Manfred Schneckenburger
PINO POGGIS EXEMPLARISCHER WEG
Die Versuchung liegt nahe, bei dem großen Kommunikator zu beginnen,
der vom alten Schulbaus in Mitterfecking aus Arte Utile als einen Austausch
von Gedanken, Argumenten, Reaktionen praktiziert. Bei seiner reichen
Menschlichkeit, die wie selbstverständlich zum Gespräch als künstlerischer
Strategie hinfuhrt. Bei der Person, so daß ein Text über den Künstler
Poggi wie von selbst zu einer Freundschaftserklärung für Pino Poggi
wird.
Doch die Feststellung, daß Pino Poggi Kunst und Leben auf eigenwillige,
ganz authentische Weise zur Lebenskunst verknüpft, weicht einer wirklichen
Ortung eher aus. Der Ruckblick auf seine Biographie, auf ein Vierteljahrhundert
Skulpturen, Designentwurfe, Architekturutopien, Aktionen, Environments
(um nur die wichtigsten Stichworte für den Radius dieses spatgeborenen
uomo universale zu nennen) drangt noch einen anderen Einstieg auf. Nicht
über die Person, sondern über die Kunstgeschichte. Nicht über den Freund,
sondern über den Zeitgenossen. Nicht über meine Begegnung mit Pino Poggi,
sondern über seine Begegnung mit der Zeit.
Seit einem guten Jahrhundert läuft die Kunstgeschichte zweigleisig
ab. Auf der einen Seite kristallisiert sie immer reiner ihre Gattungen
aus, engt sich immer mehr auf sich selber ein, bis ein Bild schließlich
nur noch seine eigenen Sprachmittel präsentiert. Der amerikanische Kritiker
Clement Greenberg errichtet darauf ein ganzes Dogma, das den “Modernismus”
kanonisiert. Auf der anderen Seite regeneriert die Kunst sich ständig
aus der Öffnung in die Nicht-Kunst, die häufig (als Klischee wie als
Mythos) “Leben” heißt - eine Bandbreite vom kulturkritischen Zynismus
Duchamps bis zum revolutionären Elan der konstruktivistischen Utopie.
Peter Bürger hat diese “selbstkritischen vorstoße der Institution Kunst”
in Richtung Lebenspraxis zu einer regelrechten Theorie der Avantgarde
im 20. Jahrhundert ausgebaut.
Auf dem ersten Strang erwuchs in den zuruckliegenden drei Jahrzehnten
eine radikale Introspektion der Kunst, auf dem zweiten eine immense
morphologische Expansion in immer neue Medien, Materialien, Attitüden,
bis bin zur Identitätskrise des “Werks”. Wo Poggi steht, bedarf es keiner
langen Sophisterei. Sein Beitrag zur Offensive, die von der Kunst in
das Leben fuhrt, ist ebenso exemplarisch wie individuell. Poggi verließ
schon Mitte der 60er Jahre die Sicherheit seiner traditionellen Ausbildung
und stürzte sich, Vorstoß für Vorstoß, ins Abenteuer der modernen Kunst.
Die Phasen seines Werks aktualisieren wie im Zeitraffer die Stufen des
großen Vereinigungsversuchs, den die Kunst im 20. Jahrhundert mit dem
Leben unternahm. Sie konzentrieren in sich den Weg des Jahrhunderts
vom radikalen Geist der Utopie über den Reformgeist der kleinen Schritte
bis zu den mythischen Metaphern der Existenz.
Poggi beginnt, nach konventioneller Steinbildhauerei, mit einem fast
gewalttätigen Glauben an die Planbarkeit und Machbarkeit der Utopie.
Es wäre flach, zu sagen, daß er seit 1966 ein Pionier im Spannungsfeld
von Kunst und Umweltfragen war: Er verordnet der Welt Roßkuren wie ein
utopisierender Doktor Eisenbart. Er entwirft Projekte contra Naturverschwendung,
Zersiedelung, Verkehrsterror, Emission. Er verlegt, wie Bruno Taut in
den 20er Jahren, ganze Städte in steinige Gebirge und halt die Taler
frei für das Grün. Er radikalisiert die alte ClAM-ldee der Funktionstrennung
von Wohnung, Arbeit, Vergnügen und teilt nicht nur Städte, sondern das
gesamte Europa in Funktionszonen auf: den kälteren Norden für die Industrie,
den Üppigeren Süden für Erholung und Agrikultur. Er jagt überschnelle
Bahnen durch Europa, das zum Sandkasten schrumpft, und modelt ganze
Kontinente nach seiner Facon. Er türmt monströse Bienenwaben mit gleichen
Grundrissen, gleichem Anteil am Licht und deklariert damit die totale
Wohndemokratie. Er steigert den alten konstruktivistischen und expressionistischen
Glauben, daß ein neues Haus eine neue Gesellschaft erzwingt, bis zur
Megalomanie. Gewiß lag darin auch ein gutes Stuck Science-Fiction, das
weder die Vision noch die Praxis erreicht. Doch, wie auch immer: Der
junge Poggi glaubte, wie das junge Jahrhundert, an die Revolution des
Lebens durch die Kunst.
Die Wende von den vital zuversichtlichen 60er zu den reflektiv diskursiven
70er Jahren ist nicht nur bei den Studenten eine Wende von der Koketterie
mit einer (noch so illusionären) Revolte zur Reform. Von den Siebenmeilenstrategien
der Utopie zu den kleinen Schritten, die kontrollierbar sind. Bei Poggi:
von den ausschweifenden Monologen für die Zukunft zu einem permanenten
Dialog mit der Gegenwart. Vom Menschen im Jahr 2500 zum Lempartner hier
und jetzt. Von den spekulativen Höhenflügen zur Einlassung mit der Alltagswirklichkeit.
Von den Erlosungsrezepten für die ganze Gesellschaft zur Reaktion auf
jeden einzelnen, der sie trägt. Von Konzepten, die wie Athene in voller
Montur dem Haupt des Zeus entstiegen, zur Hebammenkunst des Sokrates,
die Schritt für Schritt Bewußtsein entbindet. Der generöse Futurologe
Poggi wird zum Taktiker des Gesprächs. Sein südliches Naturtalent für
Rhetorik und Disput machen ihn zu einem “Straßenhändler der Emanzipation”
(Glozer), der dem offenen Kunstbegriff der 70er Jahre eine eigene, ganz
den Menschen zugewandte Variante abgewinnt.
Poggi hat über Terrorismus, Lärm von Flugzeugen oder Altersangst diskutiert.
Er dokumentiert seine Diskussionen mit dem Fotoapparat, Tonbandgerät
oder mit der Videokamera. Er montierte, analysierte, interpretierte
diese Dokumentation, ließ sein Publikum (zu dem sich die Gesellschaft
nolens volens verengt) Kommentare und Korrekturen dazu schreiben und
diskutierte auf dieser neuen Stufe fort. Er legte selbstgeschmiedete
Ketten um seine Resultate und schloß sie in Kasten ein - Zeugnis für
unsere Isolation und Herausforderung, darüber hinauszugehen. Er fand
seinen eigenen Schnittpunkt zwischen Aktion, Animation, Sozialarbeit,
kreativer Pädagogik und künstlerischer Phantasie. Er verstand und versteht)
den Künstler als einen “sozialästhetischen Wissenschaftler”, der neue
Formen intellektueller, visueller Einsicht zutage fordert. Warum zögern,
dabei auch an die “soziale Plastik” von Joseph Beuys zu denken, der
in ähnlicher Weise Gespräch, Analyse, Argument zum Ausgangspunkt gesellschaftlicher
Mikroprozesse im Dienst der Utopie machte!
Das bedeutet nicht, dass Poggi das fest strukturierte Werk völlig durch
einen mentalen Prozeß ersetzt; daß die Dialektik von Kunst und Leben
sich zugunsten des Lebens auf lost. Immer wieder gibt Poggi eindrucksvolle
Situationen vor, in denen die Aktion mit einem Environment verschmilzt.
1979 zeigte er in der Ausstellung “Von der Freiheit des abhängigen Künstlers
oder von den Abhängigkeit des freien Künstlers” in der Münchner Galerie
Dany Keller und anschließend im Hamburger Kunstverein das Environment
“Ein AU-Prozeß, noch unberührt weiß, schwarz/wieß.“ Auf einem rechteckigen
weißen Laken standen, wie in einem Klassenraum, drei weiße Schultische
mit je zwei weißen Stühlen davor. An jedem Platz lag ein weißes Buch.
Tisch und Bücher waren gleich, nur die Stühle wiesen, wie ihre Benutzer,
Unterschiede auf. Die Bücher konnten, sollten vom Publikum fünf Tage
lang verändert und korrigiert werden. Das Ganze: ein Ort, an dem das
Leben zur Abbreviatur eines Schulzimmers gerann. Fünf Tage lang hinterließen
die Besucher beim Verändern der Bücher mehr und mehr Schmutz auf Laken,
Tisch, Stuhl. Mit fortschreitender Korrektur und wachsendem Schmutz
errichtete Poggi nach und nach einem Gitter um das Geviert: Er schloß
die Phasen in einem Erkenntnisprozeß wie eine Reliquie ein – auch Verschluß
und Versiegelung gehören zu den Grundmustern in seinem Werk. Verschweißte
Kasten, mit Stahlbändern verschnürte Buchpakete, zugekettete Behälter
stehen als ein hermetisches Resultat am Gegenpol zum offenen Status
nascendi der Kommunikation.
Seit 1970 gibt Poggi seinen Lernprozessen einen festen inszenatorischen
Rahmen vor. Er erfindet seine eigene Version des Environments zwischen
Lehrpfad, Stationendrama, Buhnenbild und symbolischer Situation. Er
legt Stufen der Bewußtmachung als eine Abfolge von Draußen und Drinnen,
Oben und Unten, Vorher und Nachher fest. Er schickt uns in klar gegliederten
Dreiaktern durch Mullberge der Zivilisation und verstrickt uns in Labyrinthe
aus Gummizügen oder Verspannungen von Tuch. Er baut tastbare Raume und
setzt sich selber als Tastobjekt gegen eine Apparatewelt, in der die
Körpererfahrung sich in Druckknöpfen und Schaltkreisen verlauft. Er
wandelt die steigende Verdreckung unserer Umwelt und die steigende Manipulation
unserer Wahrnehmung, wandelt Kunststoffhalden und Reizinflation in körperlich
erlebbare Situationen um. Die Environments - vorläufig existieren sie
nur im Modell - fuhren so die Absichten der Arte Utile fort und setzen
Einsichten frei.
In den letzten Jahren drang Poggi von den Umweltnoten mehr und mehr
zu den Fundamenten vor. Das Leben als Zielprojektion der Moderne tritt
hinter der Existenz als zeitlosern Thema der Kunst zurück. Das politische
Engagement schlagt in Ontologie, Aufklarung in Selbstfindung um. Ein
symbolisches Environment wie “Caronte” versucht nicht mehr, Leben und
Kunst zusammenzubringen, sondern konfrontiert Leben und Tod. Wer will,
erkennt darin die Zeichen der 80er Jahre: die Wende von der dynamischen,
auf die Gesellschaft zielenden Utopie Leben zu den Grundfragen nach
dem Was? Woher? Wohin? Wir haben hier nicht zu fragen, ob diese Neigung
zu Mythos, Metapher, Symbol, ontologischen Klischees und einer allegorischen
Kodierungimmerentgeht.
Ein Weg also vom konventionellen Bildhauer zum Propagandisten der Arte
Utile: zum Architekturphantasten, sozialasthetischen Aktionisten, Entwerfer
von Environments. Zu Arbeiten mit manchen Wechseln, doch ohne Bruch.
Ein Einklang mit drei Dekaden, nicht als Anpassung, sondern als tiefer
wurzelnde Aktualität eines Zeitgenossen, der stets für sich, doch nie
allein war. Ein exemplarischer Weg.
gor