Lutz Lesle
Am dritten Himmel steht der Baum des Leben
Eine Klangreise durch die bulgarische Orchesterlandschaft
Schrille Frauenschreie, parallele Sekunden, ungleichmäßige Takte und krumme Rhythmen - wenn Nordeuropäer überhaupt eine Vorstellung von bulgarischer Musik haben, dann diese, geprägt vom Frauenchor des Bulgarischen Rundfunks "Le Mystère des Voix Bulgares". Ein aus Sofia nach Kopenhagen emigrierter Chordirigent verriet das bulgarische Stimmengeheimnis nun einem Singkreis junger Däninnen. Für den Fortbestand der Jahrhunderte alten Volksliedtradition des Balkanlandes im neuen Europa ist also gesorgt. Anders steht es um die Kunstmusik. Kaum hundert Jahre alt, läuft sie Gefahr, im Strudel der globalen Vermengung der Mittel und Stile den ihr eigenen Ton zu verlieren, bevor er nördlich der Karpaten überhaupt wahrgenommen wurde. Die Orchesterkultur des Landes der Klöster und Sonnenstrände ist hierzulande eine Terra incognita.
1887 wählen sich die Bulgaren einen deutschen Thronfolger: Prinz Ferdinand von Sachsen-Coburg-Gotha. 1908 erklärt er die völlige Unabhängigkeit Bulgariens und nimmt den Titel "Zar der Bulgaren" an. Die Tatsache, dass sein Sohn Boris Hitler 1941 den Durchmarsch der Wehrmacht nach Jugoslawien und Griechenland gewährt, ohne freilich in den Krieg gegen Russland einzutreten, nimmt Stalin im Herbst 1944 zum Vorwand, Bulgarien zu besetzen und der sowjetischen Machtsphäre einzuverleiben. Damit ist die Existenz des seit 1908 bestehenden Dritten Bulgarischen Zarenreichs besiegelt (Zar Boris wird 1943 unter mysteriösen Umständen ermordet). Nach einer erzwungenen Volksabstimmung erklärt sich das territorial gerupfte Balkanland 1946 zur kommunistischen Volksrepublik. Sie besteht bis zur Auflösung der Sowjetunion. 1990 vereinbaren die neugegründeten Parteien eine demokratische Reform. Derzeit kämpft die Republik Bulgarien, die der Europäischen Union entgegenstrebt, mit den Problemen postkommunistischer Marktwirtschaft: jämmerliche Armut des Volkes, Bestechlichkeit der Behörden und dubioser Reichtum einer schmalen Schicht von Emporkömmlingen, die sich in luxuriösen Wohnburgen einmauern.
Die Wurzeln der bulgarischen Kunst und Musik reichen in vorchristliche Zeiten zurück. Altgriechische Sagen, Dichter und Philosophen bezeichneten Thrakien, die Heimat des Orpheus, als die "Wiege der Musik". Auch die Ende des 6. Jahrhunderts einwandernden Slawen besaßen eine hoch entwickelte Musikkultur. Wenig weiß man über die Klangriten der asiatischen Protobulgaren, wiewohl auch sie Spuren in der Volksmusik Bulgariens hinterließen. Aus dem Schatz ihrer mündlichen Überlieferung finden sich heute ca. 260 000 Volkslieder in Archiven Sofias, 137 000 davon mit Noten. Hinzu kommen über 5000 instrumentale Volksweisen und über 3000 auf Tonband dokumentierte Volkstanzmelodien.
Wichtigste Kennzeichen der bulgarischen Volksmusik, die auch der Orchestermusik auftauchen - beispielsweise in den Thrakischen Tänzen von Petko Stajnov oder den Bildern aus Bulgarien von Wasil Kasandjiev - sind die asymmetrischen, ungleichmäßigen (sogenannten zusammengesetzten) Taktarten mit verlängertem Taktteil: 1-2 1-2-3 oder 1-2 1-2 1-2-3 oder auch 1-2-3 1-2 1-2-3. Vergleichsweise einfach ist die lebhaft wirkende, im Tonumfang eher eng bemessene Melodik. Hervorstechende Intervalle sind die Quarte und die übermäßige Sekunde. Neben den lebhaften, in strengem Taktrhythmus vorgetragenen Tanzliedern und instrumentalen Volksweisen gibt es eine zweite Hauptgruppe, die sich freirhythmisch, also ohne metrischen Puls in langsamem Tempo bewegt. Ihr reich verziertes Melos wirkt improvisiert. Auch dieser Wesenszug ist in bulgarischer Orchestermusik anzutreffen, etwa in den Complexi Sonori für Streichorchester von Wasil Kasandjiev.
Das bulgarische Volkslied und die instrumentalen Volksweisen sind einstimmig. Beim gemeinsamen Singen und Spielen kann sich durch melodische Verzierungen oder rhythmische Belebung eine sogenannte Varianten-Heterophonie ergeben. Ein eigentümliches Phänomen sind die zweistimmigen Frauenlieder aus den Dörfern am Witoscha-Gebirge bei Sofia: Die Oberstimme trägt eine freirhythmische Melodie vor, während die Unterstimme eine bordunartige Begleitung in Quarten und Quinten ausführt. Oftmals verläuft die Begleitstimme sogar - ähnlich wie bei der litauischen Sutartine - in parallelen Sekunden.
Lebhaft bewegt sind auch die meisten Volkstänze. Allgemein verbreitet ist der Choró. In der Choreographie, in Tempo, Metrum und Rhythmus, Bewegung und Charakter weisen die Chorá eine große Vielfalt auf. Doch gehorchen fast alle Volkstänze Bulgariens den erwähnten ungleichmäßigen Taktarten. Der Pajdú_ko steht im 5/16-Takt, die Ra_enica im 7/16-Takt. Alle drei Tanztypen zitiert Petko Stajnov in seinen Thrakischen Tänzen. Die 1926 geschriebene Orchester-Suite besteht aus den vier Sätzen Pajdú_ko (5/16-Takt), Me_karski tanc (ein Bärentanz im 5/8-Takt) , Choró (rondoartig im 2/4-Takt) und Ra_enica samt Coda (7/8-Takt).
Es wäre verwunderlich, wenn neben der Volksmusik nicht auch die Kirchenmusik eines Landes, das dem orthodoxen Glauben anhängt und dessen Klöster der 482jährigen Türkenherrschaft widerstanden, Spuren im Konzertsaal hinterließe. Zu ihrer Geschichte nur soviel: Die Brüder Kyrill und Method aus Saloniki, die Apostel der Slawen, legten dank ihrer Übersetzung biblischer und gottesdienstlicher Bücher aus dem Griechischen ins Slawische um 860 den Grundstein zum slawisch-bulgarischen Schrifttum. Nachdem sich Byzanz 1018 das Erste Bulgarische Reich einverleibt und den byzantinischen Kirchengesang eingeführt hatte, wurde dieser während des Zweiten Zarenreichs, das im 13. Jahrhundert von der Donau und dem Schwarzen Meer bis an die Adria und Ägäis reichte, der bulgarischen Sprache angepasst. Aus dem 14. Jahrhundert leuchtet die schemenhafte Erscheinung eines mit einer "Engelsstimme" begabten Komponisten und Musiktheoretikers bulgarischer Abstammung hervor: Johannes Kukuzeles (oder Joan Kukusel). Als Bettler verkleidet, soll er von Konstantinopel nach Athos geflüchtet sein. Dort hütete er Schafe und Ziegen, bevor er als Sänger ins Kloster St. Athanasii eintrat und einen neuen melismatischen Gesangsstil schuf, zu dessen Notation er die byzantinische Neumenschrift reformierte. Seine Kompositionen sind einstimmig und weisen gegenüber der traditionellen byzantinischen Kirchenmusik ein reicheres Melos und eine fast weltliche Virtuosität auf, weswegen sie den Byzantinern "barbarisch" vorkamen.
Bevor Wasil Kasandjiev 1970 seine Klangbilderfolge Die lebendigen Ikonen entwarf, die den Untertitel "Lobpreisung der Sofioter Krypta für Kammerorchester" trägt, studierte er eingehend die mittelalterlichen Kirchengesänge Joan Kukusels. "Die Idee, mich der mittelalterlichen Musik aus der Epoche von Kukusel zuzuwenden, kam mir nach der Arbeit für das Theaterstück Iwanko im Theater der Armee", erläutert der Komponist. "Damals musste ich in die Atmosphäre jener Zeit eintauchen. Ich habe mir das gesamte Repertoire des Männerchors 'Joan Kukusel' in der Kirche Sveta Sofija angeört. Sie haben mir ihr gesamtes byzantinisches und russisches Repertoire vorgesungen, aber Joan Kukusel hat mich am meisten beeindruckt. Seine Melodien über drei, vier Töne sind sehr einfach, doch ihre Wirkung ist ungeheuer. Damals entschloss ich mich, diese Musik zu erforschen, um ihre Intonation und ihre Originalität in eine moderne Klangsprache übertragen zu können".
Musikvereine, Gymnasialorchester und die Sofioter Gardekapelle waren die eigentlichen Entwicklungshelfer der bulgarische Orchestermusik. 1936 entstand das Zarski Orkestar (Königliche Symphonieorchester), nach Kriegsende als Staatliche Philharmonie weitergeführt. Unter Konstantin Iliev und seinen Nachfolgern reiste sie erfolgreich um die Welt. Ähnliches gilt für die fünfzehn Streicher der Sofiiski solisti (Sofioter Solisten), die ihr Gründungsdirigent Wasil Kasandjiev auf die Höhe internationalen Ruhmes führte. Die Sofia Soloists, wie sie sich weltweit nennen, formierten sich 1962 aus jungen Orchestermitgliedern der Nationaloper. Von 1979 bis 1988 spielten sie unter Emil Tabakov, seit 1988 ist Plamen Djurov Chef des Kammerorchesters. Sein Repertoire reicht vom Ende des 16. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Der Streicherstamm des Orchesters übt sich nicht in edler Selbstgenügsamkeit, sondern betrachtet sich als "Skelett", das von Fall zu Fall "Fleisch ansetzt": Bläser, Schlagzeug, Chor und Solisten (vokal wie instrumental). Die Annalen der Sofioter Solisten verzeichnen mehr als 200 Konzerte und über 600 Werkaufführungen im Laufe ihrer 40jährigen Geschichte, darunter rund 60 Uraufführungen! Mehr als 100 Kompositionen entstanden eigens für sie. Unter ihren Gastsolisten und Kammermusikpartnern finden sich so klangvolle Namen wie Heinz Holliger, Nigel Kennedy und Henryk Szeryng.
Die bulgarische Hauptstadt (1 100 000 Einwohner) zählt außer dem Orchester der Nationaloper drei große Symphonieorchester (jeweils rund einhundert Mitglieder): das Radio-Symphonieorchester, die Staatliche Philharmonie und das Neue Symphonische Orchester, eine Initiative junger Instrumentalisten, die sich nach der Wende (1991) zusammenschlossen, um neben den schlecht bezahlten und entsprechend unmotivierten Berufsorchestern eine initiativfreudige "dritte Kraft" ins Spiel zu bringen, die auf eigene Gewinn- und Verlustrechnung arbeitet und spendable Gönner für ihre Sache zu begeistern versucht. In mehreren Konzerten feierte es 1991 sein zehnjähriges Bestehen. Höhepunkt der Jubiläumssaison war die Uraufführung der 6. Symphonie des fast 80jährigen, von den ehemaligen Kulturfunktionären mit Nichtachtung gestraften Eigenbrötlers Lazar Nikolov. Mit beschwörenden Worten warb die Präsidentin des Orchesters im Programmheft um Sponsoren, die bereit sind, das vom Idealismus seiner Mitglieder zehrende Orchester am Leben zu erhalten. Sein musikalischer Leiter Rosen Milanov, der einmal im Monat für ein Proben-Wochenende aus den USA anreist, lud junge Kollegen zur internationalen Dirigier-Akademie "Witoscha 2001". Ein projektgebundenes Ensemble "Musica Nova" stellt der Dirigent und Komponist Dragomir Jossifov alle Jahre wieder für das gleichnamige Festival zusammen, das die Gesellschaft für zeitgenössische Musik in Bulgarien und der Nationale Rundfunk in jedem Juni ausrichten.
Voll ausgebaute Opern- und Symphonieorchester gibt es auch in den Regionalhauptstädten Plovdiv (Rhodopen, 250 000 Einwohner), Russe (Donau, 150 000 Einwohner), Warna und Burgas (Schwarzes Meer, 180 000 bzw. 125 000 Einwohner). Kleinere Klangkörper trifft man in Pleven (Nordbulgarien, 100 000 Einwohner) und Stara Sagora (Industriestadt an der Bahnstrecke Plovdiv-Burgas, 115 000 Einwohner) sowie einer Anzahl minder bedeutender Provinzstädte. Die genannten Regionalzentren unterhalten allesamt ein eigenes Operntheater. Ähnlich wie in Ostdeutschland hat man Opernorchester und Symphonieorchester in den letzten Jahren vielerorts zu "opernsinfonischen Orchestern" verschmolzen, wobei Hunderte von Orchestermusikern in die Arbeitslosigkeit gingen. Doch selbst ein "wohlbestallter" Tuttigeiger verdient in Sofia monatlich gerade mal 200 Leva - zum Leben zu wenig und zum Sterben zuviel. Allein die Heizungskosten für eine Hochhauswohnung übersteigen diesen Betrag im Winterhalbjahr um ein Vielfaches. Wo soll unter solchen Lebensbedingungen die Lust herkommen, sich mit ungewohnten Noten auseinander zu setzen? Dabei hat Bulgarien noch viel nachzuholen. Die Symphonien Bruckners und Mahlers sind dem Konzertbesucher kaum geläufig, zu schweigen von Orchesterpartituren eines Charles Ives oder Elliott Carter.
Während die westeuropäischen und die slawischen Musiknationen zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Schatz symphonischer Meisterwerke zusammengetragen hatten und die Neue Wiener Schule Luft von anderem Planeten spürte, dauerte es bis zum Jahre 1912, bis im Konservatorium von Zagreb drei sinfonische Sätze eines Diplomanden aus Bulgarien erklangen: die erste "bulgarische Symphonie" überhaupt!
Ihr Komponist, Nikola Atanasov, gilt als Gründervater der bulgarischen Orchestermusik (nicht zu verwechseln mit Georgi Atanasov, dem ersten Opernkomponisten Bulgariens). An der Sofioter Musikakademie vermittelte er der zweiten bulgarischen Komponistengeneration die nötigen handwerklichen Grundlagen, bevor sie sich in Prag, Paris, Berlin, Leipzig oder Dresden weiterbildete. 1932 gründeten bulgarische Tonkünstler den Verein Savremena muzika (Zeitgenössische Musik), der einen "nationalen Stil" erstrebte. Zu ihnen zählen der aus Thrakien stammende Petko Stajnov (1896-1977) und der in seiner Bedeutung für die jüngere (dritte) Komponistengeneration kaum zu überschätzende Pancho Vladigerov (1899-1978).
Den 25jährigen Todestag des 1977 gestorbenen Stajnov, der sich als Kind mit einem Messer verletzte und erblindete, in den zwanziger Jahren in Dresden Klavier und Komposition studierte, Lektor am Sofioter Blindeninstitut wurde und während des Zweiten Weltkriegs Operndirektor in Sofia war, nahm das Symphonieorchester des Bulgarischen Rundfunks zum Anlass, seine Thrakischen Tänze (1926), die sinfonische Suite Prikazka (Märchen, 1930) und die sinfonische Dichtung Trakija (Thrakien, 1937) aufzuführen und auf CD einzuspielen (siehe Diskographie). Als Vorsitzender der Union bulgarischer Volkschöre und Mitbegründer der Gesellschaft für zeitgenössische Musik war er darauf bedacht, die traditionelle Musik zu bewahren und im eigenen Werk zu sichern. Seine Tonkunst schöpft aus dem Reichtum der bulgarischen Volksmusik. Seine Orchesterkompositionen sind farbenfroh instrumentiert und dank ihrer übersichtlichen Bauweise unmittelbar einleuchtend.
Nach seiner pianistischen und kompositorischen Grundausbildung in Sofia ging der 1899 in Zürich geborene Pancho Vladigerov nach Berlin, wo er sich in beiden Disziplinen weiterbildete und Meisterklassen von Friedrich Gernsheim (Komposition) und Leonid Kreutzer (Klavier) besuchte. Zweimal gewann er den Mendelssohn-Preis der Berliner Akademie der Künste: 1918 für sein Klavierkonzert op. 6 und 1920 für sein Violinkonzert op. 11, das Gustav Havemann 1921 mit den Berliner Philharmonikern unter Fritz Reiner uraufführte. Wegweisend für seine künstlerische Entwicklung wurde die langjährige Zusammenarbeit mit dem genialen Theaterreformer Max Reinhardt, für dessen Inszenierungen klassischer und moderner Dramen Vladigerov zwischen 1920 und 1932 zahlreiche Bühnenmusiken schrieb, die er als Pianist und Dirigent auch aufführte - die anregendste Periode seines Lebens, die ihn mit Dichtern und Musikern wie Hugo von Hofmannsthal, Franz Werfel, Stefan Zweig, Ferruccio Busoni, Richard Strauss, Paul Hindemith, Serge Rachmaninow und Karol Szymanowski zusammenbrachte. Der um sich greifende Nazismus und Antisemitismus veranlasste ihn 1932 zur Heimkehr nach Bulgarien.
Die Musikakademie in Sofia, die seit 1995 seinen Namen trägt, ernannte Vladigerov 1938 zum Professor für Klavier und Komposition. Als Komponist bedachte er fast alle Gattungen, bevorzugte aber das virtuose Solokonzert. Auch ihm lagen die melodischen und rhythmisch-metrischen Eigenarten der ländlichen Volksmusik im Blut - die nicht-symmetrischen (hemiolischen) 5/16-, 7/8-, 9/8- oder 11/16-Takte, die Bartók als bulgarische Rhythmen klassifizierte. Üppig fließende Melodik, stegreifartig anmutende Texturen, spätromantisch überbordende Harmonik und impressionistische Klangfarbenspiele kennzeichnen seinen glanzvollen, emotional stark aufgeladenen, oftmals tanznahen, doch ins Lyrische ausschweifenden Stil.
Die 1999 vom Bulgarischen Rundfunk zu Vladigerovs hundertstem Geburtstag herausgegebene Memorial-CD mit dem Nationalen Rundfunk-Sinfonieorchester unter Leitung des Komponisten portraitiert den Dirigenten und Komponisten, dessen Bulgarische Rhapsodie "Vardar" op.16 (1922/28) zu seinen beliebtesten Stücken gehört. Das Hauptthema entstammt einem patriotischen Lied von Dobri Christov (Vladigerovs erstem Kompositionslehrer). Sowohl das Lied als auch die Komposition wurzeln in der bulgarischen Folklore. Der erste und dritte Teil des Werks klingen feierlich und hymnenartig, im Mittelteil lösen rasche Tanzepisoden einander ab.
Das Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 in b-Moll op. 31 (1937), Vladigerovs populärstes Instrumentalkonzert, entspringt verwandtem Geist. Klassisch in drei Sätzen angelegt, geben die Ecksätze dem Solisten reichlich Gelegenheit, pianistische Brillanz àÊ la Rachmaninow zu zeigen. Im rondoartigen, furiosen Finale kommt bulgarische Tanzlaune auf. Die Klaviergesänge und Cellokantilenen des langsamen Satzes verströmen lyrische Wärme und Nachdenklichkeit. Moderner im Ton, angespannter in der Harmonik klingt die Konzertfantasie fÌ1Ú4r Violoncello und Orchester op. 35 (1949). Auch hier schwingen Orchester und Solist fleißig das Tanzbein. Im fünfsätzigen Divertimento für Kammerorchester (1943) mit den Sätzen Orientalischer Marsch, Schmeichelei, Karnevalsprozession, Romanze und Cakewalk hängt der Komponist den Theatermusiken nach, die er in den zwanziger Jahren für Inszenierungen Max Reinhardts in Deutschland und österreich entwarf.
Der nächstjüngere Komponist des großen Dreigestirns aus den Gründerjahren der bulgarischen Orchestermusik heißt Dimitar Nenov (1902-1953). Die Sofioter Musikwochen setzten seine von seinem Schüler Lazar Nikolov orchestrierte Toccata (1932) 2001 aufs Programm. Ihre unerbittlich stampfende Motorik erinnert an Szenen aus Strawinskys Le Sacre du Printemps oder auch an Honeggers Orchesterstück Pacific 213. Ihr Anfangsthema ähnelt dem Glockenspiel des Rila-Klosters, in dem sich das spirituelle Erbe des alten Bulgarenreichs über ein halbes Jahrtausend erhalten hat. Nevov, der als Wunderkind auffiel, bevor er an der Technischen Hochschule in Dresden Architektur und am Konservatorium der Elbmetropole Klavier und Komposition studierte, liebte die Abgeschiedenheit des Rila-Gebirges und träumte davon, das Bergstädtchen Samokov in ein bulgarisches Salzburg zu verwandeln.
Begeisterung für den Architekten Walter Gropius und die Ideen des Bauhauses hatten Nenov bewogen, sich neben dem Musikstudium der Baukunst zu widmen. Seinen Lebensunterhalt verdiente er in Dresden als Stummfilm-Pianist. Nach Bulgarien zurückgekehrt, fand er in Sofia für vier Jahre eine öffentliche Anstellung als Architekt. 1931 setzte er seine Klavierstudien bei Egon Petri in Zakopane (Hohe Tatra) fort und graduierte anschließend in Bologna. Seit 1937 unterrichtete er an der Musikakademie in Sofia. Als reisender Klaviervirtuose trat er für Debussy, Ravel, Skrjabin, Prokofjew und Schostakowitsch ein - Komponisten, deren Musik Stalins Kulturfunktionäre von Hochschulen und Konzertpodien des Ostblocks zu verbannen suchten.
Das Zentrum seiner künstlerischen Gedankenwelt, die der Philosophie Arthur Schopenhauers, Wilhelm Diltheys und Oswald Spenglers nahe stand, bildete das eigene Musikschaffen, von dem er sagte: "In Tönen zu denken ist bei weitem das Abstrakteste; es ist kein Komponieren - das kann jeder -, sondern vielmehr ein Erschauen: ein Akt, die Welt in tönenden Bildern zu erfahren, die den letzten Schritt in der Entwicklung der Tonkunst repräsentieren." Sein Konzert für Klavier und großes Orchester (1932-36) verschränkt (ähnlich wie Liszts berühmte h-Moll-Sonate) Sonatenform und Sonatenzyklus zur vierteiligen Einsätzigkeit, wobei das 40minütige Werk zugleich einem Zyklus von Charaktervariationen ähnelt - ein an Skrjabins Orchestersprache anklingender Monolith, der Brillanz mit linearer Polyphonie und bulgarischen Volkston mit ekstatischen orchestralen Aufgipfelungen verbindet. Das Konzert beruht auf zwei Grundmotiven, die zusammen neun Töne ergeben: c-d-e-fis-g und c-e-d-gis, denen sich im dritten Werkabschnitt ein Volkslied zugesellt. Dritter im Bunde der bulgarischen "Klassiker der Moderne" ist Ljubomir Pipkov (1904-1974). Er war Schüler von Paul Dukas an der Pariser Ecole normale. Pipkov ist eine der Säulen der Bulgarischen Komponistenschule der dreißiger Jahre. Seine berufliche Laufbahn begann als Korrepetitor und Chormeister an der Bulgarischen Nationaloper, deren Direktor er 1944 wurde. 1948 berief ihn die Musikakademie in Sofia als Professor für Ensemble-Gesang. Die kürzlich erschienene CD "Sofia Soloists and Bulgarian Composers" enthält seine vierte Symphonie für Streichorchester op. 74 (1970). Die Form dieser Symphonie erscheint mehrdeutig. Einerseits folgt sie dem von Witold Lutoslawski entwickelten zweisätzigen Modell (Einleitungssatz - Hauptsatz), das hier auch im Satzbild kontrastiert: tänzelnde Motorik - lineare Gesanglichkeit. Anderseits entsteht durch die Dreiteilung des langsamen Hauptsatzes, dem Pipkov zwei schnelle Abschnitte einkomponiert, rückwirkend die Illusion "klassischer Sonatenzyklus".
Wenn man bedenkt, dass Bulgarien gerade mal zwanzig Jahre Zeit hatte, Anschluss an die Moderne zu finden, bevor die Kommunisten das Rad der Musikgeschichte gewaltsam zurückzudrehen versuchten und Komponisten, die über Debussy hinausdachten und sich mit Zwölftongedanken trugen, als Formalisten brandmarkten, so grenzt es an ein Wunder, wenn man heute in den Konzertsälen Sofias Musik hören kann, die der erzwungenen Quarantäne und der Diktatur des Mittelmaßes trotzt. Komponisten wie der 78jährige Lazar Nikolov oder der 67jährige Wasil Kasandjiev verbargen ihre kühnsten Ideen jahrzehntelang in der Schublade. Dank seines unbeirrbaren Charakters widerstand der 1922 in Burgas geborene Lazar Nikolov, Schüler von Nenov und Vladigerov, dem System von Zuckerbrot und Peitsche, mit dem die Künstler Bulgariens während der Schivkov-Ära (1962-89) auf Parteilinie gebracht wurden. Ohne Avantgardist zu sein, verfolgte er zeitlebens unausgetretene Pfade. So wendet er Zwölfton- und serielle Techniken nicht aus Prinzip an, sondern um einer künstlerischen Idee willen, die in einer bestimmten schöpferischen Situation anders nicht zu verwirklichen wäre.
Seine Meditationen für Streichorchester (1971), eine überarbeitete Fassung seines zweiten Streichquartetts (1970), markieren einen Eckpunkt seines Schaffens: Zwölftonfelder färben den Klangfluss. Überhaupt erinnert seine Musik aus jüngerer Zeit - nicht zuletzt seine fast halbstündige, vom Neuen Symphonischen Orchester Sofia im März 2001 uraufgeführte Symphonie Nr. 6 - an die Philosophie des Heraklit: "Alles fließt, aber in diesem Fließen waltet der Logos als Gesetz. Im ewigen Auf und Ab wird aus Einem alles und aus allem Eines." Die fünf ereignisreichen Teile der Symphonie, in welcher der Sonatenzyklus kenntlich bleibt (Kopfsatz mit Introduktion - langsamer Satz mit Trommelepisoden - turbulentes Scherzo - episodisch gegliedertes Finale), gehen sanft ineinander über.
Auch auf den schon mehrfach erwähnten Wasil Kasandjiev - 1934 in der Donaustadt Russe geboren, Schüler der bulgarischen "Komponistenmacher" Iliev und Vladigerov, viele Jahre Chefdirigent der Sofioter Solisten und des Nationalen Radio-Symphonieorchesters, seit 1989 Leiter einer Dirigentenklasse an der Musikakademie Sofia - trifft das Wort von Strawinsky zu, Künstler seien wie Leuchttürme. Seine Symphonien und Orchesterstücke öffneten der Tonkunst des Balkanlandes neue Räume und Perspektiven. Das gilt zumal für den Orchesterzyklus Lebendige Ikonen, den Kasandjiev 1970/71 unter dem Eindruck der in der Krypta der Alexander Nevski-Kathedrale ausgestellten, frisch restaurierten bulgarischen Ikonen aus dem 16. bis 18. Jahrhundert für die Sofia Soloists schrieb. Umrahmt von den Bildern Heilige Jungfrau - Wegweiserin und Christ - Allmächtiger, folgt der programmatische Zyklus den Lebensstationen des Erlösers: Verkündigung - Weihnacht - Kreuzigung - Verwandlung - Tag des Gerichts. Was den nichtorthodoxen Hörer erstaunt: Kasandjiev versteht es, das ganze Klang- und Geräuscharsenal des mit Flöten, Klarinetten, Trompete, Streicherchor samt Brettglocken und zwei Schlagzeug-Batterien besetzten Orchesters für den "heiligen Zweck" einzusetzen, dem alle Mittel der Clustertechnik und der aleatorischen Improvisation, des tonalen Mimikry und der klanglichen Camouflage recht sind. Allein die Erläuterungen der Ausführungssymbole füllen vier Partiturseiten. Doch wie sparsam und poetisch er mit seinen Klangmitteln umgeht! Scheinbar spielend gelingt es ihm, den Klanggeist mittelalterlich-orthodoxer Frömmigkeit mit Bogenstrichen über dem Saitenhalter, Abreibungen des Instrumentenkörpers oder Kuhglockengeläut in nomine Christi zu versöhnen. Wobei er sich nicht scheut, das Hinscheiden des Erlösers im ersten Violoncello ziemlich naturalistisch nachzuzeichnen.
Kasandjiev ist auch einer der wenigen Komponisten, die es wagten, sich dem Thema des Weltzusammenbruchs zu nähern. Das 20minütige Orchesterstück Apokalypse (1976) verbindet die traumatische Erinnerung an das Blutbad, das die Türken 1876 im Distrikt Philoppopel (heute Plovdiv) unter den Bulgaren anrichteten , mit der Vision der Johannes-Offenbarung, die über den Aschehaufen ein Licht der Hoffnung aufscheinen lässt: ein auskomponiertes Crescendo, das in einen Tutti-Akkord in c-Moll gipfelt. Nach der Spirale des Schreckens verheißt ein Lamentoso der Streicher "die Wiedergeburt der geistlichen Werte." Zu seinem Orchesterstück Illuminationen (1979) äußerte der Komponist: "Es ist ein spontaner Ausdruck meiner Bewunderung für die Macht des menschlichen Willens und der menschlichen Einbildungskraft. Der Mensch hat die Kühnheit, neue Trassen in den Mikro- und Makroräume der grenzenlosen Welt zu schlagen, in der zu leben wir verurteilt sind."
Auch die jüngste, im November 2001 vom Philharmonischen Orchester Sofia unter Leitung des Komponisten uraufgeführte, knapp einstündige Symphonie Nr. 4 birgt eine philosophisch-theologische Semantik, wie schon ihr Untertitel Nirvana verrät. Nach dem tragischen Ausklang des raschen zweiten Satzes taucht der langsame dritte in eine Traumwelt paradiesischer Glückseligkeit. Känge von Glas und Glocken, Maultrommel, Streicher-Flageoletts, stilisierte Vogelstimmen der Holzbläser geleiten den Hörer in verwunschene Zonen - einen Feengarten, dem am Ende der Symphonie der von Henoch erschaute Baum des Lebens entwächst.
Der vierte Satz, der nach dem Vorbild Beethovens und Mahlers menschliche Stimmen "zu Hilfe" nimmt, um die Botschaft zu verdeutlichen, verarbeitet das symbolistische Gedicht Nirvana des bulgarischen Lyrikers Peju Javorov (1877-1914), dessen Anfangs- und Schlusszeilen lauten: "Das ewige Gewässer ist in Schlaf versunken, das Gewässer uferlos und bodenlos - Wir aber haben Angst davor, einen Schluck zu trinken, wir, die Leidenden, die Schlaflosen, die Hoffnungslosen, die Heißdurstigen." Der Bangigkeit des lyrischen Wir setzt Kasandjiev ein Hoffnungszeichen aus dem 1. Buch Henoch entgegen: "Am dritten Himmel steht der Baum des Lebens. An allen Orten sieht er golden aus: purpurfarbig und feuerlichtig. Dort erholt sich Gott der Allmächtige, wenn er ins Paradies herunterkommt."
Vassil Kazandjiev, Composer und Conductor
Bulgarian National Radio Symphony Orchestera, Sofia Soloists.
Balkanton AAD 0301 51
Dimitar Nenov, Compositions
Rousse Philharmonic Orchestra
Gega new GD 258
Lazar Nikolov, Compositions
Zdravko Yordanovs´ students
Geda new GD 149
Lazar Nikolov, Orchestral works
Plovdiv Philharmonic Orchestra
Record PC Mania
Petko Staynov, Classics of Bulgarian Music.
Bulgarian National Radio Symphony Orchestra
Balkanton ADD 0302 11
Pancho Vladigerov, Compositions
Bulgarian National Radio Symphony Orchestra
Gega new GD 203
Pancho Vladigerov,Compositions
Sofia Soloists und Bulgarian Composers
Gega new GD 273