richtet!

Gegen die Existenz eines von der Reflexion unabhängigen neurophysiologischen Äquivalents für das abstrakte Wesen der Homokumulativität an sich lassen sich mancherlei Argumente vorbringen. So kann man sich darauf berufen, daß sich einzelne Menschen und selbst ganze Kulturen auf bestimmte Grundmöglichkeiten der Anhäufung zu spezialisieren scheinen: sie entwickeln eine besondere Empfindlichkeit z.B. nur für Menge, Intensität oder Reinheit, aus der man sogar eine recht interessante Typologie der Charaktere ableiten könnte. Und neben derartigen aspektbedingten müßte die angenommene einförmige Abbildung noch viele andere deutliche Unterschiede im Status überwinden, z.B. zwischen potentiellen Homokumulaten, die gerade quantitativ abgeschätzt werden, und solchen, auf deren hinreichende Größe wir uns gewohnheitsmäßig verlassen, oder zwischen einer natürlichen Quantität, die sich unmittelbar sinnlich wahrnehmen läßt, und einer, auf die man nur schließen kann (»je mehr bzw. je weniger A, desto mehr B«). Was soll ich allem dem entgegensetzen, damit mein Postulat nicht ganz so unwahrscheinlich klingen wird?

1. Es genügt mir ein Niveau der Informationsverarbeitung, auf dem die Anhäufung von Gleichem eine einheitliche Kodierung erfahren würde, bei erhaltener Vielfalt auf allen vorangehenden Ebenen. Logisch ist es, dieses Niveau knapp unterhalb der Stelle zu vermuten, wo die Zwischenergebnisse von verschiedenen Verarbeitungsketten in jene physikalisch-chemische Universalsprache übersetzt werden, in der alle aktuellen Verhaltensargumente gegeneinander abgewogen und zu einem sinnvollen Ganzen zusammengefaßt werden können. Denkbar ist aber auch, daß die Grundmöglichkeiten der Anhäufung sogar in dieser Sprache noch durch jeweils spezifische Ausdrücke repräsentiert werden, die allerdings in ihren motivativen Auswirkungen einander so ähneln und sich von anderen unterscheiden, daß sie eine klar umrissene natürliche Gruppe bilden – und erst sie ist das gesuchte Eins-zu-eins-Substrat.

2. Darüber hinaus zeigt sich bei genauerem Hinsehen, daß auch der Anschein der Vielfalt vor der Uniformierung nicht ganz der Wahrheit entspricht, denn eigentlich sind die Möglichkeiten der neurophysiologischen Verarbeitung von Gleichem ziemlich begrenzt. Seine analytische Wahrnehmung kann, wie gesagt, nur in einer analogen Anhäufung von gleichen Impulsen bestehen, und die Zusammenfassung derartiger Impulse muß grundsätzlich nach dem Muster »7x = 1y« erfolgen. Deshalb enthalten alle Abbildungen von Gleichem ohne Rücksicht auf ihren konkreten Inhalt von Anfang an identische Elemente, die ihre Vereinheitlichung wohl wesentlich erleichtern; und die bei solchen Elementen involvierten Typen von neurophysiologischen Prozessen sind offenbar recht einfach, ja fundamental, also würde eine ahnungslose Identifikation des abstrakten Wesens des Homokumulats für das Gehirn doch keine so abwegige Leistung darstellen. (Sie ist allerdings schwieriger als die Identifikation der Neuheit, denn diese kann sich auf eine noch primitivere Verwirrung stützen, die durch erfolglose Klassifikationsversuche entsteht – das ist vielleicht mit ein Grund, warum die Neuheit ihrer Zwillingsschwester nicht nur in der Reflexion, sondern auch in der praktischen Ausnutzung vorauseilt.)

3. Eine indirekte Vorstellung von den Existenzbedingungen der angenommenen neurophysiologischen Entsprechung für den Sachverhalt »Anhäufung von Gleichem als allgemeine Daseinsart« gibt uns möglicherweise der Vergleich mit den Existenzbedingungen jenes grammatikalischen Mechanismus, der für die Steigerung von Adjektiven sorgt. Seine Suffixe oder Adverbien bezeichnen nämlich genau dieselbe Substanz wie unser Grundbegriff, was unter anderem bedeutet, daß sie einen gleich hohen Grad an Abstraktion erreichen. Und doch erklärt uns ihre Entstehung schon die Annahme einer rein intuitiven Analogie, die, von einem recht konkreten Einzelfall ausgehend, über verschiedene Zwischenstufen allmählich zu der beobachteten Endform der Verallgemeinerung geführt hat, während wir heute dieses Sprachwerkzeug ganz automatisch benutzen – ja sogar die Grammatiker selbst, d.h. professionelle Sprachforscher, verschwenden keinen Gedanken an sein eigentliches Wesen. Die postulierte  Abstraktionsleistung ist also auch in dem Fall nicht an eine reflexive Vergegenwärtigung ihres Grundes gebunden, sondern kommt auf »primitiverem« Wege zustande, obwohl man die Parallele nicht zu weit ziehen darf.

Ich weiß, daß ich da im Nebel herumtaste. Aber grundsätzlich muß ich eines unterstreichen: meine Hypothese versucht keineswegs, dem Schiedsspruch der Neurophysiologie zu entgehen, sondern fordert ihn ganz im Gegenteil geradezu heraus. Ihr Problem besteht lediglich darin, daß sie unser heutiges Wissen auf diesem Gebiet (also nicht nur meines) deutlich überfragt; daher der Anflug von Spekulativität, der jedoch früher oder später einer positiven oder negativen Gewißheit weichen wird.

Gleichsam am anderen Ende der Skala der möglichen Beweise für meine zentrale Behauptung liegt ihre schon erwähnte Übereinstimmung mit gewissen leitmotivischen Feststellungen der naiven anthropologischen Empirie, z.B. über unsere Unersättlichkeit oder unseren Hang zu Extremen. Dabei handelt es sich offenbar um ein mehr oder weniger literarisches Argument, dessen Wert wohl manchem zweifelhaft bis inexistent vorkommen wird, und zwar mit guten Gründen. Für mich ist es allerdings trotzdem nicht ganz ohne Gewicht – zunächst einmal schon deswegen, weil ich selber von der Literatur her komme und nicht gewohnt bin, mich mit einer rein rationalen Befriedigung zu begnügen; was ich mir von meiner Arbeit erwarte, ist eine Hypothese mit den Qualitäten eines Mythos, einer unmittelbar einleuchtenden Metapher für die conditio humana, die meine Gefühle wecken und meine Phantasie beflügeln wird. Vor allem aber reicht rationale Brillanz nicht aus, um ein breiteres Publikum anzusprechen und in ihm den Willen wachzurufen, sich der Mühe des Verstehens zu unterziehen: so etwas kann man sich bei einem Werk aus dem Bereich der mathematischen Psychologie nur dann erhoffen, wenn man den Leuten den Eindruck vermittelt, es geht dich ganz persönlich an. Und in beiden Beziehungen erweist sich die Berufung auf die primäre anthropologische Empirie als außerordentlich hilfreich.

Sicher, damit rückt meine Hypothese noch weiter ab von strenger Wissenschaftlichkeit. Aber was hätte ich tun sollen? Der Geist der strengen Wissenschaft läßt eine Idee wie die meine beim gegenwärtigen Stand der Dinge im Grunde gar nicht zu; hätte ich mich also nach ihm gerichtet, so wäre ich gezwungen gewesen, den Gedanken im Namen der methodischen Korrektheit zu unterdrücken und ihn schließlich mit ins Grab zu nehmen – eine ziemlich unmenschliche Alternative.

Um jedoch Mißverständnissen vorzubeugen, möchte ich gleich betonen, daß ich die Idee so rational zu formulieren versuche, wie ich nur irgend kann. Meine Theorie ist weit entfernt von einer bloßen schöngeistigen Paraphrase unseres naiv-anthropologischen Gedankenguts und läßt sich absolut nicht rein literarisch genießen, weil sie, obwohl keiner speziellen fachlichen Tradition verpflichtet, doch schon eine Art Fachsprache benutzt und dem Leser eine manchmal recht ungemütliche Disziplin auferlegt. Zugleich behalte ich mir allerdings ganz grundsätzlich das Recht vor auf eine grenzenlose und vielleicht nur dem literarischen Essay zustehende Freiheit bei der Erforschung meines Gegenstandes, ohne die ich ersticken würde – und wenn ich mich bei ihrer Ausnutzung in einigen kritischen Richtungen möglichst konsequent einschränke, halte ich mich in anderen dafür mehr als schadlos. Diese Dualität kann man zweifellos als einen Sprung in der Grundkonzeption meines Werkes auslegen; aber möglicherweise hat sich meine Theorie als eine ausgesprochene Neugründung lediglich noch nicht endgültig abgesetzt von jenen Anfängen des Denkens, wo Essay (»Versuch«) und Fach in eins zusammenfallen.

Am treffendsten wäre es wahrscheinlich, von einem Denkspiel zu sprechen, das seinen schwebenden Status offen zugibt, sich aber dadurch nicht einschüchtern läßt, weil es viel zu fasziniert ist von der berauschenden Möglichkeit eines ganz neuen Diskurses, die sich durch meine Hypothese eröffnete, und einfach einem natürlichen Instinkt gehorchend die Nische zu besetzen versucht, indem es alle Konsequenzen formuliert, auf die mich meine begrenzte Phantasie nur bringen kann. Dabei zeigt sich übrigens, daß innerhalb der Hypothese eine ziemlich strenge Logik am Werk ist, und dieser Logik ordne ich mich ganz unter, ohne mich viel zu fragen, wohin sie mich führt.

Soviel über die Lage meiner Idee in bezug auf die beiden äußersten Punkte des Kontinuums der Wissenschaftlichkeit. Doch kann man Motivationskonstrukte auch durch verschiedene andere, dazwischenliegende Typen von Argumenten abstützen, die immerhin einen gewissen, wenn auch nicht ganz so hohen Grad der Unabhängigkeit von der naiven Empirie gewährleisten – also einen Erkenntnisfortschritt, der zumindest in den frühen Phasen der Entwicklung eines Gedankens, wo es ratsam sein kann, nicht zu rasch zuviel von ihm zu verlangen, vollkommen genügt. Und auf diesen mittleren Bestätigungsebenen hat meine Hypothese recht viel zu bieten, wahrscheinlich mehr als manches fest etablierte Konstrukt und auf jeden Fall genug, damit es lohnt, sie zu wagen.

Vor allem hatte ich für ihre Aufstellung zwei Gründe. Der eine war die Präzision und Eleganz, mit der sie sich bei aller Eigenwilligkeit ihrer Ausgangspunkte in das bestehende allgemeine naturwissenschaftliche Paradigma einordnete, und der andere war ihre explanatorische Ergiebigkeit. Einer eingehenden Darstellung dieser beiden Sachverhalte ist der Rest der vorliegenden Einleitung gewidmet.

 

Next Chapter

Level 3 Overview

Home