Level 3 (Einleitung)
Ausblick
Endstation Biologie
Auf den letzten Seiten wurde offenbar endgültig klar, was sich in der Tendenz schon früher abzeichnete: ich versuche mein theoretisches Konstrukt, so frei es auf den ersten Blick auch schweben mag, in dem zur Zeit geltenden naturwissenschaftlichen Paradigma und insbesondere in der modernen Biologie zu verankern.
Zugegeben, es mutet sonderbar an, wenn sich jemand, der von seinem Training her ein Humanist ist (oder sein sollte), anschickt, das Rätsel des Menschen mit biologischen Werkzeugen zu lösen. Aber sobald man die immanente Natur meiner Hypothese zum Maßstab nimmt, wird die Entscheidung vollkommen logisch. Spätestens in dem Augenblick, als ich auf meinen Grundbegriff gestoßen bin, war nämlich entschieden, daß die Hypothese nicht gut mit dem breiteren humanistischen Hintergrund harmonieren wird, dem Themen wie Quantität oder Effizienz erfahrungsgemäß kaum etwas bedeuten. In den rationalen und emotionalen Kontext der Naturwissenschaft hingegen ordnet sie sich mit Leichtigkeit ein und findet darin ihren Sinn.
Allerdings muß ich gleich hinzufügen, daß ich mich nicht um das Parteibuch irgendeines etablierten Spezialfachs oder einer Denkschule bewerbe. Ich behaupte nur, daß ich in dem bestehenden allgemeinen Paradigma eine Leerstelle entdeckt habe, eine Konsequenz, die bisher anscheinend noch nie ausgesprochen wurde, obwohl die gesamte Logik des Paradigmas sie sehr plausibel erscheinen läßt. Und die Theorie des Homokumulats schließt die Lücke so exakt, als wären die beiden eigens füreinander geschaffen.
Das heißt aber mit anderen Worten, daß man die Existenz der Homokumulativitätsgier aus bestimmten globalen Prämissen ableiten und mit einer gewissen Notwendigkeit theoretisch voraussagen kann.
Vielleicht ist der springende Punkt meines Arguments gerade dieser deduktive Zwang, dem zufolge die Evolution früher oder später genau jenes Ergebnis zeitigen mußte, das sie beim Menschen gezeitigt hat. Einer von ihren möglichen Trends besteht bekanntlich darin, daß sie komplexe instinktive Programme durch eine mehr oder weniger selbständige Gestaltung des Verhaltens ersetzen kann. Doch wäre es voreilig zu folgern, daß eine solche Entwicklung die Rolle des Genoms letzten Endes auf die Bereitstellung einer körpereigenen Datenverarbeitungsmaschine von ausreichender Kapazität beschränkt. Daneben sind auch andere Absicherungen denkbar, namentlich Instinkte einer abgewandelten und den neuen Verhältnissen angepaßten Art, die dem Lebewesen die Aufgabe zumindest wesentlich erleichtern könnten – wenn sie ohne sie überhaupt zu bewältigen ist: ich kenne kein Tier, das sein Verhalten relativ frei zu variieren vermag und dabei nicht die geringste Neu-Gier an den Tag legt.
Die Frage ist allerdings, welche quasi-instinktive Faustregel man jemandem auf den Weg geben kann, dem sich im Prinzip unendlich viele verschiedene Verhaltensmöglichkeiten öffnen. Was not tut, ist ein universaler Ratschlag, der für alle Fälle ohne Rücksicht auf ihre Abwegigkeit gelten wird, und davon gibt es höchstwahrscheinlich nur wenige. Der erste und naheliegendste von ihnen lautet natürlich »achte auf neue Möglichkeiten, denn sie könnten selten sein und dir dadurch leicht entgehen«; der zweite, den ich hier herauszuschälen versuche, besagt, daß man stets die homokumulativste (d.h. intensivste, extensivste, reinste usw.) Ausprägung einer Möglichkeit vorziehen soll, weil eine solche Gewohnheit die größte Effizienz gewährleistet; und ein dritter ist auch mir nicht bekannt, ja das Repertoire der einfachen Formen scheint erschöpft zu sein. Das bedeutet jedoch, daß die Evolution gar keine so große Auswahl gehabt hat: sie konnte sich nur auf diese zwei Punkte zu bewegen oder stillstehen. Und es fällt schwer zu glauben, sie würde an der glücklichen Fügung, daß es eben große Anhäufungen von Gleichem gibt, ewig vorbeigehen und sie nicht für Überlebenszwecke ausnutzen.
Dadurch bekommt das Problem eine überraschende Wendung: das eigentliche Rätsel ist nicht mehr die Existenz der Homokumulativitätsgier, sondern warum sie erst beim Menschen in Erscheinung tritt und nicht schon viel früher, wenn sie an die genetische Kodierung keine höheren Ansprüche stellt als ein klassischer Instinkt. Grundsätzlich muß man darauf nach den allgemeinen Prämissen der Evolutionstheorie antworten, daß der sich aus einem solchen Motiv ergebende Selektionsvorteil offenbar erst jetzt hinlänglich relevant geworden ist, und das dürfte sicher irgendwie mit der beim Menschen zu beobachtenden Radikalisierung der Verhaltensautonomie zusammenhängen. Die Neuheit ist ein Filter, dem schon eine individuelle Existenz genügt, um seine volle Wirkung zu entfalten; das Homokumulat dagegen braucht für eine richtige Extremalisierung die überindividuelle Weitergabe, denn wenn jeder einzelne von vorn anfangen müßte, brächte er die Anhäufung meist nicht sehr weit. Oder anders ausgedrückt, die Homokumulativitätsgier ist anscheinend eine von den zahlreichen biologischen Rückanpassungen an die neue Realität der Kultur – und gleichzeitig eine Förderin eben dieser Kultur, also eine Entwicklung, die erst im Rahmen der sogenannten biologisch-kulturellen Koevolution zweckmäßig wird.
Während der Arbeit am Grundtext war ich irgendwie besessen von dem Ehrgeiz, zu beweisen, daß das von mir entdeckte Motiv eine Conditio sine qua non der Menschwerdung darstellt, ähnlich wie die Neugier im Falle der Emanzipation des Tieres von instinktiven Schablonen. Natürlich ist der Gedanke verführerisch, weil er so drastisch allem widerspricht, was heute geglaubt wird: die menschliche Intelligenz samt ihren Folgen wie Sprache, Kommunikation oder Tradition würde danach für die Entstehung unserer Art nicht ausreichen, wenn sie nicht durch ein völlig andersartiges und längst totgeglaubtes Element ergänzt wäre, nämlich durch einen neuen, spezifisch menschlichen Instinkt! Und es gelang mir sogar, Argumente zu entdecken, die diese Behauptung zu unterstützen scheinen, von Erfindungen, die aller Voraussicht nach nur durch formal motivierte Homokumulation erfolgen konnten, bis zum Problem der Absicherung der Tradition gegen die Entropie; doch die Stringenz von derartigen Argumenten bleibt ungewiß.
Und meine Theorie ist im Grunde auch gar nicht auf sie angewiesen, d.h. sie kann ruhig die theoretische Möglichkeit einer Menschwerdung ohne Homokumulativitätsgier zulassen. Aber sobald die letztere bei bestimmten Populationen von Hominiden auftauchte oder erstarkte, begannen sie sich nach der hier vertretenen Hypothese kulturell rascher zu entwickeln als andere und drängten ihre Konkurrenten immer mehr an den Rand und darüber. So wurde das Motiv, obwohl streng logisch betrachtet nicht unbedingt notwendig, zu einer faktischen Bedingung, ohne die man einfach keine Chance mehr hatte, mit den Erfolgreichsten Schritt zu halten, und dadurch im Endeffekt dennoch zu einem Muß.
Selbstverständlich wirkt sich dieser Kontext auch auf den analytischen Teil meiner Arbeit aus. Ich befasse mich hauptsächlich mit Verhaltensweisen, deren Interpretation bisher eine Schwachstelle der naturwissenschaftlichen Erklärung des Menschen bedeutete und der Biologie nur mit Mühe oder überhaupt nicht zugänglich war. Deshalb blieben solche Verhaltensweisen meist den sogenannten Geisteswissenschaften überlassen, und die sahen in ihnen logischerweise vor allem den besten Beweis dafür, daß nicht alles am Menschen ein Teil der Natur ist und ihren Gesetzen unterliegt. Sie waren demnach gleichsam prädestiniert zu einer Stütze des anthropologischen Dualismus. Mir hingegen gelingt es mit Hilfe der Homokumulativitätsgier, vieles aus dem Bereich dieser scheinbar esoterischen Konsummatorik (Spiel und Sport, Schönheit und Kunst, Gefühl und Erlebnis…) als ein Produkt von leicht nachvollziehbaren biologischen Mechanismen zu entziffern. Über solche Dinge ist also dennoch ein naturwissenschaftlicher Diskurs möglich und die oben angedeutete Einschränkung seiner Kompetenzen fällt mit meiner Hypothese zu einem großen Teil weg.
Übrigens ist das kein einmaliges Ereignis, sondern nur ein Glied in der Kette eines breiteren historischen Trends. Die Vorstellung, es gäbe etwas Anderes außerhalb der Natur, das zumindest einen Teil des Menschen ausmachen würde, befindet sich nämlich schon eine ganze Weile auf dem Rückzug: sie schmilzt langsam dahin wie ein Eisberg in der Sonne, weil wir sie immer seltener brauchen, um uns aus einer akuten explanatorischen Verlegenheit zu ziehen. Der theoretische Endpunkt der damit vorgezeichneten Entwicklung ist offenbar ein biologischer Monismus, der imstande wäre, jede Nuance des Menschlichen aus eigener Kraft zu erklären. Und meine Hypothese gibt dieser Entwicklung einen recht markanten zusätzlichen Impuls, denn wenn man der naturwissenschaftlichen Perspektive auf einem so überraschenden Gebiet, d.h. bei Verhaltensweisen, die auf den ersten Blick so wenig mit dem Überleben zu tun haben, zum Durchbruch verhelfen kann, dann wird es schon sehr wahrscheinlich, daß der ganze Mensch nichts anderes darstellt als Natur bzw. eine Unterstruktur, die keine von der Grundstruktur des Weltalls her undenkbaren Einzelheiten enthält.
Gleichzeitig möchte ich jedoch unterstreichen, daß ich nicht jenem primitiven Biologismus das Wort rede, der den Menschen schlicht und einfach auf ein Tier reduzieren will. Schließlich geht es mir, genau wie dem Humanismus, darum, wie man den Unterschied zwischen den beiden präziser definieren könnte, und die Besonderheit, auf die ich mich dabei konzentriere, bezieht sich zumindest im subjektiven Erlebnis des Menschen nicht nur auf seine Mittel und instrumentalen Techniken, sondern hat sogar mit seinen letzten Zielen zu tun. Nur der Zweck, den ich verfolge, ist nicht ganz derselbe. Der Humanismus versucht nämlich dem Menschen kategorische Andersartigkeit und absolute ontologische Einmaligkeit zuzuschanzen, um ihm damit jene »klassisch« naive Automythologisierung zu ermöglichen, die ihn mit einer so tiefen Befriedigung zu erfüllen scheint, während ich den Unterschied zwischen Mensch und Tier auf eine Art begründet sehen möchte, die Kommensurabilität und Einheit auf der nächsthöheren Ebene implizieren würde – aber eben nur Einheit, nicht hundertprozentige Identität: der Mensch ist zwar ausschließlich Natur, doch es besteht kein Zweifel darüber, daß es sich dabei um eine in vieler Hinsicht völlig neue Erscheinungsform der Natur handelt. Ein einfaches Tier ist er jedenfalls nicht, leider; höchstens vielleicht ein Monstrum, ein Un-Tier.
Eine Hypothese ohne Heimat
Wie werden die Humanisten auf derartige Behauptungen reagieren? Darf mein Bestreben, die menschliche Seele durch eine neue Art von Mathematik zu erklären, mit ihren Sympathien rechnen? Ich halte es für möglich, daß ihnen das hier aufgestellte theoretische Gebäude in einem gewissen Sinne sogar imponieren wird; eine Billigung ohne schwere Bedenken und Vorbehalte kann ich mir jedoch nicht vorstellen, dafür ist die Kluft zwischen dem traditionellen Menschenbild der humanistischen Anthropologie und meiner Auffassung zu groß. Ich werde mich schon glücklich schätzen müssen, wenn mir der Umstand, daß ich das traditionelle Bild mit solchem Eifer zu demontieren helfe und gewissermaßen zusätzliche Nägel in den Sarg der entsprechenden Illusionen zu treiben versuche, nicht den Ruf eines Verräters eintragen wird.
Und was ist mit den Naturwissenschaftlern als den logischen Nutznießern meines Verrats? Darf ich zum Ausgleich wenigstens auf ihre Unterstützung hoffen? Auf den ersten Blick würde man jedenfalls so meinen, weil sich die Richtung meines Vorstoßes mit ihren strategischen Interessen deckt und mich zu ihrem natürlichen Verbündeten zu qualifizieren scheint. Doch das ganze wäre eine Milchmädchenrechnung, weil in der Naturwissenschaft keine anderen Qualifikationen zählen als formale. In Wirklichkeit muß ich befürchten, daß auch die andere Seite meine ungebetene Schützenhilfe zurückweisen oder einfach ignorieren wird. Kurzum, meine Theorie setzt sich mit untrüglichem Instinkt zwischen alle Stühle, und ihr Schicksal wird dem entsprechen, ohne Rücksicht auf ihren »inneren Reichtum«, der heutzutage wenig hilft, wenn er sich nicht leicht verkaufen läßt – das ist aber in meinem Fall mehr als fraglich.
Welche Verdienste könnte ich mir überhaupt mit dieser Theorie erwerben? Was wird dadurch, daß ich sie aufgestellt habe, anders? Was darf sich der Leser davon versprechen, daß er sich die Zeit nehmen und sich meine eigenwilligen Gedankengänge aneignen wird?
Irgendeinen praktischen Nutzen kann ich ihm eindeutig nicht in Aussicht stellen; alle oberflächlichen Psycho-Aktivisten, denen es nur um die Möglichkeit einer unmittelbaren Beeinflussung von sich selbst und/oder von anderen geht, werde ich unweigerlich enttäuschen. Aus meinen Überlegungen läßt sich nämlich kaum ein neues Rezept für die Kontrolle der Homokumulativitätsgier ableiten: wie gesagt, ist die Erkenntnis der Zusammenhänge in diesem Fall kein Faktor, der schon allein das Kräfteverhältnis verschieben würde, ähnlich wie uns z.B. die Erkenntnis der Physiologie des Hungers nicht weniger hungrig macht. Meine zentrale Feststellung lautet eher, daß man die negativen Auswirkungen des postulierten Motivs von einem bestimmten Punkt an stoisch hinnehmen muß.
Etwas besser ist vielleicht die Bilanz, was die rein theoretische, philosophisch-anthropologische Aktualität meiner Hypothese betrifft. Sie wirft nämlich neue Argumente in solche uralten und unerschöpflichen Diskussionen wie die über Trieb und Vernunft, Freiheit und Determination oder Gut und Böse, und das müßte eigentlich die entsprechenden Spezialisten aufhorchen lassen. Doch werden sie die Hypothese genügend ernst nehmen, um sich in sie zu vertiefen? Ich habe allen Grund, es zu bezweifeln.
Noch am ehesten darf ich mir die nötige Aufmerksamkeit von jenen gebildeten, aber unverbildeten Laien erwarten, die ohne irgendwelche fachlichen Vorbedingungen dem Rätsel ihrer eigenen Seele oder der ihrer Mitmenschen auf den Grund zu kommen versuchen, weil sie unglücklicherweise dafür sensibilisiert worden sind. Ich betone nochmals, daß das vorliegende Buch unsere Ziele unmittelbar auseinandernimmt, anstatt uns, wie 99% aller Bücher, lediglich zu zeigen, wie wir sie am besten erreichen können; es behandelt also ein Thema, von dem wir vergleichsweise viel weniger wissen als von diesem, obwohl (oder weil) es uns viel intimer angeht und unser Selbstverständnis determiniert. Warum sind wir, wie wir sind, und machen die Welt zu dem, was sie ist? Woher der Eindruck, daß uns ein halbwegs abgesichertes Leben nicht genügt, weil wir noch hinter etwas anderem her sind, für das sich die Bezeichnung »Obergeschoß« oder »Beletage der Existenz« anbietet? Und wie könnte man das Wesen dieses zweiten Stockwerks genauer umschreiben?
Mit inhaltlichen Einschränkungen kommt man da nicht sehr weit, weil der Mensch früher oder später aus ihnen ausbricht. Die besten Chancen hat wahrscheinlich jene programmatisch offene Interpretation, die ihn überhaupt nicht auf irgendetwas festzunageln versucht, sondern bloß von einem Überschußwesen mit praktisch unbegrenzten Möglichkeiten spricht. Das Problem ist allerdings, daß hinter einer solchen Erklärung nur eine leere Unendlichkeit übrigbleibt, mit der sich unsere Wißbegier nicht gern zufriedengibt. Je rasanter sich unsere Erfolge auf der instrumentalen Ebene häufen und unser Freiheitsraum wächst, desto mehr vermissen wir irgendeine konkrete Vorstellung von seiner Beschaffenheit. Sollte es unserem Denken wirklich nicht gegeben sein, seine Leere auf eine Art zu strukturieren, die die inhaltliche Fixierung umginge? Und in der Tat kennen wir mindestens einen Gedanken, dem das auf jeden Fall gelingt, nämlich die Idee der Neuheit bzw. Neu-Gier, die das eintönig-kontinuierliche Feld unserer Möglichkeiten gleichsam in eine endlose Flucht von Parzellen zerlegt und zugleich in das ganze einen Vektor einbaut, der uns zwingt, dieser Flucht immer weiter zu folgen.
Eine schöne Struktur, aber vielleicht läßt uns gerade ihre Schönheit übersehen, daß sie lediglich eine Fläche – und zwar die Oberfläche – strukturiert. Meine Hypothese entwickelt nun den Gedanken weiter und bringt eine dritte Dimension ins Spiel, nämlich die »Höhe« oder »Tiefe« (der Anhäufung von Gleichem als eines Vorgangs, der die ganze Unruhe der Neugier in sich auffängt und auf eine einzige Parzelle lenkt). Dadurch verwandelt sie die ursprüngliche Fläche in einen richtigen Raum, und erst nach dieser Intervention scheint der Prozeß einer inhaltsneutralen Strukturierung der Unendlichkeit wirklich abgeschlossen zu sein, weil sein Ergebnis alle denkbaren Fälle von Verschiedenheit und Gleichheit, also die gesamte Sphäre des Möglichen deckt. Das mag wie Haarspalterei klingen, ist es aber nicht, weil das neu hinzugekommene Strukturelement in unserem Leben zweifellos eine hinlänglich wichtige Rolle spielt, auch wenn sich der genaue Anteil der Homokumulativitätsgier am Menschsein wegen der schon erwähnten Identifikationsschwierigkeiten vorläufig kaum feststellen läßt.
All das zu verstehen bedeutet nicht wenig, obwohl es nichts Handfestes »bringt«. Doch nehmen wir den schlimmsten Fall an und stellen uns vor, die Theorie des Homokumulats würde sich aus irgendeinem Grund als durch und durch falsch erweisen, als eine reine Geistesverirrung: ich beharre darauf, daß das vorliegende Buch trotzdem einen beträchtlichen Teil seines Sinns behalten würde.
Das erste Kapitel meines Grundtextes ist eine typische Antwort – aber worauf? Offensichtlich auf die Frage, die durch den ganzen Rest des Textes verkörpert wird, d.h. auf die spektakuläre Ansammlung von Verhaltensweisen, die es mir darin auf eine einheitliche Art zu beleuchten gelingt. Wie die Antwort selbst ist wohlgemerkt auch diese Frage größtenteils meine Erfindung. Und mit Fragen kann man bei weitem nicht so forsch umspringen wie mit Antworten, ja sie haben etwas Imperatives an sich: irgendetwas muß der Umstand, daß sich ein solcher analytischer Diskurs über die menschliche Konsummatorik organisieren läßt, auf jeden Fall bedeuten, also beschränkt sich unsere Freiheit nur auf das Was. Selbstverständlich darf jedermann meine Antwort ablehnen, aber nicht, ohne eine andere vorzulegen (die es zur Zeit noch nicht gibt) und obendrein zu erklären, warum sich die falsche Interpretation geradezu aufzudrängen scheint. Schlimmstenfalls handelt es sich demnach bei der Theorie des Homokumulats um eine Denkfalle, eine gefährliche Verlockung, die man genau kennen muß, um ihr nicht immer wieder zu erliegen, mit dem möglichen Nebeneffekt, daß man daraus auch sonst was lernen könnte.
Auf mich wirkten diese Aussichten wie eine Superdroge, wie der Gesang eines Paradiesvogels, der mich alles andere vergessen ließ, und deshalb fällt es mir besonders schwer zu glauben, daß ich vielleicht niemanden finden werde, der die Sache ähnlich erleben würde wie ich. Was ist mit unserer Lust am kühnen Denkspiel geschehen? Und was mit unserem angeblichen Wunsch, uns selbst zu erkennen? Meine Hypothese bringt viele von unseren berüchtigsten Extravaganzen und Marotten gleichsam auf eine mathematische Formel und bewegt sich dabei weit außerhalb aller ausgetretenen Trampelpfade. Ist ein solcher völlig neuer Ausblick auf das Menschliche nicht etwas Kostbares, das jedermann in Begeisterung versetzen müßte? Ist die intellektuelle Neugier ausgestorben? Und jene glühende Liebe zur Innovation, die wir uns so gern gegenseitig beteuern – ist sie nur eine erbärmliche Lüge?
Aber so sehr sich auch alles in mir gegen diese Möglichkeit sträubt, ich muß sie ins Auge fassen und mich fragen, was mir in den Händen bleibt, falls sie sich bewahrheiten sollte. Die entscheidende Tatsache ist für mich, bei allem, was schon geschehen ist und was noch geschehen wird, daß es mir in einer Zeit, in der sich auf jedem Fußbreit des Denkbaren ganze Horden von Denkenden drängen und einander zu überklügeln versuchen, gegeben war, einen nahezu unberührten Kontinent zu erforschen – und zwar einen, der nicht irgendwo am Ende der Welt liegt, sondern hier, gleich neben uns vor jedermanns Nase, nur mit dem kleinen Haken, daß er bisher praktisch unsichtbar war. Wieso hat ihn das Schicksal gerade mir geschenkt, bei so vielen aussichtsreicheren Kandidaten? Ich habe keine Ahnung, ich weiß nur, daß ich ihm für dieses Wunder tiefe Dankbarkeit und Demut schuldig bin. Was bleibt also? Es bleibt die Erinnerung an die Jahre des ekstatischen Glücks, die ich auf immer neuen kartographischen Expeditionen in die Wildnis unserer Seele verbrachte; es bleibt das gute Gewissen vor mir selbst und vor anderen; und es bleibt die unausrottbare Hoffnung, daß der Same, den ich jetzt den Winden überlasse, irgendwo, irgendwann einmal trotz allem auf fruchtbaren Boden fallen und aufkeimen wird.