REMISA
Beginnen wir dort, wo Wolfgang Temmel beginnt, bei den banalen, unwichtigen Dingen, bei jenen, die fehlen. Es geht nicht darum, dass irgendjemand irgendetwas unabhängig beurteilen, sehen oder messen könnte. Die Dinge hängen in der Natur weit mehr zusammen, als wir uns denken. Es ist nicht wahr, dass wir etwas objektiv beurteilen können, dass wir uns außerhalb eines Systems stellen und dieses von außen betrachten können. Der Mensch ist ein soziales Wesen und kann nicht ohne die Gesellschaft existieren. Er ist in diese Gesellschaft eingebunden, und alles, was er arbeitet, denkt und spricht, macht er wegen dieser sozialen Umwelt, dieser Gesellschaft, der Verhältnisse, die in ihr herrschen, und der sonstigen Bedingungen, denen er sich täglich unterordnet.
Schrödingers Katze
Wie die Messungen der kleinen Teilchen in der Physik gezeigt haben.
Wenn wir ein Teilchen beobachten, tun wir das mithilfe eines anderen, möglichst
kleineren Teilchens, das vom gemessenen abprallt und auf den Bildschirm
erscheint und uns so ein Bild des gemessenen Teilchens vermittelt. Die Messung
ist somit ein Eingriff in einen Zustand, sie bewirkt eine Änderung. Was wir
messen und in der Folge als Realität begreifen, ist die Änderung und nicht der
tatsächliche Zustand. Deshalb wird von einigen behauptet, dass etwas vor und
nach einer Messung überhaupt nicht beziehungsweise unabhängig von uns
existiert, dass wir nie wissen können, wie oder ob etwas überhaupt existiert,
solang wir es nicht messen. Messung bedeutet Eingriff, mit der Messung ändert
sich der Zustand.
Die Quantenmechanik beschäftigt sich mit kleinen Dimensionen in der
Physik. Eines der Grundprinzipien der Quantenmechanik und so auch der Natur
heißt Prinzip der Unbestimmtheit: Wir können nicht gleichzeitig die
Geschwindigkeit eines Elektrons messen und den Ort bestimmen, an dem es sich
befindet. Wenn wir den Ort bestimmen, wissen wir nicht, wann es an diesem Ort
sein wird, wenn wir die Zeit kennen, wissen wir nicht, wo es ist. Das Prinzip
der Unbestimmtheit ist bei der Deformation von Raum und Zeit in den großen
Dimensionen eine der grundlegenden Unbekannten der Physik.
Einsteins allgemeine Relativitätstheorie markiert das Ende der
klassischen Welt. Seitdem sind Raum und Zeit nicht mehr kontinuierlich und
absolut, die euklidische Geometrie gilt nur noch für eine der möglichen. Zwei
parallele Geraden sind nicht unendlich parallel.
Belastet von der mehr als tausendjährigen Tradition, dass etwas
existiert wie Anfang und Ende, außen und innen, setzen wir uns noch heute mit
den falschen Prämissen auseinander, dass die Dinge voneinander getrennt sind.
Dass es zwischen mir, zwischen meinem und deinem Körper, einen leeren Raum
gibt. Wie soll ich mir also erklären, dass ich deine Gegenwart, deine Nähe
spüre, auch wenn ich dich nicht rieche, sehe, höre, schmecke oder berühre?
Diese Tatsache können wir heute damit erklären, dass es zwischen den
Körpern, wie wir sie sehen, und der Mensch sieht nur einen Teil des Spektrums
der elektromagnetischen Wellen, keinen leeren Raum bis zu sehr kleinen Dimensionen
gibt. Auch der Raum zwischen den Sternen ist nicht leer, in ihm sind die
Elementarteilchen gleichmäßig verteilt. Die Natur ist nicht kontinuierlich,
sondern körnig. Materie ist überall: 73 % sind dunkle Energie, die das
Universum auseinander drücken, 23 % sind dunkle Materie, und nur aus 4 %
Materie bestehen Sterne, Planeten und Menschen.
Der Mensch begreift den Raum als etwas, das innen und außen ist. Ich
bin im Haus, draußen ist der Baum. Zwischen mir und dem Baum ist eine Wand,
sind Moleküle der Luft und eine Unmenge sonstiger Elementarteilchen, die wir
nicht einmal kennen. Diese Teilchen werden von einer schwachen und einer
starken Kernkraft, der elektromagnetischen Kraft und der Gravitation,
zusammengehalten. Die Materie im Ziegel, im Baum, in der Luft und in mir
unterscheidet sich nicht viel voneinander. Sie zählt zu jenen 4 % der Materie
im Weltraum, die wir kennen. Nur die Atome sind zu verschiedenen Molekülen, in
uns und im Baum zu komplexeren Molekülen, die auch organische Moleküle heißen, und
im Ziegel und in der Luft zu Molekülen mit etwas weniger Atomen
zusammengesetzt. Diese Moleküle sind in allen Fällen aus denselben Sauerstoff-,
Kohlenstoff-, Wasserstoffatomen nach dem Periodensystem der Elemente bis zum
Eisen aufgebaut. Andere gibt es weniger.
Die Kommunikation zwischen den Dingen in der Natur ist das fundamentale
Merkmal der Welt, wie wir sie kennen. Die Dinge kommunizieren miteinander auf
verschiedene Art und Weise. Der Informationsaustausch zwischen allem, was in
der Natur existiert, ist ihr wesentliches Merkmal. Die Information darüber, wie
sich der Kosmos entwickeln soll, hat sich bis heute – 1012 Jahre
später erhalten, obwohl seit dem Urknall nur eine Urstrahlung übrig geblieben
ist. Die Information bleibt erhalten. Das Universum hat die anfängliche
Information über den Aufbau der Materie bewahrt: Die gleichen Gesetze der
Physik gelten angeblich sowohl hier als auch am anderen Ende des Universums.
Auch in einem schwarzen Loch verschwindet die Information nicht. Wie
Stephen Hawking vermutet, ist ein schwarzes Loch nicht vollkommen schwarz, es
saugt nicht nur alles auf, was sich ihm verhängnisvoll nähert – Kollaps von
Raum und Zeit –, die Materie strahlt auch. In einem sehr langen Zeitraum kann
ein schwarzes Loch sogar verschwinden, die gesamte Materie/Energie ausstrahlen.
Die Erbinformation wird mit dem DNS-Molekül weitergegeben. Aus einer
Zelle entsteht genau so und so eine Zelle, die diese und jene Aufgabe erfüllt.
Die Evolution der Lebewesen ist den physikalischen Bedingungen auf einem
Planeten untergeordnet: Temperatur, Druck, Gehalt an bestimmten Gasen in der
Atmosphäre und anderes sind das, was die Entwicklung der Lebewesen und der
anderen Formen bestimmt. Die Menge der in der DNS gespeicherten Information
vergrößert sich alle 100 Jahre um ungefähr ein Bit.
In der Arbeit „2 Blätter“ fragt sich Temmel, wie es möglich ist, dass
es in der Natur so viel verschiedene Formen gibt. Wie ist es möglich, dass auf
Kohlenstoff basierendes Leben entsteht und sich auf Grundlage der Speicherung
im DNS-Molekül abspielt? Die genetische Information, eine polymere Verbindung
aus Nucleotiden, bestimmt alles, was lebendig ist. Warum ist die Form der
Blätter gerade so, wie sie ist?
Die Zeit kennzeichnet Veränderungen. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik
besagt, dass die Dinge zur Ordnung neigen. Das Universum ist in großen
Dimensionen homogen und strukturiert: 1080 Teilchen sind gleichmäßig
verteilt. Es existieren nur kleinere Unregelmäßigkeiten: Sterne, Planeten,
Menschen etc. In diesem Sinn ist alles, was ist, Chaos, jedes Lebewesen, jeder
Planet, jeder Stern, alles, außer dem Raum zwischen den Sternen, in dem die
Teilchen gleichmäßig verteilt sind. All unsere Arbeit trägt nur zu einer noch
größeren Unordnung der Teilchen im Raum bei, alles vom Menschen Geschaffene ist
in diesem Sinn ökologisch bedenklich, da es die Elementarteilchen neu verteilt,
sich dem zweiten Satz der Thermodynamik widersetzt, nach dem alle Dinge zu
einer gleichmäßigen Verteilung, zur Ordnung neigen.
Ironie der optischen Täuschung
Die interessanteste Komponente von Temmels Schaffen ist die Entdeckung
banaler Dinge. Die täglichen Dinge wie Landkarten, Blätter oder Klang und
Treppe sind für die meisten von uns unwichtige Bestandteile des Alltags. Erst
wenn sie von jemandem erwähnt werden, sind wir uns bewusst, dass es sie
überhaupt gibt. Wir beschäftigen uns lieber mit viel größeren, wichtigeren
Dingen, und diese kosten uns viel mehr Zeit. Jedoch sind diese kleineren,
alltäglichen Dinge deshalb nicht weniger wichtig. Durch sie erkennen wir alle
existentiellen Probleme, die mit dem menschlichen Dasein verbunden sind: vom
Problem der (nichtigen) Invaliden bis zu den allgemeinen philosophischen: Warum
ist etwas so, wie es ist, und nicht lieber anders. Einfache Dinge erwecken in uns
Interesse für komplexere: Warum sind die Dinge so, wie sie sind, warum gibt es
sie überhaupt und warum gibt es sie lieber nicht? Warum existiert überhaupt
alles und nicht lieber nichts?
Wir Menschen besetzen angeblich eine sehr frühe Phase der Evolution,
und wenn wir nicht überhaupt die ersten intelligenten Wesen im Universum sind,
sind wir bestimmt unter den ersten. Jedoch sind die Entfernungen zu groß, die
Geschwindigkeiten zu gering und die Lebenszeit des Menschen, selbst der
menschlichen Spezies, zu kurz, um irgendetwas irgendwie verändern zu können.
Außerdem ist die Biosphäre auf der Erde viel zu verwundbar, um intelligenten,
aber verschwenderischen Wesen ein längeres Dasein zu ermöglichen, und die
Spezies Mensch zu selbstgefällig, um sich mit den wirklichen Problemen, etwa
dem Schutz des Lebens auf der Erde vor den Einflüssen aus dem Weltall wie
herabstürzenden Meteoriten oder der für organische Moleküle tödlichen Strahlung
auseinander zu setzen.
Die Rekombination der Atome durch den Menschen hat die Entstehung
neuer, unbeständiger Formen zur Folge.
Temmels „Geburtstagstorte“ ist aus Stahl gefertigt, der, den
Witterungsverhältnissen ausgesetzt, langsam dahinrostet, zerfällt, also in
gewisser Weise lebt. Da die Arbeit Geburtstagstorte heißt, ist sie natürlich
notwendigerweise mit dem menschlichen Leben verbunden, mit dem Körper, der aus
Zellen besteht, die sich unaufhörlich erneuern und absterben, bis sie einmal,
wenn ihre Zeit kommt, aufhören sich zu erneuern und nur noch in ihre
Bestandteile zerfallen: in Moleküle, Atome. Die Reise des Sauerstoffatoms setzt
sich fort, von seiner Entstehung bei der Explosion einer Supernova bis zu dem
Zeitpunkt, als es sich in einer Wolke der Materie verfing, aus der die Erde
entstand, deren Gravitation es in der Atmosphäre zurückhielt. Dinosaurier und
Vögel atmeten es, bis es sich in mir fand. Bis jetzt hat es sich noch nicht
verändert, es ist immer dasselbe und wird weiter dasselbe bleiben, solang es
nicht durch eine Katastrophe größeren Ausmaßes verhängnisvoll verändert wird.
Die Kunst des 20. Jahrhunderts ist vielleicht ein einziger
Überzeugungsversuch der Betrachter, dass das, was wir sehen, und das, was
wirklich ist, nicht ein und dasselbe ist. Erinnern wir uns an die abstrakte
Kunst, wo ein Bild oder eine Skulptur nicht einen realen Zustand der Dinge oder
sogar einen noch wirklichkeitsgetreueren als ein „realistisches“ Bild
darstellt, das auf der geometrischen Perspektive der Renaissance aufbaut, die eine gekünstelte Annäherung an
die sichtbare Realität, eine Täuschung ist. Die abstrakte Kunst stellt mehrere
Dinge gleichzeitig dar, möglicherweise psychische Zustände oder absichtlich nur
auf die Farbe oder die Form reduzierte bildnerische Elemente. In diesem Sinn
ist die abstrakte Kunst die letzte Phase der klassischen, von der Perspektive
der Renaissance geprägten Kunst, so wie Einsteins Relativitätstheorie die
letzte Phase der klassischen Physik ist, die durch einen absoluten Raum- und
Zeitbegriff gekennzeichnet ist.
Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.
Rene Magritte: „C‘est ne pas une pipe“. Auf dem Bild ist in sehr
überzeugender Weise eine Pfeife dargestellt, so überzeugend, dass sie leicht
mit einer wirklichen Pfeife verwechselt werden könnte, jedoch fügte Magritte
unter der Pfeife den Satz hinzu: Das ist keine Pfeife. Das ist natürlich nur
das Bild einer Pfeife. Innerhalb eines einzelnen Sprachsystems (Englisch,
Deutsch, Formensprache, Mathematik) sind einige Dinge klar und
selbstverständlich, da sie eingefahren sind und sich schon viele Generationen
hindurch wiederholen. Wenn wir etwas, das in einer Sprache klar ist, in eine
andere umsetzen, sticht es dort notwendigerweise hervor, als ob im Text ein
Wort falsch geschrieben wäre. Marcel Duchamp reichte zu einer Kunstausstellung
am Beginn des 20. Jahrhunderts ein Pissoirbecken, eine Schaufel oder einen
Flaschentrockner ein. Er wählte alltägliche Dinge und stellte sie in eine
andere Umwelt, in einen anderen Kontext, in eine andere Sprache. Die in ein
Kunstsystem umgesetzten Gegenstände erregten Interesse und Ablehnung. Duchamps
Absicht war nicht nur zu schockieren, sondern dem Betrachter mitzuteilen, dass
es verschiedene Systeme gibt und dass wir lernen müssen, sie zu sehen, um dann
unsere Rolle in der Welt, unsere Einbindung in die Gesellschaft erkennen zu
können. Erst dann, wenn wir uns dieser Einbindung, der Abhängigkeit eines nicht
unbedingt nur sprachlichen Systems bewusst sind, können wir ein anderes System
offener und kritischer betrachten.
Duchamp führte eine vollkommen neue Weltsicht ein, ähnlich wie dies die
Quantenmechanik bewirkte. Die Tatsache, dass diese Veränderungen in der Kunst
und Wissenschaft fast gleichzeitig stattfanden, beweist vielleicht die
Erkenntnis der Wechselbeziehung der Gesellschaft, der im Vorhergehenden
erwähnten Korrelation verschiedener Systeme. Auch Temmel denkt über Systeme
nach, sei es ein Kunstsystem – Zeichnungen, ein Denksystem – optische
Täuschungen, die Botanik oder ein System von Computerprogrammen.
Adobe Photoshop ist ein Programm zur Herstellung von Bildern.
Ein derart hergestelltes Bild ist dann etwas zu klar und zu rein. Noch
bis vor kurzem konnte die Darstellung der Realität (beispielsweise ein
Landschaftsbild) mit der Realität (der Landschaft) verwechselt werden, da jene
der wirklichen Landschaft, die wir sehen, so unwahrscheinlich ähnlich war.
Heute kann die Darstellung sogar eine zu große Ähnlichkeit mit der Realität
haben. Simulaker hat die Realität bereits ersetzt. Doch ist nicht die Realität
selbst bereits Darstellung? Auch die Landschaft, die wir sehen, ist nur ein
Bild der wirklichen Landschaft, ein Bild, das in unserem Gehirn entsteht. Und
in der Tat kennen wir keine Methode, wie wir uns Gewissheit verschaffen könnten
darüber, dass das Landschaftsbild in unserem Gehirn und die Landschaft vor uns
wirklich äquivalent sind. Hat nicht in diesem Fall auch die Darstellung der
Realität bereits die Realität ersetzt? Was sich jetzt auf einem anderen Niveau
abspielt, ist im Grunde schon einmal passiert. Ein wenig Zweifel kam in uns
auf, seit Schrödinger, Heisenberg und Bohr festgestellt haben, dass die
Realität – Quantenrealität – völlig unabhängig von uns existiert, sogar die
Natur, wie wir sie sehen, ist bereits verändert, dargestellt, es gibt keinen
unabhängigen Beobachter.
Die Computergrafik besteht aus regelmäßig verteilten Punkten in einem
bestimmten Muster, das sich bis zu einem Mikrometer genau wiederholt. Sie ist
aus einer zweidimensionalen Matrix von Bildpunkten, Pixel, zusammengesetzt, die
jedem Farbpunkt eine zahlenmäßig bestimmte Mischung der drei Grundfarben Rot,
Grün und Blau zuordnen. Auf diesen Grafiken gibt es keine Unregelmäßigkeit im
Muster, das sich wie eine Mandelbrot-Masse, wie ein Fraktal wiederholt. Das
Programm enthält keinen Befehl, der zufällige, für die menschliche Schrift so charakteristische
Unregelmäßigkeiten bewirken würde. Es gibt keine Flecken von Tränen, die
einzelne Bildabschnitte verwischen würden. Die Computerbilder werden genauso
wie der Ton mechanisch, sequenziell generiert und sind so regelmäßig, dass sie
vulgär, pervers erscheinen.
Trotz dieser Mängel sind die Computerbilder überraschenderweise
unterschiedlich und unterscheiden sich voneinander wie die einzelnen originalen
Kunstwerke. Darin liegt das große Potenzial des Computerprogramms, das so
umfassend ist, dass außer grundlegenden technischen Merkmalen keine
Ähnlichkeiten zwischen den einzelnen Computerbildern bestehen.
Historisch gesehen hat die Computergrafik ihren Ursprung nicht im
Fernsehen, sondern im Radar. Die Technologie, die heute auch für künstlerische Zwecke
anwendet wird, ist im Prinzip eine militärische. Die Radarbildschirme müssen
die Punkte, die auf ihnen als Indizes feindlicher Flugzeuge aufscheinen, in
jeder Dimension bestimmen, damit sie in jedem Augenblick durch Knopfdruck
abgeschossen werden können. Diese exakte Bestimmung der Punkte übernahm das
Computerbild, obwohl dieses nicht mit polaren, sondern cartesianischen
Koordinaten arbeitet.
Sprache
In der Arbeit „Eine Kunstgeschichte“ setzte sich Temmel mit dem System
der Sprache auseinander. Es sind 52 Kunstgeschichten in 52 Sprachen
aufgezeichnet, die immer ein anderer Künstler in seiner Muttersprache erzählt.
Der Text ist eine Art künstlerisches Manifest und handelt davon, wie und wann
ein Kunstwerk entsteht.
Mit dieser Arbeit machte Temmel auf mehrere Dinge aufmerksam. Er
markierte die Kunst in unserer Zeit für die Zukunft, spielte mit dem System der
Kunstgeschichte und kreierte diese selbst. Andererseits wollte Temmel auf die
Erscheinung der Sprache hinweisen. Wie viele verschiedene Sprachen sprechen
wir, warum sind es so viele? Wie kommt es, dass wir unsere Muttersprache lernen
müssen, obwohl sie doch die Muttersprache ist?
Territorium: Landkarte
Eroberung von Gebieten, physischer Raum, Real estate, Ausbeutung der
Naturreichtümer, Kolonialismus, Imperialismus.
Afrika.
Dann zeichneten die Menschen Landkarten …
Sie stellten das Gebiet dar, verkleinerten es auf die Größe eines
Bildes. Wahrscheinlich brachen zugleich mit den Landkarten auch Kriege zwischen
den einzelnen Gruppen aus, die vermutlich verschiedene Sprachen sprachen.
Nehmen wir zum Vergleich die Geschichte von Borges, in der die
königlichen Kartographen eine so genaue Landkarte zeichnen, dass sich diese
exakt mit dem Territorium deckt. Die Kartographen fertigen also eine genaue
Kopie des Territoriums an, so genau, dass diese das reale Territorium ersetzt.
Sie schaffen eine virtuelle Realität. Doch ist nicht alles, was existiert,
bereits virtuelle Realität, scheinbare Wirklichkeit?
Ein künstlerisches Bild ist immer gleichzeitig auch eine Landkarte.
Natürlich nicht im technischen Sinn, sondern aufgrund der Analogie zwischen
Darstellung der Realität und Kartographie.
Ein dritter Aspekt von Temmels Landkarten ist die Rolle der Landkarten
in der Gesellschaft. Die Landkarte stellt ein Territorium dar, das jemandem
gehört beziehungsweise sich jemand aneignet. Man eignet sich Territorien und
die Menschen an, die dort leben. Territoriale Ambitionen sind auch die
häufigste Ursache für Kriege. Temmels Landkarten sprechen auch vom Leiden der
Menschen.
Europa liegt immer oben, in der Mitte der Landkarte, während Afrika
immer unten liegt. Die Ursache ist sicher auch darin zu sehen, dass die
Landkarten, wie wir sie kennen, von Europäern gezeichnet wurden. Eroberung und
Ausbeutung finden noch heute statt und nicht nur mit Gewalt. Eine wichtige
Rolle spielt dabei vor allem die Ideologie. Sanfte Unterjochung. Außer den
Landkarten sind hier noch andere Medien zu nennen, etwa die Bücher, die die
Ungleichheit zwischen den Menschen entschuldigen. Dann die europäischen Museen,
die einen unschätzbaren künstlerischen Reichtum aufbewahren, der (mit wenigen
Ausnahmen in Ägypten, Mesopotamien und China) ausschließlich in Europa
entstanden ist, und das UNESCO-Kulturerbe, das sich zu 70 % in Europa befindet.
Die Realität vor uns ist immer nur ein Modell der Realität, denn wir
erkennen die Realität immer mithilfe von Messungen, sei es Fotografie oder
Messung von Temperatur, Druck, Feuchte, Farben. So wie auch die Geschichte nur
eine Simulation ist, die Landkarte eines Territoriums, das verschwunden ist,
Simulaker.
Der Mensch erhält durch Rekombination von Molekülen neue Materialien,
neue Formen. Der Mensch ist Teil der Natur, er besteht ja aus der gleichen
Materie wie das übrige bekannte Universum. Doch die Materie ist in der Natur
chaotisch verteilt und neigt dazu, sich gleichmäßig zu verteilen. All die
Steine, die Felsen und das Wasser, das fast den gesamten Planeten bedeckt. Dem
fügt der Mensch noch seine Schöpfungen hinzu: Autos, Häuser, Telefone,
Halbfabrikate und Kunstwerke. Die Entropie vergrößert sich, das Universum dehnt
sich aus, die Materie benötigt Energie, damit sie zusammenhält. Der Mensch ist
ein sehr verschwenderisches Wesen und benötigt zur Erhaltung der für das Leben
geeigneten Umwelt ungeheuer viel Energie. Er versucht das Schicksal der Materie
aufzuhalten, die Materie auf ihrem Weg zur Ordnung zu stoppen. Die Welt wird
nicht mit einem Knall zu Ende gehen, sondern mit einem Quietschen.