Level 3 (Einleitung)
Die analytische Leistung
»Grammatik der Beliebigkeit«
Ich gehe davon aus, daß der Leser schon vor Beginn der kontinuierlichen Lektüre mein Buch durchgeblättert und sich schnell einmal orientiert hat darüber, was er von ihm erwarten soll. Hat er das nicht getan, so rate ich ihm, es wenigstens jetzt nachzuholen, bevor er weiterliest. Besonders dringend empfehlen würde ich diese Vorgangsweise theoretisch weniger Interessierten, denen meine systematische Zusammenstellung aller diesbezüglichen Fragen, so notwendig sie auch ist, vermutlich recht unanschaulich und unbefriedigend vorkommen wird.
Schon eine solche flüchtige Durchsicht zeigt, daß der Grundtext ein einziges theoretisch-spekulatives Kapitel enthält, während sich alle anderen – und das bedeutet mehr als 85% des Textes – auf konkrete Analysen des menschlichen Verhaltens konzentrieren mit dem offenkundigen Wunsch, bestimmte Einzelfälle dieses Verhaltens zu erklären. Die daraus resultierende Verteilung der Akzente spricht für sich selbst. Was aber fast vollkommen fehlt, ist eine allgemeine Charakterisierung und Bewertung meines analytischen Ansatzes, und das soll das nächste Thema meiner nachträglichen Erläuterungen sein.
Zur näheren Bestimmung des Bereichs, den meine Analysen erfassen, muß ich zunächst wiederholen, daß meine Hypothese ein neues allgemeines Prinzip der Erklärung des Menschlichen einführt – nämlich in dem Sinne, daß man sie, und sei es nur »für alle Fälle«, immer in Erwägung ziehen muß, wenn man es mit einer Handlung zu tun hat, die Anzeichen einer primären oder sekundären Konsummation erkennen läßt. Selbstverständlich heißt das aber nicht, daß ich mir die Kompetenz und Fähigkeit anmaße, alle derartigen Handlungen des Menschen im Alleingang zu erklären; auch in dem damit abgesteckten Rahmen handelt es sich um eine ausgesprochen spezialisierte Theorie, die auf Zusammenarbeit mit vielen anderen angewiesen ist, weil sie nur im Verbund mit ihnen hoffen kann, daß sie den riesigen Problemen, an die sie sich heranmacht, einigermaßen gerecht werden wird.
Dabei ist ihr häufigster Partner, da er sie vorläufig am besten ergänzt, ein mehr oder weniger traditioneller Typ der Erklärung. Gemeinsam ist diesem Typ und ihr die Eigenschaft, daß beide beim Phänomen der Selektivität einhaken. Aus unzähligen Beobachtungen geht nämlich hervor, daß der Mensch (und nicht nur er) verschiedene theoretisch bestehende Verhaltensmöglichkeiten extrem ungleich behandelt: er beachtet nur einige wenige, und zwar meistens immer wieder dieselben, während er alle anderen ignoriert, was zu sehr stabilen Präferenzmustern führt. Gelingt es nun, eine Behauptung zu formulieren, deren logische Konsequenzen sich mit diesem Beobachtungsmaterial decken, d.h. die verworfenen Möglichkeiten ausschließen und nur die praktizierten zulassen, dann darf man annehmen, daß man einen gesetzmäßigen Grund, eine Determinante oder, in dem Fall, ein »Motiv« gefunden hat, warum sich der Mensch so verhält, wie er es tut.
Sätze, die in uns das Gefühl erwecken, daß wir die Dinge im oben beschriebenen Sinne durchschauen, können so überzeugend klingen, daß sie neurophysiologische Klarheit entbehrlich erscheinen lassen; wir sind nämlich bereit zu glauben, daß es auf jeden Fall irgendeinen Mechanismus geben muß, der dafür sorgt, daß die postulierte Determinante auch tatsächlich wirksam wird, so wenig wir uns ihn konkret vorzustellen vermögen. Allerdings sollte man nicht vergessen, daß sich Konstrukte dieser Art lediglich auf eine rationale Evidenz stützen, die leicht irreführen kann. Die ideale Erklärung bleibt nach wie vor eine neurophysiologische, das Problem liegt nur darin, daß sich einstweilen noch die meisten Verhaltensweisen ihrem Zugriff verschließen.
Was aber den traditionellen Typ der Erklärung von meinem unterscheidet, ist der Umstand, daß er die Auswahl als inhaltliche Spezifizierung verstanden wissen will. Die Folge ist eine weitgehende Aufhebung eben dieser Auswahl, denn zumindest entlang bestimmter Querschnitte bleibt nur eine von vielen Möglichkeiten übrig. Eine solche Spezifizierung zählt eben zu den starken Formen der Determination und wirkt gleichsam wie eine kasuistische Ratio, die genau vorschreibt, was in einem konkreten Fall zu tun ist. Daran denke ich, wenn ich von »inhaltlichen« Motiven spreche.
Man darf davon ausgehen, daß schon für jedes konsummatorische Verhalten mindestens ein inhaltlich spezifizierender Grund angeboten worden ist (in aller Regel sind sogar mehrere bis recht viele in Umlauf) und daß man auf diese Weise auch die letzte Schrulle irgendwie erklären kann. Allerdings wird die Erklärung nicht immer anstandslos hingenommen werden, weil es eine ebenso mächtige Tradition gibt, die das ganze Prinzip offen bekämpft, indem sie auf ein anderes wohlbekanntes Phänomen hinweist, nämlich das der Austauschbarkeit. Tatsache ist, daß man in vielen Fällen einen bestimmten Verhaltensinhalt ohne Folgen durch verschiedene andere ersetzen kann, die seinen Platz völlig ausfüllen. Innerhalb der Grenzen dieses Phänomens wird es offenbar unersichtlich, warum sich der Mensch gerade so verhalten müßte und nicht anders; vor ihm öffnet sich eine größere oder kleinere Lichtung der inhaltlichen Beliebigkeit, auf der er tun kann, was er will. Vielfach wird diese Beliebigkeit geradezu absolut gedacht, aber uns genügen schon jene charakteristischen Verkopplungen mit der Determination, bei denen dasselbe Verhaltensmuster in mancher Hinsicht genau spezifiziert erscheint und in mancher sperrangelweit offen.
Gegen die Austauschbarkeit der Inhalte ist die Methode ihrer logischen Deduktion natürlich machtlos, d.h. sie ergibt keinen Universalschlüssel für alle Geheimnisse unseres Verhaltens. Und ihre Ausfälle führen dazu, daß in der Transparenz der einzelnen Verhaltensmuster oder -aspekte markante Unterschiede auftauchen: was inhaltlich determiniert ist, kommt uns ursächlich begründet und klar vor, was nicht, bleibt unverständlich und seltsam und aktualisiert jenen bekannten Archetyp, nach dem man den Menschen als ein unlösbares Rätsel auffassen soll. Andererseits ist dieses Intelligibilitätsmanko aber auch eine gewaltige Herausforderung, denn es definiert einen instabilen, aber ebendeswegen noch sehr aktiven Bereich innerhalb unseres Weltbildes; das ist ein zusätzlicher Grund, warum sich meine Analysen gerade auf solche Fälle spezialisieren.
Damit steht übrigens schon fest, daß sie sich in eine heftige Kontroverse verwickeln werden. Das Terrain, auf dem sie sich bewegen, wird nämlich von einer klassischen europäischen Idee in Beschlag genommen: ich meine jene Anthropologie der Freiheit, die im Gegensatz zu alten (z.B. naiv-religiösen) und neuen (z.B. wissenschaftlichen) Determinismen behauptet, daß unser Verhalten keine mechanische und leicht voraussagbare Folge irgendwelcher Zwänge darstellt, die es ohne Rücksicht auf unseren Willen bestimmen würden und uns über solche Hebel restlos beherrschten, sondern ein Ergebnis unserer souveränen Entscheidungen. Die Austauschbarkeit der Verhaltensinhalte ist zweifellos einer von den sich anbietenden und auch häufig zitierten Beweisen für diese Freiheit – vielleicht nicht so dramatisch wie der Sieg im Nahkampf mit einer scheinbar unerbittlichen Determination, dafür aber umso radikaler, da er auf pure Laune und Zufälligkeit hinausläuft.
Doch die Logik des Inhalts ist nicht die einzige, mit der diese Anthropologie zu kämpfen hat. Manchmal kommen uns die für ein bestimmtes Element des Verhaltens vorgeschlagenen Spezifikationsargumente wenig zwingend vor und wir glauben nicht wirklich, daß sie die Freiheit des Verhaltenssubjekts aufheben, aber zugleich wird das Element klar und unbestreitbar präferiert, d.h. das Verhaltenssubjekt wird dennoch durch eine unsichtbare Hand in eine ganz spezielle Richtung geschoben. Natürlich kann das kein Zufall sein; dahinter steckt auf jeden Fall eine Gesetzmäßigkeit, die zumindest im Prinzip eine Erklärung nach dem oben beschriebenen Muster, also eine logische Begründung der beobachteten Einseitigkeit ermöglicht, nur wird man dabei offenbar mit einem anderen Dreh arbeiten müssen.
Was tut also der Mensch, wenn er tun kann, was er will, weil keine inhaltlichen Determinanten am Werk sind? Grundsätzlich schließe ich mich bei der Beantwortung dieser Frage, nochmals, jener formalistischen These an, die besagt, daß es in solchen Fällen zu einer Auswahl zwischen verschiedenen formalen Charakteristiken, und zwar sowohl von gleichen als auch von verschiedenen Inhalten, kommen kann. Die Selektivität des Verhaltens muß man sich also dabei so vorstellen, daß sich der Mensch nicht einfach für irgendeine Form (in der von mir definierten Bedeutung des Wortes) entscheidet, weil es ihn zu stark zu einer hinzieht: andere locken ihn nicht, mögen sie sich noch so aufdrängen, während er dieser kaum widerstehen kann. Sie – und nicht der Verhaltensinhalt – ist also der wirkliche Grund, warum er sich auf etwas kapriziert. Schon die Neuheit bzw. die Neugier sollte meiner Meinung nach so ausgelegt werden, und einen weiteren ähnlich intelligibilisierenden Faktor sehe ich in der Homokumulativität.
Lohnt sich eine derartige Hypothese? Wie groß ist eigentlich der explanatorische Wert einer formalistischen Erklärung des menschlichen Verhaltens und namentlich der Behauptung, daß dieses Wesen nach extremen Anhäufungen von Gleichem giert? Wie schon gesagt, ist die Behauptung kein vollwertiger Ersatz für die neurophysiologische Rekonstruktion des Vorgangs, aber wo eine solche Rekonstruktion noch nicht möglich ist, wird es sinnvoll, einen Vergleich zwischen meinem Typ der Erklärung und den traditionellen Ableitungen unserer inhaltlich spezifizierenden Logik anzustellen. Der Formalismus ist offensichtlich nicht in der Lage, den Möglichkeitskreis nach Art dieser Logik auf einen einzigen Punkt einzuengen und damit die entsprechende Unbestimmtheit restlos auszuräumen, doch dank der reichen Phänomenologie des Homokumulats führt meine Hypothese bei der analytischen Anwendung trotzdem zu einer recht detaillierten Begründung der beobachteten Auswahl, und in einem besonderen, nämlich quantitativen Sinne sind ihre Angaben sogar beträchtlich präziser. Außerdem haben sie den Vorteil, daß sie sich wegen ihres mathematischen Fundaments von Anfang an zumindest im Ansatz formalisieren lassen. Insgesamt dürfte das ungefähr gleich hoch, für manchen Geschmack vielleicht sogar höher zu Buche schlagen als die übliche inhaltliche Festnagelung.
Zugleich sollte man aber natürlich auf der Erde bleiben und nicht aus den Augen verlieren, was es konkret bedeutet, eine Verhaltensentscheidung auf den intrinsischen Reiz der Anhäufung von Gleichem zurückzuführen. Das ganze ist eine ausschließlich formale Erklärung, die nichts darüber aussagt, was angehäuft werden soll und warum. Ist die Form ein selbständiges Motiv, unabhängig von der vorhandenen oder nicht vorhandenen Anziehungskraft des Inhalts, dann bleibt die inhaltliche Beliebigkeit des Verhaltens mitsamt der auf ihr basierenden Freiheit durch dieses Motiv grundsätzlich unberührt.
Daran ändert auch nichts eine sekundäre Entwicklung, die das Prinzip immer wieder verwischt: früher oder später beginnt sich jeder von uns an einzelne Inhalte zu klammern, die ihn schon einmal als Anhäufungen von Gleichem formal befriedigt haben. Damit ist freilich die ursprüngliche Indiskriminativität im Eimer und es entsteht der Eindruck, als hätte man es doch mit einem genau spezifizierenden Motiv zu tun. Aber erstens ist der eigentliche Grund für derartige Kapricen nach meiner Hypothese noch immer die Form, der der Inhalt lediglich als Adresse dient, und zweitens stellt die Variabilität der Inhalte, die Gegenstand einer solchen Versteifung werden können, zumindest im großen Überblick die Beliebigkeit wieder her.
Auf jeden Fall gestaltet sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Freiheit und Unfreiheit hier nicht als ein plumpes Entweder-Oder, sondern als ein manchmal recht heimtückisches Sowohl-als-auch. Die formale Bestimmtheit ist eben eine vergleichsweise schwache Variante der Determination, durchsetzt mit einer starken Zufallskomponente, denn sie beschränkt sich auf gewisse allgemeine Regeln, nach denen sich ein inhaltlich frei herumstreunendes Verhalten richten muß. Das hatte ich im Sinn, als ich vor vielen Jahren ganz am Anfang meiner Beschäftigung mit der Theorie des Homokumulats etwas großspurig verkündete, ich wäre im Begriff, eine »Grammatik der Beliebigkeit« zu verfassen.
Vorbereitende Schritte
Genaugenommen ist explanatorische Ergiebigkeit ein zweischneidiges Schwert. Unter anderem habe ich ihr den größten Teil der Probleme im Zusammenhang mit dem Umfang meiner Arbeit zu verdanken. Meine Analysen lassen sich nämlich nur in Buchform veröffentlichen, und das bedeutet nach den heutigen Maßstäben eine denkbar ungünstige Form der Präsentation, denn es ist wohl illusorisch zu erwarten, daß von einzelnen Käuzen abgesehen irgend jemand eine solche Schwarte durchlesen wird – ich unterstreiche das Durchlesen, weil ein viertelstündiges Blättern, obwohl als erster Schritt angezeigt, keineswegs ausreicht, um meine Grundidee einigermaßen zu verdauen. War eine so unerbittliche Ausführlichkeit wirklich unvermeidbar? Über die Berücksichtigung des einen oder anderen Details ließe sich selbstverständlich streiten; doch insgesamt stellten ein paar hundert Seiten die kürzeste Fassung dar, in der meine Theorie wenigstens andeutungsweise zeigen konnte, wozu sie imstande ist, welches Potential in ihr schlummert und warum es sich also empfiehlt, sie zu formulieren.
Erstens sieht es ganz so aus, als ob uns der Begriff »Homokumulativitätsgier« helfen könnte, eine Unmenge konkreter menschlicher Verhaltensweisen besser zu erklären. Er scheint also auf eine außerordentlich breite Gesetzmäßigkeit hinzudeuten, die eine wahre Lawine von explanatorischen Konsequenzen auslöst, und natürlich liegt es in meinem Interesse, diese Fülle dem Leser möglichst anschaulich vor Augen zu führen und damit auf ihn einen entsprechend starken induktiven Druck auszuüben.
Dafür genügt es allerdings nicht, schnell ein paar Beispiele hinzuwerfen und alles Weitere der Phantasie des Lesers zu überlassen. Die erklärten Verhaltensweisen werden ihm nämlich inhaltlich auf eine ziemlich radikale Art verschieden und disparat vorkommen, weil sie bisher in vielen Fällen von niemandem untereinander in Verbindung gebracht worden sind. Im Gegensatz zu den meisten anderen Motivationstheorien kann sich also meine nicht einfach auf eine gegebene Vorstellung von der spezifischen Klasse der Erscheinungen berufen, für die sie gelten soll. Sie muß erst in geduldiger Kleinarbeit aus allen Ecken und Winkeln unseres Bewußtseins die nötigen Steinchen herauskramen und zu einem einheitlichen Mosaik zusammenfügen, oft gegen bestehende andersartige Einteilungen ankämpfend, was sie endgültig zu fleißigem Aufzählen verdammt.
Selbstverständlich muß es dabei streng geordnet zugehen, wenn die Aufzählung nicht in ein heilloses Durcheinander ausarten soll. Denkbar wären verschiedene Ordnungsprinzipien, auch z.B. eine alphabetische Aufreihung, doch habe ich mich konkret für eine Gruppierung der Fälle nach inhaltlicher Verwandtschaft entschieden. Das bot zunächst den Vorteil, daß ich ganze Gruppen auf einmal weiter behandeln konnte; außerdem ergab sich daraus ganz von selbst der Ansatz eines taxonomischen Systems mit mehreren hierarchischen Ebenen, von denen jede einen bestimmten Verwandtschaftsgrad repräsentierte, was zu der Hoffnung berechtigte, daß ich mir einen approximativen Überblick über das gesamte Feld des inhaltlich Möglichen (des dem Menschen Zugänglichen) werde verschaffen können; und schließlich ließ sich eine solche Aufzählung doch irgendwie mit der Form eines fließenden Diskurses vereinen, obwohl sie ihm stilistisch ziemlich schwere Einschränkungen auferlegte. Allerdings erforderte das ganze einen zusätzlichen Apparat von Unterklassenetiketts und Zuordnungskriterien, von dem wieder große Teile fehlten und andere auf den spezifischen Kontext abgestimmt werden mußten. Aus allen diesen Gründen zusammen läuft die mächtigste Schicht meines Grundtextes auf eine unermüdliche Katalogisierung des menschlichen Verhaltens hinaus.
Aber vielleicht ist die Aufgabe, eine ganz neue Klasse von Dingen aus der Taufe zu heben, doch nicht nur ein Problem, sondern auch eine große Chance. Es muß fast zwangsläufig irgendwie signifikant sein, daß man eine solche Anzahl so vielfältiger Erscheinungen auf eine einzige Gesetzmäßigkeit zurückführen bzw. im scheinbaren Chaos die Spuren eines so überraschenden und spektakulären Attraktors entdecken kann – zumal wenn man bedenkt, daß es sich dabei um das Chaos unserer eigenen Konsummatorik handelt, deren weniger leicht verständliche Auswüchse uns besonders brennend interessieren müßten. Die Theorie des Homokumulats veranlaßt uns, einen Großteil dieser Konsummatorik an einem Ort zusammenzuziehen und ihn viel genauer und methodischer aufzulisten, als es bisher irgend jemand für nötig gehalten hat; und das Ergebnis ist ein gewaltiges Panorama, das die Existenz meiner Hypothese schon allein zu rechtfertigen scheint.
Die nächste Operation, die sich nach einer solchen katalogisierenden Eingliederung aufdrängt, wird aus der folgenden Überlegung ersichtlich. Weil wir nach Fällen suchen, in denen uns die Homokumulativität selbst motiviert, ist eine notwendige, obwohl noch nicht ausreichende Bedingung für die Aufnahme einer Verhaltensweise in unsere Liste die tatsächliche Gegebenheit und dieser vorgelagert die grundsätzliche Möglichkeit der Anhäufung von Gleichem, d.h. ein Punkt, an dem das angenommene Motiv ansetzen kann. Die Identifikation von derartigen Punkten ist eine der Spielarten der formalen Analyse, die im Grundtext etwas sorglos mit der formalen Analyse schlechthin gleichgesetzt wird. (Allerdings konzentriert sich meine Spielart auf die Gleichheitsrelation, also auf die konstitutive und irgendwie besonders »typische« Ingredienz der Form.) Und worum geht es bei einer solchen Analyse? Auf die eine oder andere Weise läßt sich voraussichtlich jedes Ding anhäufen; eine bloße Bestätigung dieser allgemeinen Wahrheit wäre folglich gegenstandslos. Interessant zu wissen ist höchstens, wie so etwas in einem ganz bestimmten Fall konkret geschieht oder geschehen könnte, eine Frage, auf die uns der pauschale Begriff des Homokumulats keine Antwort gibt. Man muß also dazu andere, präzisere Werkzeuge verwenden, und solche Werkzeuge liefern uns eben die Bezeichnungen für verschiedene steigerungsfähige Eigenschaften – das ist ein weiterer Grund, warum wir die Phänomenologie des Homokumulats nicht einfach ad acta legen können.
Aus diesem Umstand läßt sich auch schon die allgemeine Form des Ergebnisses einer derartigen Analyse ableiten. Global gesehen gibt es zahllose Richtungen, in denen die Dinge angehäuft bzw. gesteigert werden können, aber ebendeswegen wird man keinen Einzelfall finden, in dem sie alle auf einmal zum Tragen kämen; die meisten von ihnen erweisen sich stets als rein logisch ausgeschlossen oder praktisch bedeutungslos und das wirkliche Formpotential des beobachteten Inhalts schrumpft zusammen auf einen verhältnismäßig kleinen Rest. Allerdings ist dieser Rest normalerweise und vielleicht sogar immer größer als eins, d.h. es existiert vermutlich kaum ein Inhalt, der nicht auf verschiedene Weisen angehäuft werden kann (= auf den nicht mehrere Bezeichnungen der obengenannten Art passen) – ja gewöhnlich entpuppt sich das Spektrum sogar als recht breit, obwohl sich einzelne Homokumulationsrichtungen mitunter sehr in den Vordergrund schieben. Dabei setzt sich die Gruppe der in Betracht kommenden Richtungen grundsätzlich bei jedem Inhalt etwas anders zusammen und bildet eine spezifische Kombination, die von Fall zu Fall aufs neue herausgefunden werden muß. Deshalb besteht die typische, ständig wiederkehrende Beschreibung der Form in unserem Sinne des Wortes in einer aufzählenden Auswahl aus dem Gesamtverzeichnis der steigerungsfähigen Eigenschaften.
Damit scheint aber festzustehen, daß jeder konkrete Inhalt eine Reihe von formalen Implikationen nach sich zieht und daß also die Form durch den Inhalt vorbestimmt (determiniert) wird. Dieser Eindruck ist sicher nicht falsch, nur muß man dabei zwei Typen von Folgen auseinanderhalten. Wenn der Sachverhalt A vor allem durch Intensivierung angehäuft wird und der Sachverhalt B vor allem durch Bereinigung, ist das formale Ergebnis grundsätzlich dasselbe und der Unterschied bezieht sich nur auf die Inhaltsklasse des Weges, auf dem es erreicht wird. Die Form selbst betreffen hingegen Differenzen in der Länge der Liste der möglichen Homokumulationsrichtungen oder in der Auffälligkeit einer einzelnen Richtung: bestimmte Inhalte sind nach solchen Maßstäben in der Tat beträchtlich ergiebiger als andere.
Auf den ersten Blick würde man die Aufgabe, vor die uns eine so definierte formale Analyse stellt, als verhältnismäßig leicht einstufen, denn schließlich ist die Steigerung ein recht simples Phänomen ohne Ehrfurcht gebietenden Tiefgang. Aber wenn ich dieser Einschätzung folgend den Leser aufforderte, einfach ins Wasser zu springen und zu schwimmen, stünde er ziemlich hilflos da.
Auf eine passive Art wissen wir zwar alle, worum es dabei geht, und reagieren auf jeden Hinweis mit einem spontanen »Aha«, doch das genügt nicht, denn die Situation verlangt aktive Kompetenz in der Aufzählung von steigerungsfähigen Eigenschaften, ja die Fähigkeit, sie nur so aus dem Ärmel zu schütteln, oder wenn ich die Aufgabe etwas genauer beschreibe: erstens sollte man ein möglichst vollständiges Register solcher Eigenschaften parat haben, um es bei Bedarf vor seinem inneren Auge abspulen zu können, und zweitens sollte man in der Lage sein, aus ihm ganz routinemäßig die für den beobachteten Inhalt charakteristische Kombination herauszusuchen und herunterzurasseln. Derartigen Anforderungen wird im Augenblick sicher niemand gerecht – aus dem einfachen Grund, weil es bisher keine Phänomenologie des Homokumulats gegeben hat, und die gab es nicht, weil sich die Leute nicht vorzustellen vermochten, wozu sie gut sein sollte, in Abwesenheit einer solchen Vorstellung aber jedermann absurd vorgekommen wäre, unser Wissen darüber, wie dieses oder jenes Ding im einzelnen gesteigert werden kann, systematisch zu kultivieren.
Ein neues Hindernis und eine neue Chance! Denn bevor ich mich anschicken konnte, meine Hypothese konkret anzuwenden, mußte ich die Lücke ausfüllen, d.h. den Leser zumindest im Prinzip auf die richtige Spur bringen und ihm im Idealfall vielleicht sogar so etwas wie einen automatischen formanalytischen Reflex anerziehen. Und auch hier hätten ein paar Beispiele nicht ausgereicht, weil sich das verrostete Räderwerk anscheinend ziemlich ungern zu drehen beginnt und sich lange kein nennenswerter Transfer einstellen will. Die Operation mußte vielmehr die Form eines beharrlichen Unterrichts bzw. einer regelrechten »Schule des Sehens« annehmen, in der nach und nach jener neue Typ der Phantasie zur Entfaltung gebracht werden sollte, von dem eingangs die Rede war.
Damit ist die darstellende Maßnahme definiert, die sich als eine weitere relativ selbständige Schicht des Grundtextes durch den ganzen angelegten Verhaltenskatalog hindurch zieht und seinen Umfang praktisch verdoppelt: ich versuche bei jedem Inhalt oder wenigstens bei jeder Gruppe von Inhalten, den Rahmen ihrer konkreten Anhäufungsmöglichkeiten abzustecken. Bisweilen kann ich dabei auf die Tradition der formalistischen Ästhetik zurückgreifen, aber insgesamt bietet sich eine solche Gelegenheit eher selten, denn erstens stoße ich in viele Bereiche vor, die von dieser Tradition nicht erfaßt wurden bzw. deren formale Beschreibung bisher überhaupt niemandem in den Sinn kam, zweitens erweist sich der überlieferte Formbegriff zumindest in der Praxis als mehr oder weniger willkürlich begrenzt und läßt auch dort, wo er angewandt wird, eine ganze Reihe von Aspekten unbeachtet, und drittens bekommen sogar an sich identische Befunde im neuen Kontext eine wesentlich andere Bedeutung. Den Blickwinkel selbst habe ich also nicht erfunden, aber im Endeffekt sind meine Analysen der Form genauso oder noch deutlicher überwiegend primär wie mein Verhaltenskatalog.
Grundsätzlich interessiert mich dabei jede Charakteristik, die das Element der Anhäufung von Gleichem enthält, obwohl ich im konkreten Einzelfall natürlich nicht nach kompletten, alle Eventualitäten erschöpfenden Auszügen aus einem theoretisch denkbaren Wörterbuch der steigerungsfähigen Eigenschaften streben konnte, weil solche Auszüge zu lang wären und die anvisierte Darstellungsform sprengten. Nach der Nennung der untersuchten Verhaltensweisen ist nämlich die Nennung ihrer möglichen Anhäufungsrichtungen schon die zweite Quelle eines Aufzählungszwangs, der meinen Text auf eine stellenweise kaum noch erträgliche Art verunstaltet. Deshalb mußte ich empfindliche Kürzungen in Kauf nehmen, bei denen ich mich von folgenden Gesichtspunkten leiten ließ.
1. In zahlreichen Fällen, wenn auch bei weitem nicht immer, enthält unser Wortschatz Bezeichnungen, die eigens auf die formale Komponente eines einzigen recht spezifischen Inhalts hinweisen – Beispiel: Bewegung/ Geschwindigkeit. Derartige Bezeichnungen drängen sich natürlich auf, und da sie das Verständnis der Zusammenhänge auf ihre Weise erleichtern, kommen sie mir sehr gelegen.
2. Im allgemeinen konzentriere ich mich jedoch auf ein mehr oder weniger konstantes Repertoire von solchen Aspekten, die im Prinzip bei vielen Inhalten aktuell werden können und deshalb eher die Universalität der Form unterstreichen. (Die wichtigsten von ihnen findet man im »Terminologischen Index«.) Ausschlaggebend für ihre Wahl war der Umstand, daß sie den Homokumulativitätsbegriff auf eine besonders charakteristische Weise erweitern. Je besser ihnen das gelingt, desto unvermeidlicher kommt es allerdings zu der ebenso charakteristischen phänomenologischen Verwicklung, daß ihr formales Wesen dem ungeübten Auge nicht gleich auf Anhieb einleuchten will. Eigenschaften dieser Art muß man also zunächst gewissermaßen demaskieren, gelegentlich sogar mit einem ausgeprägten Überraschungseffekt, was den didaktischen Wert ihrer Reduktion auf eine Anhäufung von Gleichem noch zusätzlich vergrößert.
3. Wie ich mir die eben genannte Demaskierung konkret vorstelle, habe ich in der vorliegenden Einleitung am Beispiel der sogenannten primären Aspekte deutlich gemacht, und das geschah mit Vorbedacht, denn in meinen Analysen spielen die primären Aspekte eine Schlüsselrolle – nicht nur, weil ich selber zufällig gerade an dieser Stelle in die Problematik eingestiegen bin, sondern in erster Linie aus einem objektiven Grund: sie scheinen schon allein für eine vereinfachte, aber dennoch mehrfarbige Schilderung der Form zu genügen. Nach meiner Erfahrung lassen sich nämlich alle anderen steigerungsfähigen Eigenschaften durch einen oder mehrere solche Aspekte ersetzen, freilich um den Preis einer weitgehenden inhaltlichen Nivellierung und Verarmung, doch ihr formaler Kern bleibt davon offenbar unberührt; ihm wird nur eine nach der oben absolvierten Vorarbeit leicht erkennbare Gestalt verliehen. Deshalb »übersetze« ich jede Eigenschaft zumindest bei ihrer ersten Erwähnung in die Sprache der primären Aspekte. Das ist der deutlichste Ansatz zur Standardisierung des Verfahrens, mit dem mein im übrigen recht frei improvisierender analytischer Diskurs aufwarten kann.
Die Folge der damit umrissenen Selbstbeschränkung ist natürlich eine gewisse Einseitigkeit. Ich versuche mir vor allem eine halbwegs geordnete Übersicht über die grundlegenden Möglichkeiten der Anhäufung von Gleichem zu verschaffen, während die tatsächliche Buntheit des Phänomens nicht in vollem Umfang zur Geltung kommt. Ich hoffe jedoch, daß der allgemeine Effekt trotzdem erkennbar bleibt: die Anzahl der möglichen Kombinationen von steigerungsfähigen Eigenschaften ist noch viel größer als die Anzahl der Eigenschaften selbst – mit ihnen betreten wir gleichsam das zweite Stockwerk der Phänomenologie des Homokumulats –, also kann die Beschreibung der Form nicht so leicht langweilig werden.
Ein darstellungstechnisches Problem taucht allerdings auf, weil sich die beiden Aussagen, mit denen die Grundrelation hergestellt wird, zwangsläufig wiederholen. Ich meine einerseits den Satz »das ist eine formale Eigenschaft, die den genannten Inhalt kennzeichnet« und andererseits den Satz »das ist ein Inhalt, auf den die genannte formale Eigenschaft paßt«. Um der Monotonie zu entgehen, habe ich diese zwei Aussagen (mitsamt der Annahme einer entsprechenden motivierenden Folge) durch ein Sternchen hinter dem Wort, auf das sie sich beziehen, ersetzt. Im analytischen Teil meines Grundtextes treten solche Sternchen oft in großen Mengen auf, doch sollte sie der Leser trotzdem nicht gedankenlos überspringen, weil sich ohne den Zusammenhang, auf den sie aufmerksam machen wollen, der Zweck der ganzen Übung verflüchtigt.
Grenzen der Analyse
Die Beschreibung der Form ist aber erst eine notwendige Vorbereitung für den entscheidenden Schritt in meiner Beweisführung, nämlich die konkrete Identifikation des postulierten Motivs. Beeinflußt die herausanalysierte Anhäufung von Gleichem tatsächlich unser Verhalten in dem Sinne, daß sie hier und jetzt jemandes Homokumulativitätsgier erweckt (bzw. damals und dort jemandes Homokumulativitätsgier erweckt hat)? Denn ohne mindestens ein solches Ereignis im Ärmel darf ich den Fall offenbar nicht in mein Panorama der möglichen Ziele dieser Gier einreihen.
Hier bricht für meine Hypothese die Stunde der Wahrheit an, und das hat sie vor allem dem folgenschweren Umstand zu verdanken, daß der Mensch für sein Streben nach äußerster Intensität, Extensität, Reinheit usw. auch ausgesprochen inhaltsspezifische Gründe haben kann: viele von seinen Verhaltensweisen werden nämlich erst durch weitgehende Anhäufung von irgendetwas überhaupt sinnvoll. Aber diese Anhäufung ist nur ein Nebenprodukt, eine unausweichliche Implikation von Interessen, die in ihr ein reines Mittel zu einem anderen, externen Zweck sehen und denen sie »als solche« völlig gleichgültig ist. Haben wir an einer früheren Stelle gezeigt, wie man sich wegen der Form auf einen ganz bestimmten Inhalt kaprizieren kann, so stehen wir jetzt vor der umgekehrten Situation. Schon daraus ergeben sich zwei unangenehm ähnliche Sachverhalte, zwischen denen große Verwechslungsgefahr besteht – denn wie soll man herausfinden, ob die Homokumulation im untersuchten Einzelfall als Motiv oder als eine sekundäre Begleiterscheinung figuriert? Theoretisch ist immer beides möglich und die Feststellung, daß es das Verhaltenssubjekt zu einer extremen Anhäufung von Gleichem hinzieht, beweist an und für sich noch gar nichts, weil dieser Sog auf zwei Ursachen zurückgeführt werden kann, eine inhaltliche und eine formale.
Als wäre das nicht schon genug, gibt es aber noch eine dritte Möglichkeit: beide Arten von Interessen können auch gleichzeitig aktuell werden und zu einer besonderen Form von Mischmotivation verschmelzen. Vieles spricht sogar dafür, daß ein rein homokumulativitätsgieriges Verhalten eine verhältnismäßig seltene Nebenvariante darstellt, weil das angenommene Motiv in Wirklichkeit meist als eine von mehreren Motivationskomponenten zum Zug kommt und das Verhaltensbild höchstens auf eine bestimmte Art färbt. Deshalb ist es nicht mein eigentliches Ziel, ein größeres oder kleineres Imperium aufzubauen, in dem ich gleichsam auf ein Erklärungsmonopol pochen könnte; ich möchte durchaus in die Feinheiten solcher multifaktorieller Zusammenhänge eindringen, nur ist es unter diesen Bedingungen noch viel schwieriger, die Homokumulativitätsgier von anderen Motiven zu trennen, als wenn man lediglich die schon an sich hinreichend knifflige Frage »Inhalt oder Form« beantworten muß – gewöhnlich erweist sich die Aufgabe sogar als vorläufig völlig unlösbar. Daher konzentriere ich mich notgedrungen auf die Nebenvariante in der Hoffnung, daß sie indirekt auch die Existenz der Hauptvariante wahrscheinlicher macht.
Inzwischen versteht der Leser vermutlich schon etwas besser, warum ich jene Gewißheit vermisse, zu der mir in diesem Punkt die Neurophysiologie verhelfen könnte. Es ist nur natürlich, daß man sich in einer so vertrackten Situation an irgendeine Autorität anlehnen und das Problem auf ihre breiten Schultern überwälzen möchte. Doch das einzige überindividuell akzeptierte Argument, das ich zugunsten meiner konkreten Interpretationen des Verhaltens anzuführen weiß, bleibt ihre Übereinstimmung mit der schon erwähnten traditionellen Überzeugung unserer Kultur, daß die Form im Prinzip zweifellos gefallen bzw. motivieren kann, und das läßt mir keine große Wahl: ich muß versuchen, meinen analytischen Diskurs so zu gestalten, daß ich mich darin so oft wie möglich und am besten gleich en bloc werde wenigstens auf diese Übereinstimmung berufen können. (Dort, wo mir das letztere gelingt, fällt die Notwendigkeit, den postulierten Beweggrund im Einzelfall nachzuweisen, nicht selten über viele Seiten weg.)
Damit habe ich einen Faktor definiert, der meine Bemühungen in eine recht klare Richtung lenkt. An sich begegnet man zwar dem formalistischen Gedanken in Variationen von äußerst verschiedener Ausdehnung. Bisweilen wird von erstaunlich großen Teilen des menschlichen Verhaltens angenommen, sie wären durch die Form motiviert; in strukturalistischer Verkleidung kann sie sogar zur zentralen Determinante der Kultur aufrücken. Aber solchen extremen Standpunkten haftet etwas Sektiererisches an, das sie für meine Beweisführung ungeeignet macht. Die Idee ist nämlich, meine Befunde, wenn schon nicht durch makellose »Wissenschaftlichkeit«, so doch wenigstens durch einen möglichst breiten Konsens abzustützen, und der besteht nur auf einem deutlich begrenzten Gebiet. Indem ich mich also von ihm leiten lasse, tauchen in meinen Analysen ausgeprägte inhaltliche Schwerpunkte auf.
Vor allem findet man einen derartigen Konsens in der Sphäre der Ästhetik selbst, nicht viel weniger explizit aber auch noch in einigen unmittelbar benachbarten Bereichen, die erfahrungsgemäß oft mit der Ästhetik verfließen. Stichwortartig verkürzt geht es dabei um Dinge wie Spiel und Sport, Schönheit und Kunst, Gefühl und Erlebnis. Natürlich umreißen diese Begriffe ein höchst interessantes Segment unseres Verhaltens, das seit den alten Griechen immer wieder in den Mittelpunkt der Definition des Menschen gestellt wird, weil es eben der Anthropologie der Freiheit so gut in den Kram paßt, und dank dem Umstand, daß sich meine Analysen gerade auf solche Phänomene konzentrieren, fällt indirekt auch auf sie ein Teil desselben Glanzes. Aber insgesamt wirkt sich die Abhängigkeit von der formalistischen Tradition auf mein Vorhaben doch eher ungünstig aus, weil sie – wie noch zu zeigen sein wird – zu einer spezifischen Art von Einseitigkeit führt, die gerade den wichtigsten Zusammenhang weitgehend verwischt.
Außerdem reicht mir die Behauptung, daß die Form motiviert, allein noch nicht aus; ich mache nämlich für den Effekt bestimmte Besonderheiten der Form verantwortlich, die man offenbar genauer einkreisen kann und soll. Manchmal wird auch das schon von der Tradition des Formalismus erledigt (der ja die Formanalyse von Anfang an nur wegen ihrer motivationspsychologischen Implikationen betreibt), aber im großen und ganzen konnte ich mich, wie gesagt, nicht sehr oft auf eine einfache Wiedergabe von Bekanntem beschränken, sondern mußte die Besonderheiten selber identifizieren. Damit wird jedoch ungewiß, ob ich auch bei solchen selbständigen Wirkungszuweisungen den Finger auf die richtigen Punkte gelegt habe. Um diese Frage zu klären, nimmt man am besten einen Fall, in dem die untersuchte Eigenschaft bis zum Extrem gesteigert, d.h. angehäuft erscheint, stellt ihn neben einen vergleichbaren Fall, in dem dieselbe Eigenschaft nicht das durchschnittliche Maß überschreitet, und beobachtet seine eigenen oder fremde Reaktionen. Wird eine Vorliebe für die extreme Ausprägung der Eigenschaft deutlich und steht im Prinzip fest, daß die Wahl im breiteren Rahmen eines formalen Interesses getroffen wird, dann hat man höchstwahrscheinlich das Homokumulat am Werk erwischt.
Ein wichtiger Umstand ist dabei, daß die Liste solcher Eigenschaften nicht willkürlich – je nachdem, ob sie die Hypothese bestätigen oder nicht – zusammengestellt werden kann. Dafür gibt es vielmehr ein ziemlich objektives Kriterium, und wenn es eine Eigenschaft erfüllt, dann muß sie in die Liste aufgenommen werden. Deshalb scheint besonders viel davon abzuhängen, ob wirklich alle ohne Unterschied die von mir vorausgesagte Wirkung hervorrufen können. Meine Erfahrungen sind in dieser Beziehung recht eindeutig: unter jenen Eigenschaften, die mir bei meinen Sondierungen in den Sinn kamen und die ich näher beleuchtete, entdeckte ich keine, die meiner Definition entsprechen würde und dabei absolut unfähig wäre, uns formal zu motivieren (obwohl es konkret freilich nur unter bestimmten, im Grundtext spezifizierten Bedingungen geschehen kann). Ein schlüssiger Beweis ist zwar vermutlich auch das nicht, aber zumindest ist es kein schlechtes Zeichen.
Übrigens gibt es einen Weg, auf dem sich die letzte Behauptung in abgekürzter Form überprüfen läßt. Dafür sollte sich der Leser ganz nach eigener Wahl eine Reihe von Bezeichnungen für einen extrem hohen Ausprägungsgrad irgendeines steigerungsfähigen Phänomens – also von Superlativen oder anderen Wörtern mit ähnlicher Konnotation – in Erinnerung rufen und sich fragen, was er bei ihnen empfindet. Ich glaube, er wird bei allen solchen Bezeichnungen ungeachtet dessen, für welche er sich entschieden hat, dasselbe bemerken, nämlich wie schwer es ist, sie ausschließlich als nüchterne Feststellungen aufzufassen. Sie scheinen durch die Bank von einer Aura des Aufregenden, des unfreiwillig Faszinierenden umgeben zu sein, die sich offensichtlich kaum wegdenken läßt, selbst wenn sie sich auf keine konkrete Verhaltenssituation beziehen, und es ist wohl ziemlich wahrscheinlich, daß diese doppelte Unabhängigkeit, sowohl vom denotierten Inhalt als auch von seinem Kontext, eher auf ein formales Motivationspotential hinweist.
Gerade die solchermaßen definierte Einförmigkeit der Wirkung veranlaßte mich, die Ebene des halbwegs Anschaulichen zu verlassen und eine Hypothese aufzustellen, die zwar für uns einstweilen noch keine empirische Evidenz besitzt, sich aber in der Form eines abstrakten logischen Schlusses geradezu aufdrängt: wenn alle derartigen Phänomene motivieren, dann motivieren im Grunde nicht sie, sondern etwas, was sich hinter ihnen verbirgt und als Richtlinie für die Zusammensetzung ihrer Liste sichtbar gemacht werden kann.
Das schwierigste Dilemma, vor das mich meine Analysen gestellt haben, war jedoch, was ich mit jenen Fällen anfangen sollte, in denen ich mich nicht an den bis hierher vorausgesetzten grundsätzlichen Konsens über das Formverhalten anhängen konnte. Ich stieß nämlich oft auf Verhaltensweisen, die bis heute selten oder überhaupt nie mit einer formalistischen Erklärung bedacht wurden, bei genauerer Betrachtung aber starke Parallelen zu den durch Berufung auf die Tradition identifizierbaren Produkten der Homokumulativitätsgier erkennen ließen. Am klügsten wäre es zwar vielleicht gewesen, sich gar nicht auf eine Erörterung von solchen Fällen einzulassen, doch die Versuchung, sie trotz allem in die Argumentation einzuarbeiten, war einfach zu groß und ich konnte ihr manchmal nicht widerstehen. Demnach weitete ich also die Idee des Formalismus nicht nur auf ganz neue Aspekte der Form, sondern auch auf ganz neue Inhalte aus – in der Hoffnung, daß es mir bei bestimmten Verhaltensweisen oder wenigstens bei bestimmten Elementen oder Aspekten dieser Verhaltensweisen gelingen wird, die Aktualität von allen anderen Motiven auszuschließen (oder zumindest nachzuweisen, daß sie nicht alles erklären), was mir dann natürlich keine andere Wahl lassen würde, als den beobachteten Reiz des Homokumulats auf das Konto der Homokumulativitätsgier zu buchen.
Der größte Ansporn war dabei für mich die Höhe der Erfolgsprämie. Diese Art der Beweisführung hat offenbar nichts mehr zu tun mit einer zahmen Einordnung in die bestehende Überlieferung und verspricht völlig neue, vielleicht sogar sensationelle Einsichten in die Logik, die uns leitet. Doch leider wird dabei zugleich auch etwas weniger Erfreuliches sichtbar, nämlich wieviel davon abhängt, ob eine Auffassung von allen oder von einem einzigen Menschen mehr oder weniger gegen die anderen vertreten wird. Der Konsens über die Existenz eines Formverhaltens und nicht nur er, viele eingebürgerte Motivationskonstrukte – darunter sogar solche mit einwandfrei »wissenschaftlichem« Pedigree – beruhen genauso wie meiner nur auf der Beobachtung von sich selbst und von anderen, d.h. sie haben in puncto Zuverlässigkeit nicht mehr zu bieten als ich; und doch werden ihnen ganz unbesehen riesige Mengen an Glauben entgegengebracht und lassen sie einfach selbstverständlich erscheinen, während ich bei meinen über den genannten Konsens hinausgehenden Diagnosen, die Skepsis des Lesers vorwegnehmend, immer unsicher und mit meiner Argumentation unzufrieden bleibe, auch dort, wo ich dafür keinen vernünftigen Grund nennen kann.
Aber diese Zerrissenheit gehört nun einmal zu den Modalitäten meines Denkspiels. Die Masse hat zwar nicht von vornherein recht und der einzelne unrecht, doch gibt es auch keinen umgekehrten Automatismus, der mich vor jedem Fehler schützen würde. Bei der Identifikation der Homokumulativitätsgier im Einzelfall stoßen meine Analysen eben auf eine ziemlich harte Grenze und ich darf nicht versuchen, diese Grenze irgendwie wegzureden.
Noch zusätzlich verschärft wird das ganze Problem durch die Universalität des Homokumulats. Aus ihr geht nämlich logisch hervor, daß im Prinzip jeder Verhaltensinhalt, der dem Menschen irgendwie zugänglich und zudem hinreichend angehäuft ist, imstande sein müßte, Homokumulativitätsgier (falls es so etwas gibt) auszulösen. Doch eine empirische Bestätigung dieses Postulats ist nicht nur aus den oben dargelegten Gründen unmöglich, sondern unter anderem schon allein deswegen, weil an eine vollständige Inventarisierung aller Inhalte, die uns dabei offenstehen, nicht zu denken ist. Mancher Passage meines Werkes sieht man es zwar wahrscheinlich an, daß sie von der utopischen Hoffnung getragen wird, sie könnte zumindest auf einem kleineren Teilgebiet sämtliche vorhandenen Möglichkeiten erfassen, aber das allgemeine Ergebnis ist bei aller Ausführlichkeit meines Verhaltenskatalogs lediglich eine beschränkte Auswahl und Übersicht, die den real existierenden Reichtum höchstens anzudeuten vermag.
Überhaupt ist klar, daß meine Hypothese nur durch aktive Mitarbeit des Lesers zu Ende gedacht werden kann.
Erstens sollte er meine Analysen bloß als eine Art Sensibilisierungstraining und Anregung zu gleichartiger eigener Betätigung auffassen und die sich darin ausdrückende Haltung aus der »Laboratmosphäre» des vorliegenden Buches in seine alltägliche Wirklichkeit übertragen. Er sollte sich gewissermaßen angewöhnen, jedem beobachteten konsummatorischen Verhalten mit einem vorsorglichen Generalverdacht auf Homokumulativitätsgier zu begegnen.
Der tatsächliche Geltungsbereich meiner Hypothese läßt sich derzeit kaum abschätzen; niemand hat eine Ahnung, was alles in unserem Verhalten zu den Folgen dieser Gier gezählt werden muß und was nicht. Identifizieren – wenn auch nur auf die oben geschilderte, also manchmal recht unbefriedigende Art und Weise – kann ich das angenommene Motiv allenfalls, wenn es entweder das einzige ist oder deutlich überwiegt oder wenigstens einzelne Details maßgeblich bestimmt. Absolut unbeweisbar bleibt es hingegen bis auf weiteres als unauffällige Nebenkomponente (»Spurenelement«) einer Mischmotivation. In solchen, vermutlich außerordentlich zahlreichen Fällen läßt sich höchstens die grundsätzliche Möglichkeit feststellen, daß es seine Finger mit im Spiel hat. Doch eine derartige Behauptung ist kein Argument, also unterlasse ich sie in aller Regel, und daraus erwächst dem Leser die nächste Aufgabe: er soll meine Idee auch in diesen breiten Grauzonen möglichst konsequent zur Anwendung bringen, aber natürlich nur in streng hypothetischer Form, d.h. er soll dabei ein beharrliches Ausstrecken der Fühler mit flexibelster Rückzugsbereitschaft verbinden.
Und schließlich ergibt sich bei meinen Analysen noch ein kritischer Punkt. Sie müssen nahe am untersuchten Objekt bleiben, was aber leicht als unsympathische Pedanterie verstanden wird. Manch einem werden sie vermutlich überladen mit Einzelheiten vorkommen, die den roten Faden oft völlig verschütten. (Als Aushilfe für solche Fälle biete ich eine »Detaillierte Inhaltsübersicht« an.) Insgeheim hoffe ich jedoch, daß es mir gerade durch die Wucht meiner Beispiele gelingen wird, den Leser so weit zu bringen, daß er am Ende die Ebene des geistlosen Aufzählens hinter sich lassen und sich zu einer Gesamtschau, zu einer synthetischen Vision des Homokumulativitätsjägers aufschwingen wird – ein Kraftakt der Phantasie, den ich ihm wieder nicht abnehmen kann.