Peter F. Althaus
PINO POGGI ALS UTOPIST
Im Vorfeld der 68er Bewegung, so um 1965, begann sich Pino Poggi mit
Futurologie zu beschäftigen, in einer Phase also, in der sich alle Hoffnung
auf eine Neubesinnung, auf einen grundlegend demokratischen Neubeginn
nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig zerschlagen hatte und man sich
der Untauglichkeit der Siegermächte (vor allem der kapitalistischen
USA und des pseudosozialistischen Rußlands) als Vorbilder für ein vereinigtes
Europa auf breiter Basis bewußt geworden war - nicht zuletzt wegen der
Ungarnbesetzung und des entlarvenden Vietnamkrieges. Es war eine Zeit
manch großzugiger Utopien, in denen sich der Glaube an eine positive
Auswertung der scheinbar grenzenlosen technischen Möglichkeiten, der
Glaube an: »Alles ist machbar, was man sich erdenken kann« oder »Can
implies ought« widerspiegelte, der ja seinerseits - unter anderer Zielsetzung
– zur wirtschaftlich dominierten Expansionsideologie führte. In den
späten sechziger Jahren schien sich ein weltweites Umdenken anzudeuten,
das diese Utopien sogar in den Bereich des Realisierbaren rückte. Vor
allem schienen sie im Sinne Ernst Blochs einer neuen Hoffnung Form zu
verleihen und Energie zu liefern. Im anschließenden Jahrzehnt setzte
die Umkehr zur Resignation oder aber die Einsicht in die Notwendigkeit
einer mühsamen, manchmal auch kleinkarierten, langfristigen Basisarbeit
oder zum »Marsch durch die lnstitutionen« ein.
In diesen rund zehn Jahren - ich habe versucht sie natürlich nur unter
dem Aspekt »Utopie« zu skizzieren - arbeitete auch Pino Poggi an, wie
er sagt, »futurologischen« Entwürfen. Eine gewisse Legitimation, sein
diesbezügliches Schaffen kritisch zu betrachten, gibt mir der Umstand,
daß ich selber aus vergleichbaren Motiven an vergleichbaren Konzepten
arbeitete.
Die Voraussetzungen
Die wichtigste Motivation zur Beschäftigung mit Utopien ist natürlich
im Unbehagen an der herrschenden politischen und gesellschaftlichen
Situation zu finden. Die Einsicht in die Notwendigkeit und die Ahnung
von einer weltweiten Solidarität, das »Mitdenken des anderen im eigenen
Lebens- und Arbeitsentwurf« wurden immer unvereinbarer mit der gleichzeitig
- vor allem im Zwischenmenschlichen und in der umweltbelastenden Ausbeutung
- immer rucksichtsloser werdenden Wachstums- und Expansionspolitik in
allen von der Wirtschaft bestimmten individuellen und sozialen Lebensbereichen.
Das war ein erfahrbarer Druck, nicht nur ein ideologisch konstruierter,
gerade weil er in eine Zeit des Wohlstandes und der intensiven Unternehmertätigkeit
fiel. Erfahrbar für jedermann beispielsweise im Bilde der insgesamt
planlosen, nach materiellen Kräfteverhältnissen akzentuierten Zersiedelung
der Landschaft durch beliebige Einzelhäuser, minimalisierte Sozialkasernen
und überdimensionierte Verkehrswege. Der Verkehr hatte bei allen Planungen
Priorität, wobei man die zunehmende und dem einzelnen immer naherruckende
totale Verwaltung des Menschen mit optimierter Kommunikation kompensieren
zu können glaubte, ihn jedenfalls mit solchen Versprechungen vertröstete.
Das alles auf Kosten der Natur und der Natürlichkeit; gerade das hat
den so bewußten Augenmenschen Poggi als einen Umweltschutzer avant la
lettre provoziert.
Interessanterweise vertrauten wir Utopisten fast alle in unserer Argumentation
weniger auf diese doch wahrhaft jedem zugänglichen visuellen Einsichten
als auf die rationale Extrapolation der Bevölkerungszahlen. In Poggis
Rechnung heißt das: Bis im Jahre 2500 hat sich die Bevölkerung der Erde
- also auf der gleichen Landflache – auf ca. 8000 Millionen vermehrt.
Wenn wir ein wenig Natur für Landwirtschaft und Erholung retten wollen,
bleibt nichts übrig, als den Luftraum (über schon bebautem Grund) und
bisher ungenutzte Landgebiete für Wohnung und Produktion zu nutzen.
Das heißt also: Verdichtung und naturökonomische (heute: ökologische)
Planung. Für Pino Poggi steht (lange vor der heute oft schon gefährlich
zur Mode verkommenden Umweltschutzideologie) die Regeneration der bedrohten
Natur im Vordergrund seiner Überlegungen.
Pino Poggis »Futurologie«
Pino Poggi ist Künstler in seiner Prägung, Sensibilität und Kreativität.
Als solcher ist er gewohnt, in Bildern zu denken. Zwischen Wahrnehmung
und von ihr ausgelosten Gedanken braucht er keinen eigentlichen Übersetzungsprozess
ein zuschalten. Sein Gedanke ist gleichzeitig Bild, in dem ihm ein Problem
erscheint, ihn fesselt, und dem er sich sogleich zuwendet.
Mit Leichtigkeit können Spezialisten oder wissenschaftliche Futurologen
Pino Poggi einige Ungereimtheiten (etwa in bezug auf Energie u. a.)
nachweisen. Pino Poggis Ziel oder besser der Sinn seiner Arbeit ist
freilich der Denkanstoß oder - wie wir einst noch unbelastet sagen durften
- die Bewusstseinsforderung eines nicht spezialisierten Publikums mittels
einer Ästhetik, die Fragen stellt, die Dringlichkeit dieser Fragen angesichts
der selbstmörderischen Tendenzen der gegenwärtigen Entwicklung und die
Notwendigkeit eines radikalen, also bei der Wurzel angreifenden Umdenkens
eindringlich vermittelt.
Nochmals: Pino Poggi ist Künstler; die »soziale Ästhetik« seiner Arte
Utile bedeutet keine soziologisch begründete Erscheinung, sondern Ausdruck
sozialen Empfindens und Denkens. Wichtig sind Intuition, Intensität,
Radikalitat und Kommunizierbarkeit. Letzteres ist m. E. seine ganz besondere
Starke gegenüber vergleichbar schaffenden Künstlern; Pino Poggi baut
sich nicht seine eigene individuelle Mythologie, er lebt in unserer
Welt und spricht zu seinen Zeitgenossen, druckt sich in vertrauten,
alien erreichbaren Bildern und Satzen aus - er will klaren, nicht verschleiern.
So verstehe ich seine soziale Ästhetik und seine Entwicklung, die ihn
nach der Beschäftigung mit der Utopie konsequent zur Straßenaktion geführt
hat.
Pino Poggi ist aber auch insofern Künstler, als er sich mit seiner
Vision und seinem Ausdruck unmittelbar identifiziert und seine Vitalitat
und Intensität nicht zugunsten einer wissenschaftlichen Absicherung
aufs Spiel setzen will. Die Informationen, die er in seiner Argumentation
verarbeitet, sind jene, die ihm im Alltag begegnen, die also allen begegnen
können, welche sich ebenso wach, bewußt und kommunikationsbereit verhalten.
Daraus entsteht - übrigens nicht nur bei ihm - eine Diskrepanz zwischen
seiner Forderung nach Demokratie und dem selbstbewußten, ja autoritären
Ausdruck und Anspruch seiner Entwurfe. Man muß jedoch festhalten, daß
die begleitenden Texte - natürlich in seiner Muttersprache - sehr wohl
den Entwurfs- und Vorschlagcharakter und die Subjektivität seiner futurologischen
Methode betonen. Die Autorität erweist sich denn auch in der direkten
Kommunikation als Bedürfnis nach klärender Abgrenzung, nach unzweideutiger
Konfrontation und vielleicht auch als Schutz einer großen Sensibilität
und keineswegs als Machtanspruch. Auch deshalb ist Poggi bei aller Sehnsucht
nach Austausch letztlich allein. Er weiß, daß er in seinem Schaffen
allein sein muß, auch wenn er sich mit Aufgaben beschäftigt, die - wie
er selbst natürlich fordert - nur im interdisziplinären Team zu bewältigen
sind.
Ich selbst komme immer wieder in Versuchung, die futurologischen Arbeiten
Pino Poggis als ausgearbeitete Projekte anzunehmen und auf ihre Realisierbarkeit
zu untersuchen. Deshalb habe ich oben mehrmals betont, daß ich ihn als
Künstler betrachte; nicht um seine Arbeit zu relativeren, sondern um
ihr nichts von ihrer Ganzheitlichkeit zu nehmen. Dazu kommt etwas, das
sich ausnahmsweise durch eine Kategorisierung am präzisesten und im
richtigen Umfeld darstellen laßt: Pino Poggi ist Konzeptkünstler. Das
heißt seine Werke entstehen im »Kopf des Betrachters«. Erst die wahrnehmende
und intellektuelle Verarbeitung durch den betroffenen und beteiligten
Betrachter vollendet das Werk. Dessen Mitarbeit ist nicht nur erwünscht,
sie ist unverzichtbar. Ein wesentlicher Aspekt der künstlerischen Zielsetzung
ist also gerade dieses »Treffen« und sich »Beteiligen«! Die Skizze und
der beigeschriebene Text vermitteln Impuls und Richtung, treiben die
Vorstellungskräfte zu emotionalen und intellektuellen Reaktionen. »Live
in your hand« war der Untertitel von Harald Szeemanns denkwürdiger Konzeptausstellung
1969. Im Umgang mit Pino Poggis Werken ist daran zu denken - auch bei
städtebaulichen und architektonischen Entwürfen. Deutlich wird das auch
in der Einheit von Wort und Zeichnung auf den entsprechenden Blattern,
denn gewisse Forderungen werden - sozusagen als Motto - permanent wiederholt.
Ich werde versuchen, dieses Insistieren auch in meinen Beschreibungen
spürbar werden zu lassen.
Der Künstler benötigt und benutzt seine Utopien als gelenkten Motor,
der Energie liefert und die Richtung beibehält. Dadurch erhält er den
Freiraum, sich um so intensiver seinem kreativen Bedürfnis hinzugeben
und es nicht von Zweifein und kleinlicher Kritik verunsichern oder hemmen
zu lassen. Arte Utile - das ist nützliche Kunst oder Kunst mit Gebrauchs-,
nicht Tauschwert. Diese persönlichen Reflexionen zu seinen Arbeiter
wollte ich dem Eingehen auf einzelne Bilder seiner utopischen Vision,
seines »Paradieses« - er selbst gebraucht diesen Begriff-vorausschicken.
Die Menschen, die seine Welt bevölkern sollen sind nicht wir, sondern
Menschen, die Solidarität als Voraussetzung zum Überleben nicht nur
eingesehen, sondern schon internalisiert haben.
Schizzi studio per sopravvivere (1966/67)
Genua soll überleben
Die frühesten mir bekannten Entwurfe städtebaulich utopischer Art betreffen
die Stadt Genua. Pino Poggi ist gebbürtiger Genuese, spricht ligurisch
und ist dort zum politisch und gesellschaftlich bewußten Künstler geworden.
Ich stelle mir vor, wie Pino Poggi unter dem heute unübersichtlichen
Gemenge dieser lebendigen und etwas chaotischen Stadt die Urlandschaft
erspurt, wie er sie befreien und neu ordnen will.
Primär beschäftigt ihn das Verschwinden des natürlichen, fruchtbaren
Bodens und die lebensbedrohende Verschmutzung von Luft und Wasser. Mit
einer großzugigen Geste räumt er das Küstengebiet aus, verlagert und
konzentriert das Wohnen und Arbeiten in die steilen Sudhange der Seealpen:
»Schizzi studio per sopravvivere« oder sogar »per la sopravvivenza«
(Skizzen - Studien zum Überleben). Instinktiv vollzieht er Funktionentrennung,
vor allem aus ökologischen Erwagungen. Seine Bezirke sind aufgeteilt
nach Verschmutzungsgrad; sie betreffen Wohnen (mit Kindergarten, Einkauf
u. a.), Schulen und Büro-Zonen (Universität, Geschäfte, »saubere Gewerbe«),
Industrie (nach Emissionsmenge eingeteilt) und Vegetation (Erholung,
Spiel in Wäldern und Parks, Landwirtschaft), die citta vecchia, den
historischen Stadtkern als Museumsbereich (!) und den Verkehr. Eine
besonders wichtige Rolle spielen die Krankenhäuser, die sich - in späteren
Skizzen noch deutlicher – als selbständiger Hauptkomplex zwischen Industrie
und Wohnzonen ansiedein. Das wird zu einem der Prinzipien in Poggis
Planen.
Wer sich in der Architekturgeschichte auskennt, wird gewisse Parallelen
zu den fortschrittlichen Städtebautheorien der ersten Jahrzehnte unseres
Jahrhunderts feststellen, die Pino Poggi nachweislich nicht kannte.
Ich denke etwa an die Wiederaufnahme der ursprünglich aus England stammenden
Gartenstadtideologie (Aussiedlung aus den erstickenden Arbeitszonen
der Industrie und Geschäftsquartiere ins Grüne) oder an die ClAM-Theorie
der frühen dreißiger Jahre, in der die Funktionentrennung (Wohnen -
Arbeiten - Erholen) vorgeschlagen wird.
Europa anno 2500 (1966-1972)
Die Umordnung Europas
Ende der sechziger Jahre wurde sich Pino Poggi - wie er heute erzählt
- der Kleinheit und Besonderheit seines Untersuchungsfeldes Genua bewußt.
Gleichzeitig mit den längeren Aufenthalten in Slowenien und vor allem
in Deutschland (Frankfurt) weitete sich seine Sicht auf den gesamten
europäischen Raum aus. In den neuen Skizzen zeichnet sich eine radikale
Neuorganisation ab, wie sie vielleicht nur ein Italiener in Deutschland
aus dem persönlichen Erleben entwickeln konnte.
Das Kriterium ist das Klima, das im Norden fleißige, isolierte und
im Suden spielerische und kommunikationsfreudige Menschen formt. Demnach
ist der Norden das Gebiet der Arbeit: weniger Licht, weniger Sonne und
Warme, weniger Spiel und Kommunikation, weniger Leben unter freiem Himmel.
Die Grenze entspricht ungefähr der Gebirgszone von den Westalpen bis
zum Balkan. Um große Zentren, an die sich jeweils im Suden große Vegetationszonen
(Naherholung) anschließen, ist die Industrie organisiert. Der Suden
ist dem Wohnen und der Erholung vorbehalten, vor allem längs der Meere
(Mittelmeer, Atlantik), wahrend im Landesinnern Wälder und Landwirtschaft
ihren Platz finden.
Natürlich sollen alle Europäer (die Staaten des real existierenden
Sozialismus sind bezeichnenderweise ausgeklammert) daran teilhaben;
zur Industriearbeit werden alle - im Wechsel von drei Monaten bis zu
drei Jahren - herangezogen. Das erinnert an das maoistische Modell,
das damals viele von uns faszinierte; unter anderem, weil dadurch starre
Betriebshierarchien vermieden werden konnten. Der gewaltige Verkehr
soll mittels Hochgeschwindigkeitszügen und Luftschiffen als den umweltschonendsten
Transportmitteln bewältigt werden.
»Europa anno 2500« heißt der Entwurf und auf jedem Blatt steht wie
eine Beschwörungsformel: Anno 2500 L’Europa (auf einern fruhen Blatt
noch: le nazione) e sopravvivissuta. Come ha fatto? . . . io penso cosi.
. . (Europa hat überlebt. Wie hat es das geschafft? . . . Ich denke
so. . .). Europa hat überlebt, obwohl seine Bevölkerung - das ist Poggis
Extrapolation - auf 600 Millionen angewachsen ist.
Weitere Skizzen variieren und differenzieren diese radikale Grundordnung;
der Grundgedanke der Aufteilung bleibt erhalten. Zum Beispiel konzentriert
sich die Industrie vor allem in den Zonen Nord- und Ostdeutschland,
England, Schottland, in der Mittelzone entstehen mächtige Kulturzentren,
und im südlichen Paradies verteilen sich kleinere Zentren (17 Städte).
In diesem lebensfreundlichen Gebiet sollen die neuen - d. h. uralten,
aber sozial bisher unwirksamen - Werte Vitalitat, Phantasie, Kreativität
und Sensibilität das Leben - auch bei relativ starker Verdichtung der
Wohnsituation - und die Interaktion bestimmen. Der Arbeitswechsel soll
der Dominanz der entfremdeten und entfremdenden mechanisierten Industriearbeit
mit der aus ihr geborenen Expansionsideologie entgegenwirken; offensichtlich
im Sinne einer Kompensation oder gar Selbsttherapie. Man konnte auch
an Habermas' »suspensive Muße« denken.
Darin liegt wohl der zentrale Ausdruck dieser Entwurfe: Mit planerischem,
auch planwirtschaftlichem Vorgehen hat sich Europa vom Zwang der aus
der kapitalistischen Wirtschaft entstandenen Expansion befreit und ist
nun bereit, aus sozialem Gemeinschaftssinn die Aufgaben und Freuden
des Lebens in akzeptierter gegenseitiger Abhängigkeit zu teilen. Ein
Paradies fürwahr, ein wirklich sozialistisches Paradies - die Verschmelzung
von sehr persönlichem Erleben, ideologischer Grundhaltung und großzugiger
Kreativität kommt hier eindringlich zur Anschauung.
Citta-grattacielo-casa (1967)
Sonne für alle
In anderen Studien richtet Pino Poggi sein Augenmerk auf die geplanten
Zentren, auf die Stadte selber. Schon von 1967 stammt offensichtlich
eine Demonstration, die in einer Folge von Fotografien und begleitenden,
verbalen Eriauterungen den Grundgedanken drastisch vermittelt: Pino
Poggi baut das Modell einer Stadt nach heute liblichem Muster. Auf beschrankter
Grundflache breiten sich Hauserreihen aus, ver dichten sich, bis dem
einzelnen Bewohner gerade noch 50cm2 grune Natur ubrigbieiben. Um sie
vor dem »Ersticken« zu retten, erscheinen auf den folgenden Bildern
zwei rettende Hande, die mit starker Geste die Hauser zu einern großen
Haufen zusammenschieben, um dem Boden, und damit der Natur, wieder Atemraum
zu schaffen. Der Trummerhaufen bleibt vorerst liegen, sozu sagen als
Bestrafung der Menschen, die als ein zige in diesern Maße umweltzerstorende
Wesen schuldig sind. Grunes wird angepflanzt, die Natur erholt sich.
SchlieBlich wird liber dem unfruchtbarsten, steinigsten Teil der Grundflache
auf moglichst kleinern GrundriB ein riesiger Wolkenkratzer, eine eigentliche
Wohnmaschine errichtet: Sie erscheint in einern Modell aus Plexiglas,
in dem Pino Poggis Bedurfnis nach Sonne und Durchlichtung zum Ausdruck
kommt. Ober die sich wieder ausbreitende Natur hebt ein vierkantiger
Turm eine Kugel in die Sonne.
Auch hier kann man sich an die Grundprinzipien erinnern, die im Stadtebaudiskurs
der dreißiger Jahre (etwa in Le Corbusiers Stadtvorstellungen) eine
große Rolle spielten: Verdichtung und Hochbau auf Stelzen (Piloti),
um allen Boden, Licht und Sonne zu garantieren. Entsprechende Phantasien
tauchen als Leitgedanke auch in vielen utopischen Architektur-Entwurfen
der Nachkriegszeit wieder auf - technologische Losung eines okologisch-gesellschaftlichen
Problems. Im wesentlichen aber geht es Pino Poggi um die Kommunikation,
die Bewußtmachung fr Nichtfachleute durch Veranschaulichung der bestehenden
Notlage, der zu erwartenden Konsequenzen bisheriger Entwicklung und
der Notwendigkeit radikaler Maßnahmen.
Der freistehende Wolkenkratzer bleibt ein Einzeiding. Intensiv beschaftigt
sich Pino Poggi nun mit der Organisation der von ihm vorgesehenen riesigen
Zentren. Auf- und Grundrisse untersuchen die selbstgestellte Aufgabe,
7 Millionen Einwohner auf ca. 680 km2 zu organisieren. Das funktionsteilige
Prinzip wird auch in dieser kleineren Dimension beibehalten; die Beschreibung
gibt Hinweise auf Pino Poggis Prioritaten: Im Sdosten die Wohngebiete
und Kindergarten, im Sudwesten das Zentmm fur Sport, Spiel, Unterhaltung
(Kinos); der Nordosten ist fur die Landwirtschaft vorgesehen und der
Nordwesten fur das Zentrum der Industrie, Geschafte u. a. Die Mitte
aber nehmen die sozialen Dienstleistungseinrichtungen ein, vor allem
Krankenhauser, Schulen, Universitaten. Dazwischen Walder und Parks.
Damit soil die verdichtete Großstadt einerseits konzentriert, gleichzeitig
aber auch aufgelockert, durchsonnt und schlieBlich durchwachsen werden.
Die gewaltigen Hochhauser sind selbstverstandlich mit komfortablen Dachgarten
ausgestattet.
Citta-montagna-casa (1967-1972)
Die Befreiung der Natur
Die Bedrohung der Natur lost offensichtlich das stärkste Unbehagen
des Künstlers aus. Er verzichtet bei seinen weiteren Studien auf den
realen Bezug zu Europa und verallgemeinert das Problem unter anderem
durch Entwicklungsdarstellungen, die erstmals eine geschichtliche Dimension
in die Diskussion bringen. Auch jetzt geht es nicht um die Wertung historisch
gewachsener Stadtgebilde oder Kulturlandschaften; immerhin wird der
vorhandene Zustand wahrgenommen, seine Entstehung analysiert und schrittweise
in ein Zukunftsbild transportiert. Für mich druckt sich die Eigenart
Pino Poggis vor allem darin aus, daß er dem voraussichtlichen (extrapolierten)
Zustand einen zweiten dialektisch gegenüberstellt, der aus einer vernünftigen
Entwicklung hatte entstehen können, und daß aus der Gegenüberstellung
er seine Losung ableitet. Sein Ansatz also heißt: Wie hatte es anders
werden können, wenn sich die Menschen der Gefahren bewußt gewesen waren?
Ausgehend von einer intakten Landschaft mit Bergen, Flüssen und Wäldern
zeigt er in aufeinanderfolgenden Blattern, wie die Städte gerade in
den Talern, in den fruchtbarsten Gegenden entstehen und daß bei jeder
Erweiterung kostbare Natur verloren geht. Wie die Stadt allmählich mit
anderen zusammenwachst und nur die unfruchtbaren Berge übrigblieiben:
»Welch ein Fortschritt! Wo ist das kultivierbare Land, wo sind die Wälder?
Wenn wir so weitermachen – wo können wir noch leben?« Das Gegenbild
stellt die jungfrauliche Natur wieder her: Über den steinigen Bergen
wuchert die citta-montagna-casa, die Stadt der Berghäuser. Die Mutter
Erde ist gerettet. Die Natur (Wälder, Felder, Acker) kann wieder Fuß
fassen in der Ebene, die nur von den Schnellbahnsystemen durchschnitten
wird. Pino Poggi schlägt eine Sanierung vor: In 20 bis 25 Jahren soll
sich dieser Prozeß der Regenerierung abspielen. Als erstes aber müssen
die Taler geleert, die Berge besetzt werden. Den naturfeindlichen (»muttermörderischen«)
Talstädten (citta-val-lata-casa) wird die Bergstadt (citta-montagna-casa)
konfrontiert, der ideell geretteten Natur durch die (väterliche) Stutze
und Struktur ein erträglicher, menschlicher Lebensbereich integriert.
Grundforderung für diese Wohnzone ist die Gleichwertigkeit aller Wohneinheiten
als demokratisches Prinzip, als Ausdruck der erträumten klassenlosen
Gesellschaft; gleichwertig in Bezug auf Licht, Raum und Ausbau. Schon
diese Vorbedingung, optimale Verdichtung bei optimaler Belichtung, stellt
schwierige Probleme, gibt aber gerade deshalb Pino Poggi den Anreiz
zur Entwicklung seiner case tubo. Auf den ersten Skizzen wirken die
den Bergkuppen aufgelegten Bauteile wie durchlöcherte, amorphe Massen
(die sogar an Schweizer Käse erinnern). Dann entwickelt der Entwerfer
eine Terrassengliederung, wobei den Wohnebenen jeweils 1000 Meter breite
Parkzonen auf den Dächern der darunterliegenden Bauten zugewiesen werden
können. Schließlich entwickelt er die Idee, das Licht mittels riesiger
Röhren (tubi) ins Innere der Baumassen zu leiten. Dichte erreicht er
jetzt durch eine geometrische Struktur des Grundrisses: Auf einem ber
Eck gestellten Quadratraster werden einerseits die Schnittpunkte als
vierkantige Turme und andererseits die den einzelnen Quadraten eingeschriebenen
Kreise als Zylinder hochgezogen. Die Hohe kann somit variiert werden,
was erlaubt, die sich über die Berge legende »Bergkruste« dem Gratprofil
anzupassen, sie formal als variabel und lebendig erscheinen zu lassen.
Daß die natürliche Silhouette sehr massiv verändert wird, nimmt Pino
Poggi in Kauf.
Jede zweite Röhre denkt sich der Autor als tubo luce, als röhrenförmigen
Lichtschacht, wobei er durch Verspiegelung erreichen will, daß auch
in den untersten Zonen - wenigstens durch Reflexwirkung - natürliches
Sonnenlicht und der Ablauf der Tageszeiten erlebt werden können. Im
Zentrum der zitadellenartigen Hugelstädte, also auf deren höchstem Punkt,
sieht Pino Poggi riesige Zisternen vor, die Regenwasser und – der durch
die Aufbauten noch gesteigerten Hohe entsprechend - Schmelzwasser sammeln
und verteilen.
Ein kleiner Exkurs: Gebraucht man im Zusammenhang mit Wasser nicht
den Begriff »speisen«? Wenn ich die Zeichnungen betrachte – meist scheinen
in diesem Zentralbereich auch alle Küchen angesiedelt zu sein - kommt
auch von dieser Seite die schon einmal angedeutete Assoziation an einen
Ausgleich zwischen dem zentralen, nährenden (mütterlichen) und dem stutzenden
und schützenden (väterlichen) Prinzip auf, der für Pino Poggi eine große,
vielleicht unbewußte Bedeutung zu haben scheint.
Unterhalb der Bergstadt wird das reine und das gereinigte Wasser in
die vorhandenen Bach- und Flußbetten geleitet.
Das wabenähnliche Muster des Grundrisses fasziniert den Künstler. Er
erlebt die beiden Grundelemente seines Systems: Kreis und Quadrat. Das
erste steht abwechselnd für Licht oder Wohnung. Die umschließenden Quadrate
bezeichnen die Verkehrszonen, die an ihren Kreuzungsstellen zu oktogonalen
Knoten ausgebaut sind. Die an die Wohnrohren anschließenden Teile enthalten
abwechselnd Eingangspartien oder nur von innen zugängliche Privatraume;
die an die Lichtzylinder angeschlossenen sind den Nottreppen, Warenliften
oder öffentlichen Dienstleistungsorten (z. B. Telefon) vorbehalten.
In den Verbindungsgängen, die ja stets an einer Seite an den Lichtrohren
entlang fuhren, denkt sich Pino Poggi halbprivate Kommunikationszonen
und - wohl in Reaktion auf die Dominanz des Kunstchen in dieser Wohnmaschinerie
- auf jedem dritten Geschoß die ganze Flache beanspruchende Parkanlagen,
sozusagen hangende Garten. Die Knotenpunkte wiederum, als massive vierteilige
Kerne ausgebildet, ergeben das Tragsystem der Bauten; bei einer Weiterbearbeitung
erkennt der Entwerfer, daß sie sich auch für die statischen Funktionen
des Wohnbereichs, also Naßzellen, Küche, Schlafzellen anbieten. Somit
gliedert er sein System, indem er die engen Kreuzungstellen (mit den
nach außen geschlossenen, nach innen gerichteten Wohnteilen) mit erweiterten
Platzen (bei den Eingängen und Vertikalerschließungen) abwechselt, die
wiederum Kommunikation anbietenden Charakter haben.
Die letzten Bearbeitungen betreffen den Ausbau der Wohnbereiche (appartimenti).
Es taucht - wie in Reaktion auf das statische Gerüst – das Prinzip der
Variabilität auf, was doch bedeutet, daß auch innerhalb der ordnenden
und schützenden demokratischen Struktur ein Ausdruck gesucht wird für
die Autonomie, das Identifikationsbedürfnis des einzelnen. Symbolisiert
wird es durch die Ausbildung der Innenwände des Wohnzylinders als um
die Mittelachse drehbare Flügel. Je nach Bedürfnis können also kleine
oder größere Raumteile (Kreissektoren im Grundriß) durch eine Drehbewegung
hergestellt werden. Alle feststehenden Funktionen (Schlafen, Waschen,
Kochen u. a.) werden in die feste Ringzone und die Ecken des vierkantigen
Turms verlegt - der Innenzylinder bleibt frei, damit die Wände individuell
bewegt werden können. Das Problem der Möblierung löst Pino Poggi, indem
er die Geschoßhohe so dimensioniert, daß über und unter der Wohnebene
Stauraume freibleiben: Die benötigten Einrichtungsgegenstande können
nach Belieben von der Decke oder aus den Bodenöffnungen in den Raum
gestellt werden. Auch für diese natürlich optimal leichten Möbel entwickelt
der Kopf- und Hand-Werker Pino Poggi bis ins Detail gehende Vorstellungen.
Je begrenzter das Problem wird, um so mehr spurt er offensichtlich die
Herausforderung des Realisierbaren: Der Bett-Tisch aus Plexiglas ist
auf Luftballons gelagert. Der tragbare Partytisch erinnert an einen
Bauchladen. Und der Vorhang für den als angeschnittener Kreis ausgebildeten
Wohneingang besteht aus hangenden, farbigen Schnuren, die in einer drehbaren
Fassung laufen. Je nach Stimmung und Bedürfnis kann der Bewohner also
die Farbe andern und sich dadurch auch den Eintretenden mitteilen!
Der Verzicht auf eine feste Tür ist nochmals der Hinweis auf die neuen
Werte dieser neuen Gesellschaft, die Pino Poggis Stadtberg bevölkert
und sich darin mindestens so »natürlich« verhalten kann wie Ameisen
in ihrem Hügel.
Citta-olimpiastadio 2000 (1967-72)
Architektur als sozialer Lernraum
In der Zeit des erhofften Aufbruchs war die 1972 in München als Spiele
der Freude und des Friedens mit ungeheurem materiellem Aufwand und ideellem
Anspruch inszenierte Olympiade natürlich eine gewaltige Provokation:
Der Welt wurde eine Harmonie vorgespielt, in der die von der evolutionierenden
Jugend verhaßten Ideale wie Nationalismus, Rekordleistung, Prestige,
Elite denken etc. Hoch-Zeit feierten. Für Pino Poggi war - wie für viele
unserer Generation – der Gedanke an das »hochstilisierte Ritual kollektiver
Verdrängung« (Zitat aus seinem Manifest) geradezu unerträglich. Er antwortete
mit einem Gegenvorschlag zu den großzugig geplanten Münchner Olympiabauten,
in dem noch einmal deutlich wird, als was seine architektonischen Vorstellungen
zu begreifen sind: als »verhaltensorientierte gesellschaftliche Lebenssituationen,
die den Erwachsenen soziale Lernprozesse ermöglichen«. Sein mit Mitarbeitern
(Gruneisi und Wittkopp) entwickeltes Projekt - für einmal ist AU wirklich
eine Arbeitsgemeinschaft, die an futurologischen Problemen arbeitet!
- wird als Modell ausgeführt und im Begleittext beschrieben: Vier Ebenen
der gleichen Grundflache sind übereinander gestaffelt. Der Rest des
Areals bleibt natürlich begrünte Freiflache. Nach außen hin werden die
Wohnungen angelegt, nach innen kommen die Dienstleistungen. Der Text
legt großen Wert auf die soziale Durchmischung sowohl in bezug auf Generationen
wie auf die Funktionen (hier sind natürlich Industrie und Verkehr ausgeklammert).
Überschaubarkeit, der Ausgleich von Öffentlichkeit und privatem Ruckzugsbereich
und die erst von den Nutzern zu erarbeitende Funktionsverteilung - das
sind Aspekte, die sich hier erstmals im Werke Pino Poggis so ausdrücklich
manifestieren. Auf dem riesigen, sich der Sonne öffnenden Dach sind
die Stadien und Sportplatze angelegt, die selbstverständlich auch für
andere kulturelle Veranstaltungen brauchbar sein müssen. In seiner formalen
Ausbildung als eleganter Pyramidenstumpf mit weitschwingenden Licht-
und Durchlüftungsschlitzen und ausladenden Dachflugein ist das Modell
gar nicht so weit von Behnischs Olympiazeitarchitektur entfernt. In
bezug auf Landbelegung und sozialen Wert ist es aber ungleich Ökonomischer
als das erstellte massive, grobschlächtige Olympiadorf und die auswuchernden
Sportanlagen auf dem Münchner Gelände.
Von der Zukunft zur Gegenwart
Was sich aus Pino Poggis Schaffen übertragt, sind vor allem die Vitalitat
und Intensität seiner Person, sein Wille, vor den ungeheuer großen und
komplexen Problemen unserer Zeit nicht zu kapitulieren, sondern sie
zusammen mit anderen Einsichtigen hartnackig immer wieder anzugehen.
Dazu sind Utopien unerläßlich; vielleicht vor allem als Impulse, die
in kleiner dimensionierten Projekten nachwirken können. Im Grunde stellen
Pino Poggis futurologische Entwurfe das gleiche dar, was sich in seinem
späteren Schaffen in Aktionen, Environments, Modellen ausdruckt: Situationen,
die den »Benutzern« seiner Arte Utile helfen; sie dazu bringen, sich
ihrer Lage zwischen Manipulation, Verwaltung und Autonomie einerseits
und ihrer Wunsche und Bedürfnisse im sozialen Bereich andererseits bewußt
zu werden und die eigene Kreativität und eigenen Möglichkeiten im Leben
umzusetzen. Vom Mittel der politischen Aufklarung wird seine Arte Utile
allmählich zum Mittel der Selbstfindung - nicht weniger politisch natürlich.
Der Künstler Pino Poggi fand und formulierte (Vor-)Bilder einer neuen
Welt: In ihrem Dilemma zwischen Konkurrenz (gleiche Lebensbedingungen,
gleiche Wunsche in steigender Zahl bei gleichbleibendem Angebot) und
Kooperation haben sich die Menschen idealistisch zugunsten der letztgenannten
entschieden.
In einer ersten Phase hat man versucht, auf die großen Probleme mit
großen Entwürfen zu antworten; in der Folge tauchte die Frage der angemessenen
Dimensionierung auf; angemessen dem menschlichen Fassungsvermögen, der
menschlichen Reichweite. Werte wie Beteiligung, Orientierung, Unmittelbarkeit,
Überschaubarkeit verfeinerten die Losungsvorstellungen.
Pino Poggi, in seinem Ausdruck und seiner Lebenshaltung Ökologe aus
einer sehr direkten, sehr sinnlichen Beziehung zu den das Universum
bis ins Mikroskopische bestimmenden biologischen Kreislaufen, scheint
zu erkennen, daß das Aufspuren dieses Gebundenseins im einzelnen, der
ganz persönliche Bezug eines jeden zum gemeinsamen Urgrund allen Wesens
Vorbedingung zu den ersehnten Einsichten in die großen Zusammenhange
und die deshalb notwendige Solidarität ist. Vielleicht ist das die Aufgabe
des Künstlers: exemplarisch zu sein und sich in diesem Sein zu manifestieren.
gor