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M A H L Z E I T
ihren Kühen einen einzigen Becher Milch zu
bekommen, den sie mit den Kindern und den
Hirten teilt. Oft nimmt sie sich selbst erst am
Abend etwas zu essen.
»In meiner Jugend gab es genügend Fleisch«,
sagt sie. »Wir hatten viele Tiere. Es herrschte
nicht so oft Dürre. Alle zwei Tage wurde eine
Ziege geschlachtet.« Heute schlachten sie nur
einmal pro Woche eine Ziege, um die Herde
nicht zu groß werden und den Kindern Eiweiß
zukommen zu lassen.
Zuletzt haben sie vor drei Tagen eine Ziege
getötet. Für wie viele Menschen hat das Tier
gereicht? Sie deutet vage auf die Hütten in der
Ferne. »Es reichte nur für einen Imbiss. Einen
Ziegenimbiss. Als ob man im Laden eine Por-
tion Pommes frites kauft. Wir sind viele, da
bekommt jeder nur einen Happen von der Ziege
ab.« Wenn die Dürre schlimmer wird, sind die
Tiere so mager, dass sie kein Fleisch liefern.
»Wir verkaufen die Häute und geben den Rest
dann den Hunden«, sagt Noolkisaruni.
In guten Zeiten legt sie einen Vorrat von
Kohl, Kartoffeln, Zwiebeln und Tomaten an. In
Zeiten schlimmer Dürre ist die Mutter auf
Zuteilungen angewiesen, um ihre Familie zu
ernähren – Bohnen, Reis und Weizenmehl, die
manchmal kommen. Und manchmal nicht.
Doch selbst in Zeiten der Dürre muss sie als
Massai-Frau Besuchern etwas anbieten. Am
Morgen kamen zwei Männer vorbei. Sie gab
ihnen Tee und alle Milch, die sie hatte.
Noolkisarunis größte Freude sind die
seltenen Ausflüge zum Markt (meist gehen
nur die Männer). Dort genießt sie eine Speise,
die sie in ihrer Kindheit nicht kannte – Irio.
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größten Volksgruppe Kenias – ein Eintopf aus
Kartoffeln, Mais, Bohnen und Blattgemüse.
»Ich habe mir das Rezept geben lassen, um
es für meine Kinder kochen zu können. Mit
Schafsfett ist es richtig lecker. Alle mögen es.«
Heute kommen ihre Nachbarn aus dem
Dorf mit Messern, um die kranke Kuh zu töten
und zu zerlegen. Einer schneidet dem Tier die
Kehle durch und lässt es ausbluten. Ein zwei-
ter Mann schlitzt den Bauch auf, holt das tote
Kalb heraus und legt es für die Hunde bei-
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Frauen mit geübten Schnitten das Muttertier.
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Stück Fleisch über ein paar Stöcke, und bald
weht Rauch über die sandige Steppe. Ein paar
Jungen bekommen die noch warme Leber. Sie
ziehen glücklich davon und essen sie roh.
Während die meisten Dorfbewohner sich
mit ihren Portionen auf den Heimweg über die
dürre Ebene machen, schneidet einer der
Männer den Magen des notgeschlachteten
Tieres auf. Die Obduktion fördert ein langes,
verschlungenes Knäuel von Plastiktüten
zutage, an denen die Kuh elend zugrunde ge-
gangen ist. Noolkisaruni ist nicht überrascht:
»Die Tüten schmecken salzig, und die Tiere
lieben Salz.« Die Aussage von Häuptling Sam-
my, man dürfe Vieh nicht in der Stadt kaufen,
weil die Tiere dort Plastiktüten fressen, hat
sich auf traurige Weise als zutreffende düs-
tere Prophezeiung erwiesen. Und mit ihrem
Abfall hat die Zivilisation einmal mehr die
Rechte der traditionell lebenden Urbevölke-
rung verletzt.
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