Helmut Schneider
VOM NUTZEN DER UTOPIE
Pino Poggi hat einmal aufgelistet, was er in seinem Leben so alles
war (oder noch ist): Bildhauer, Gardner, Kellner, Futurologe, Bauer,
Maler, Politiker, Architekt, Liedermacher, Photograph, Schreiner, Schwammerlsucher...
In diesem Mosaik, das sich zum mehrperspektivischen Selbstportrat eines
vielseitig beschäftigten Zeitgenossen zusammensetzt, fehlt überraschenderweise
gerade das Stichwort, das man eigentlich vor allen anderen erwartet
hatte, an prominenter Stelle und dick unterstrichen. Die Bezeichnung
Künstler nämlich. Und das hat seinen Grund.
Er besitzt ein höchst ausgeprägtes künstlerisches Bewußtsein und sein
Handein ist ganz entschieden auf Kunst ausgerichtet, auf eine Kunst
allerdings, die er als eine spezifisch menschliche, auf die Mitteilung
persönlicher Erfahrung bezogene Tätigkeit versteht. Hinter allem, das
der Künstler Pino Poggi tut, steht Pino Poggi, der Mensch, Familienvater,
Staatsbürger und Aufklärer – gerade deswegen definiert sich seine Kunst
nicht allein durch ihre Ergebnisse, sondern ebenso durch die Person,
die diese zu verantworten hat.
Auch er ist eingebunden in die sozialen Zustände und die politischen
Vorgange, die er reflektiert. Schon aus diesem Grund ist seine künstlerische
Praxis nicht unabhängig von seiner Alltagserfahrung. Er verbindet Kunst
und Leben allerdings nicht mit einem Gleichheitszeichen, sondern betrachtet
den Zusammenhang beider als eine Form der Interaktion; sie sind für
ihn kommunizierende Gefäße.
Sein Lebensentwurf und sein Kunstentwurf lassen sich daher nicht voneinander
trennen: Er ist ein von der gesellschaftlichen Realität Betroffener
und reagiert auf seine Betroffenheit mit Kunst. Und die ist, geprägt
vom eigenen emotionalen und rationalen Verhalten zur Welt, unverkennbar
individuell, keineswegs jedoch privat. Es geht ihm nämlich nicht um
Selbstverwirklichung in Werken, die Autonomie beanspruchen, er formuliert,
stellvertretend für die Öffentlichkeit, an die er sich wendet, Konzepte
für die Orientierung in einer immer enger vernetzten, zunehmend als
fremd und sogar bedrohlich erlebten Wirklichkeit.
Er bewegt sich mit allen anderen im Labyrinth, halt dabei aber einen
Ariadnefaden in der Hand. Ein Privileg, das er vergesellschaftet, weil
er es für die Aufgabe des Künstlers halt, nützlich zu sein, und für
seine Pflicht, sich nützlich zu machen. Das heißt nun nicht, daß er
sich für opportunistische Zwecke einspannen oder für ideologische Absichten
mißbrauchen läßt. Ganz im Gegenteil. Wenn Poggi sein künstlerisches
Tun als ein im sozio-kulturellen und politischen Kontext nützliches
Handein versteht, dann hat er dabei gerade nicht die Komplizenschaft
mit den bestehenden Verhältnissen im Sinn. Die Nützlichkeit seiner Kunst
erweist sich erst in der Opposition.
Es ist kein Zufall, daß Pino Poggi Mitte der 60er Jahre, in der Zeit
also, in der er anfing, sich mit Utopien zu beschäftigen, auch seine
Kunst neu definiert hat. Er nannte sie Arte Utile (abgekürzt AU), nützliche
Kunst, und ordnete sie einer Avanguardia Utile, einer nützlichen Avantgarde,
zu. Der Utopist und der Utilist operierten von nun an gemeinsam. Die
Ideen, die der eine prospektiv, mit dem Blick auf die Zukunft, entwickelte,
konkretisierte der andere aus der Perspektive der Gegenwart in Entwürfen
mit unverkennbar aktuellen Bezügen. Pino Poggis Vorschläge zur Neuverteilung
der urbanen Funktionen in seiner Heimatstadt Genua, seine Überlegungen
zur industriellen und kulturellen Umgestaltung Europas unter klimatischen
Leitvorstellungen oder seine Pläne für neue Städte in Form von integrierten
Wohn- und Dienstleistungssystemen (und nach Ökologischen Gesichtspunkten)
– alle diese Gedankenspiele weisen nur scheinbar voraus auf ein schöneres
Morgen, sie verweisen in Wirklichkeit zurück auf die Mangel im Heutigen.
In den futurologischen Projekten präsentiert sich die Kritik an der
Gegenwart im Gewande von Utopien, die mögliche Horizonte aufzeigen und
eben dadurch eine Herausforderung an eingefahrene Denk- und Verhaltensmuster
darstellen. Das Utopische ist dabei Verlockung und Falle zugleich -
die Phantasie tummelt sich im lrgendwann und lrgendwo, wird dann aber
doch, sobald der Abstand zum Hier und Jetzt erkannt wird, unversehens
in die Wirklichkeit zuruckgeholt. Poggis Strategie zielt auf diese Ruckkoppelung
der Utopie an die Realität, denn auf diese Weise gibt das Wolkenkuckucksheim
sich als Projektion unbefriedigter Wünsche zu erkennen. Er hat die futurologischen
Studien mit großem Ernst betrieben und sie bis zu einem Punkt geführt,
an dem deutlich wurde, daß hinter der Architekturutopie eine soziale
Utopie stand, die wiederum sein Konzept einer nützlichen Kunst ganz
wesentlich bestimmt hat.
AU ist nicht für etwas brauchbar, man kann damit nicht die Wände tapezieren
(allenfalls die des Bewußtseins), sie richtet sich auch nur nebenher
gegen das mit einem romantischen Begriff des Schonen verknüpfte Programm
einer Kunst als Selbstzweck und halt Distanz zu einer platten Produktionsästhetik.
AU dient hauptsachlich einer Aufgabe, die der Kunst nach dem Versagen
anderer Instanzen notwendigerweise zufiel: »Die Arte Utile«, heißt es
in einem Manifest aus dem Jahr 1965, »wird vor allem helfen, die Probleme
der Gesellschaft, in der sie existiert, klar zu erkennen und wird nach
Möglichkeit dafür auch Losungen anbieten.«
Einer Kunst, die derart explizit auf das soziale Umfeld ausgerichtet
ist, genügt das Museum nicht. lhr Wirkungsbereich ist der öffentliche
Raum schlechthin, sie geht auf die Straßen und Plätze, jeder Ort, an
dem ein Gemeinschaftserlebnis sich einstellt, ist ihr recht - so durchbricht
sie einen Augenblick lang die isolierenden Schranken, welche die arbeitsteilige
Gesellschaft zwischen den Menschen errichtet hat. Sie begnügt sich auch
nicht mit dem Betrachter, sondern fordert den Benutzer, der im direkten
Umgang mit der AU seine verschütteten kreativen Fähigkeiten wenigstens
ahnungsweise wiederentdeckt, ohne deswegen gleich zum Künstler zu werden.
AU operiert mit einem offenen Begriff des Kunstwerks, der nicht ausschließt,
daß der Entstehungsprozeß schon die Sache selbst ist, und der miteinschließt,
daß die Aktion zur Kristallisationsebene außerkünstlerischer Vorstellungen
wird. Es ist kein Unglück, wenn die AU gelegentlich die Grenzen zur
angewandten Soziologie überschreitet. Das ist miteingeplant und zeigt
die interdisziplinäre Dimension von Poggis alternativem Entwurf.
Mit der Entscheidung für die Utopie, die bestehende Widerspruche nicht
versöhnt, und für eine Kunst, die in einem aufklärerischen Sinne nützlich
ist, hat Pino Poggi auf den besonderen Status verzichtet, den unsere
Gesellschaft dem Künstler suggeriert. Er weigert sich, die ihm angebotene
Rolle des Sinnstifters anzunehmen, da er deren Alibifunktion durchschaut
hat. Er spielt nicht mit in einer Inszenierung, bei der der Künstler
auftritt als souveräner Schöpfer einer Welt, in der hinter der von Sachzwängen
deformierten Wirklichkeit die Illusion vom Reich der Freiheit aufscheint
und so das herrschende Sinndefizit verschleiert. Da übernimmt er lieber
den Part des Partisanen, der hinter den feindlichen Linien Sprengsatze
anbringt, die im Bewußtsein explodieren.
Im Lauf der Jahre hat Poggi im Kontakt mit dem Publikum erkannt, daß
er seine Utopie umbauen mußte, um eben dies zu erreichen. Die futurologischen
Projekte richteten sich an eine nicht genauer definierte Gruppe irgendwie
Interessierter, die in letzter Zeit entstandenen Entwürfe für Aktionsraume
wenden sich an den Einzelnen. Noch konnte er keinen der Entwurfe verwirklichen,
es gibt davon nur Modelle, die jedoch mit aller Klarheit zeigen, worauf
er hinaus will.
Die Utopie, wie er sie versteht: als cosa mentale, die im Kopf Dinge
in Gang setzt, und als Handlungsanweisung, bewegt sich nun parallel
zur Wirklichkeit. Sie benutzt den Erfahrungs- und Erlebnishorizont,
den der Adressat mitbringt, und setzt dabei auf den Schock der plötzlichen
und unerwarteten Begegnung mit einer fremden, auf den ersten Blick sogar
befremdenden Umgebung, in der man dann doch die eigene Situation wiedererkennt.
Vorausgesetzt, man ist bereit, sich ihr zu stellen.
Die Räume sind visuelle Metaphern für existentielle Situationen, Parabeln
auch, die vom Zustand des Menschen erzahlen. Die Raume funktionieren
auf zwei Ebenen, auf einer anschaulichen und auf einer reflektierenden.
Man betritt sie durch einen Eingang, der die Schwelle zwischen dem Alltag
und einem Bereich gesteigerter Empfindungen markiert. Dahinter öffnet
sich eine Inscape, eine innere Landschaft, die man nicht nur wahrnimmt,
sondern ganz konkret körperlich erfahrt. Der physische Kontakt wird
hier zu einem Mittel des Bewußtmachens, man ergreift einen Gegenstand
und begreift damit seinen Sinn in dieser Inszenierung.
Man bewegt sich nämlich in einem Buhnenbild, entworfen für ein Theater
des Bewußtwerdens, in dem der Zuschauer zum aktiven Teilnehmer wird.
Der Weg durch die mit Zeichen des Realen charakterisierten Schauplatze
ist eine Reise in das eigene Innere, auf der Suche nach Identität: Die
Spiegel, die in den Räumen immer wieder auftauchen, verweisen den, der
davorsteht, zurück auf sich selbst.
Der Künstler, der solche Raume baut, ist ein Verhaltensforscher, der
in wechselnden Versuchsanordnungen die Reaktionen auf diesen Erkenntnisprozeß
testet. Er ist ein Sozialtherapeut, der darauf setzt, daß die Verfremdung
der Wirklichkeitserfahrung auf den Zustand der Entfremdung des Menschen
von der Welt aufmerksam macht. Vor allem aber ist er ein pragmatischer
Visionär, der den realen Ort in einen symbolischen verwandelt, in dem
eine Ahnung von der Möglichkeit eines anderen Lebens deutlich wird.
Pino Poggi, der leidenschaftliche Genuese und Überzeugte Europäer,
hat den dubiosen Heiligenschein des autonomen Künstlers zuruckgewiesen,
er sieht sich lieber, in gut sokratischer Tradition, als Geburtshelfer
von Einsichten. Er arbeitet in der Gesellschaft und an deren Veränderung.
Veränderung des Bestehenden setzt allerdings ein Umdenken voraus - und
das beginnt bekanntlich im Kopf, in dem das antizipierende Bewußtsein,
das man braucht, entsteht. Pino Poggi besitzt die Fähigkeit, in konkreten
Utopien Dinge vorwegzunehmen. Darin, nicht zuletzt, erweist sich die
Nützlichkeit seiner Kunst.
gor